VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BVerwGE 1, 303 - "Sünderin"-Fall  Materielle Begründung
Abruf und Rang:
RTF-Version (SeitenLinien), Druckversion (Seiten)
Rang:  0% (656)

Zitiert durch:

Zitiert selbst:
BVerwGE 1, 48 - Bedürfnisprüfung bei Schankerlaubnis

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: Fabian Beer, A. Tschentscher  
BVerwGE 1, 303 (303)1. Durch die Einrichtung der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) sind die polizeilