BGer C 272/2000
 
BGer C 272/2000 vom 10.01.2001
[AZA 7]
C 272/00 Vr
III. Kammer
Bundesrichter Schön, Spira und Bundesrichterin Widmer;
Gerichtsschreiber Fessler
Urteil vom 10. Januar 2001
in Sachen
Staatssekretariat für Wirtschaft, Abteilung Arbeitsmarkt und Arbeitslosenversicherung, Bundesgasse 8, Bern, Beschwerdeführer,
gegen
M.________, 1978, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Werner Ritter, Auerstrasse 2, Heerbrugg,
und
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen
A.- Dem 1978 geborenen M.________ wurde am 17. Juni 1998 vor Ablauf des Lehrvertrages am 7. August des Jahres fristlos gekündigt. In diesem Zeitpunkt stand fest, dass er die Lehrabschlussprüfung nicht bestanden hatte. Nach der Rekrutenschule (RS) meldete sich M.________ bei der Arbeitslosenversicherung zum Taggeldbezug ab 26. Oktober 1998 an. Nach Abklärungen zur vorzeitigen Auflösung des Lehrverhältnisses und zu den Aktivitäten bis zum Beginn der RS am 13. Juli 1998 verfügte die Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen am 22. Dezember 1998 die Einstellung in der Anspruchsberechtigung für die Dauer von 31 Tagen ab 8. August 1998. Die Sanktion begründete sie damit, dem Versicherten sei nach dem Nichtbestehen der Abschlussprüfung aufgrund seines Verhaltens während der gesamten Lehrzeit kein Anschlussvertrag zur Weiterbeschäftigung im Lehrbetrieb angeboten worden, obschon genügend Arbeit vorhanden gewesen wäre. Als Einstellungsgrund nannte die Kasse ungenügende persönliche Arbeitsbemühungen.
B.- M.________ liess hiegegen Beschwerde erheben und beantragen, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und die Arbeitslosenentschädigung ohne Einstellung auszurichten, eventualiter deren Dauer auf maximal fünf Tage herabzusetzen.
Die Arbeitslosenkasse schloss in der Vernehmlassung auf Abweisung des Rechtsmittels. Im Rahmen des zweiten Schriftenwechsels hielten die Parteien an ihren Begehren fest, die Verwaltung mit dem ausdrücklichen Hinweis, die Einstellungsverfügung sei nicht wegen der vorzeitigen Auflösung des Lehrvertrages erfolgt.
Mit Entscheid vom 14. Juli 2000 hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Beschwerde gut und hob die angefochtene Verfügung (ohne materielle Prüfung) wegen Ablaufs der gesetzlichen Einstellungsfrist am 16. Dezember 1998 auf.
C.- Das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, es sei der kantonale Entscheid aufzuheben und die Sache zur Entscheidung über die Einstellungsdauer an das kantonale Versicherungsgericht zurückzuweisen.
Während M.________ im Hauptstandpunkt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen lässt, schliesst die Arbeitslosenkasse auf deren Gutheissung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- Nach Art. 30 Abs. 1 AVIG ist der Versicherte in der Anspruchsberechtigung einzustellen, wenn er u.a. durch eigenes Verschulden arbeitslos ist (lit. a) oder sich persönlich nicht genügend um zumutbare Arbeit bemüht (lit. c).
Die Arbeitslosigkeit gilt insbesondere dann als selbstverschuldet, wenn der Versicherte durch sein Verhalten, insbesondere wegen Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten, dem Arbeitgeber Anlass zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegeben hat (Art. 44 Abs. 1 lit. a AVIV).
Die Dauer der Einstellung in der Anspruchsberechtigung bemisst sich nach dem Grad des Verschuldens; sie fällt binnen sechs Monaten nach Beginn der Einstellungsfrist dahin (Art. 30 Abs. 3 dritter und vierter Satz AVIG). Die Einstellung gilt ab dem ersten Tag nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, wenn der Versicherte aus eigenem Verschulden arbeitslos geworden ist oder wenn er sich vor der Arbeitslosigkeit nicht genügend um zumutbare Arbeit bemüht hat (Art. 45 Abs. 1 lit. a AVIV).
2.- Das kantonale Gericht hat erwogen, es stehe vorliegend der Einstellungsgrund der selbstverschuldeten Arbeitslosigkeit zur Diskussion und nicht, wie die Arbeitslosenkasse annehme, derjenige ungenügender persönlicher Arbeitsbemühungen. Die sechsmonatige Frist, mit deren Ablauf die Einstellung dahinfalle, beginne somit nicht am 8. August 1998, dem Tag nach dem Ende des Lehrvertrages, sondern (bereits) mit der fristlosen Entlassung am 17. Juni 1998. Bei Erlass der Verfügung am 22. Dezember 1998 seien somit mehr als sechs Monate vergangen, sodass eine Einstellung wegen selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit nicht mehr habe angeordnet werden können. Der angefochtene Verwaltungsakt sei daher ersatzlos aufzuheben.
3.- a) Es erscheint fraglich, ob die Frist des Art. 30 Abs. 3 dritter Satz AVIG, bei welcher es sich um eine Vollstreckungsverwirkungsfrist handelt (BGE 114 V 352 Erw. 2b, 113 V 73 Erw. 4b; Nussbaumer, Arbeitslosenversicherung, in:
Schweizerisches Sozialversicherungsrecht [SBVR]/Soziale Sicherheit, S. 263 Rz 717), am 17. Juni 1998 zu laufen begann, wie die Vorinstanz annimmt, und zwar unabhängig davon, welcher Einstellungsgrund (selbstverschuldete Arbeitslosigkeit oder ungenügende persönliche Arbeitsbemühungen) in Betracht gezogen wird. Wie es sich damit verhält, braucht hier indessen nicht abschliessend geprüft zu werden, da aus den nachstehenden Gründen selbst bei einem Fristbeginn am 17. Juni 1998 der angefochtene Entscheid sich nicht halten lässt.
b) aa) Wie das Beschwerde führende seco richtig festhält, kann nach der Rechtsprechung auch nach Ablauf der sechsmonatigen Frist des Art. 30 Abs. 3 AVIG für Tage, an denen die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt waren und für die noch keine Leistungen ausgerichtet worden sind, eine Einstellung verfügt werden (BGE 114 V 350, 113 V 71; Nussbaumer a.a.O. S. 263 Rz 717). Im vorliegenden Fall steht fest, dass dem Beschwerdegegner, welcher sich am 26. Oktober 1998 auf dem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum Heerbrugg zur Arbeitsvermittlung und zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung gemeldet hatte, bis zum Erlass der Verfügung am 22. Dezember 1998 noch keine Leistungen ausgerichtet worden waren. Die angeordnete Einstellung in der Anspruchsberechtigung, soweit sie sich auf an sich entschädigungsberechtigte, aber noch nicht entschädigte Tage innerhalb der (frühestens) am 16. Dezember 1998 abgelaufenen Vollstreckungsverwirkungsfrist bezieht, erging somit zu Recht.
bb) Daran vermögen die Vorbringen in der Vernehmlassung nichts zu ändern. Bei der Frist des Art. 30 Abs. 3 vierter Satz AVIG geht es darum, dass mit deren Ablauf bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestandene Einstellungstage verfallen und demzufolge nicht mehr zu bestehen sind. Damit gleichbedeutend ist, dass der Vollzug der Sanktion nur innerhalb dieser sechsmonatigen Frist möglich ist (BGE 114 V 354 oben). Die Vollstreckung der Einstellungsverfügung bedingt mithin, dass innerhalb dieser Frist Tage liegen, für welche die Anspruchsvoraussetzungen zwar erfüllt sind (vgl. Art. 30 Abs. 3 erster Satz AVIG und BGE 114 V 353 Erw. 2c), für die indessen noch keine Arbeitslosenentschädigung ausgerichtet worden ist. Solche Tage gelten einstellungsrechtlich als bestanden. Aus dieser inhaltlichen Umschreibung ergibt sich ohne weiteres, dass der Zeitpunkt der Einstellungsverfügung grundsätzlich keine Rolle spielt.
Insbesondere verhält es sich nicht so, dass eine Sanktion nur dann vollzogen werden kann, wenn sie innerhalb der sechsmonatigen Frist angeordnet worden ist. Umgekehrt wird der Lauf der Vollstreckungsverwirkungsfrist nicht durch den (rechtzeitigen) Erlass einer Einstellungsverfügung (ein für allemal) gehemmt (nicht veröffentlichtes Urteil S. vom 28. August 1997 [C 351/95]).
Es trifft zwar zu, dass in BGE 114 V 352 f. Erw. 2b ausgeführt wird, bei einer nachträglichen Einstellung seien zwei Tatbestände auseinanderzuhalten, nämlich ob bereits Leistungen ausgerichtet oder solche von vornherein verweigert worden sind, weil die Kasse von Anfang an die Anspruchsberechtigung als solche (z.B. wegen fehlender Vermittlungsfähigkeit) verneint und in diesem Sinne verfügt hat. Daraus kann indessen entgegen dem Beschwerdegegner nicht gefolgert werden, die nachträgliche Sanktionierung eines einstellungswürdigen Verhaltens sei unzulässig, wenn die Nichtausrichtung von Arbeitslosenentschädigung nicht auf einer innert der sechsmonatigen Einstellungsfrist des Art. 30 Abs. 3 AVIG erlassenen Verfügung beruhe. Vorab ist kein sachlicher Grund ersichtlich danach zu unterscheiden, ob die Nichtausrichtung von Leistungen auf einer (formellen) Verfügung beruht oder darauf zurückzuführen ist, dass der anspruchs- und/oder einstellungsrechtlich relevante Sachverhalt noch nicht abgeklärt ist und demzufolge keine entsprechende Verfügung ergehen kann. Im Gegenteil führte eine solche Differenzierung zu einer Ungleichbehandlung der Versicherten je nachdem, ob und aus welchen Gründen die leistungsverweigernde Verfügung vor oder nach Ablauf der sechsmonatigen Vollstreckungsverwirkungsfrist des Art. 30 Abs. 3 AVIG ergeht oder ergehen kann. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass sich der Beginn des Fristenlaufs nach Art. 45 Abs. 1 AVIV richtet, somit nicht notwendigerweise mit dem Zeitpunkt zusammenfällt, in welchem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt und Einstellungstage (überhaupt erst) bestanden werden können (vgl. BGE 114 V 354 oben). Erfolgt beispielsweise die Anmeldung erst im Verlaufe des fünften Monats der Frist, wie im vorliegenden Fall unter der Annahme, dass sie am 17. Juni 1998 zu laufen begann, oder sogar noch später, wird es für die Verwaltung in der Regel nicht möglich sein, vor dem Ende der Frist über die Anspruchsberechtigung als solche oder eine Einstellung zu verfügen. Vollzugshandlungen während des Abklärungsverfahrens in dem in der Vernehmlassung vorgeschlagenen Sinn, dass die Kasse mitzuteilen (gehabt) hätte, die Ausrichtung von Leistungen werde verweigert, weil die Frage der Einstellung in der Anspruchsberechtigung noch nicht geklärt sei, bedarf es nicht, und zwar schon deshalb nicht, weil einer solchen Anordnung offensichtlich der Verfügungscharakter abginge und sich im Übrigen an der Nichtausrichtung von Leistungen nichts änderte. In diesem Zusammenhang wird zu Recht nicht geltend gemacht, bei gegebenen Anspruchsvoraussetzungen und abklärungsbedürftigem Einstellungsgrund sei die Kasse verpflichtet, Arbeitslosenentschädigung auszurichten. Einer solchen Betrachtungsweise steht schon die aus der Konzeption der Vollstreckungsverwirkung sich ergebende Folge entgegen, dass die Rückforderung bereits ausgerichteter Leistungen nach Ablauf der Frist auch dann nicht mehr in Frage kommt, wenn Einstellungs- und auch Rückerstattungsverfügung noch rechtzeitig innerhalb der Frist ergangen, aber erst nach deren Ablauf rechtskräftig geworden sind (erwähntes Urteil S. vom 28. August 1997; vgl. auch BGE 124 V 88 Erw. 5b und c). Umgekehrt ist festzustellen, dass es nicht anginge, wenn die Arbeitslosenkasse einstweilen im Hinblick auf mögliche Einstellungstatbestände Leistungen unbesehen nicht ausrichtete. Ein solches Vorgehen lässt sich nur rechtfertigen, wenn und soweit konkrete Anhaltspunkte für ein einstellungswürdiges Verhalten bestehen (Urteil S. vom 28. August 1997). Nach dem soeben Gesagten kann schliesslich bei einem Erlass der Einstellungsverfügung nach Ablauf der sechsmonatigen Frist des Art. 30 Abs. 3 vierter Satz AVIG nicht, wie der Beschwerdegegner anzunehmen scheint, von einem Vollzug der Sanktion ohne rechtsgültigen Vollstreckungstitel gesprochen werden.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I.In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird
der Entscheid vom 14. Juli 2000 aufgehoben und die Sache
an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
zurückgewiesen, damit es die Einstellungsverfügung vom 22. Dezember 1998 materiell prüfe.
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, der Kantonalen Arbeitslosenkasse St. Gallen und dem Amt für Arbeit,
St. Gallen, zugestellt.
Luzern, 10. Januar 2001
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der III. Kammer:
Der Gerichtsschreiber: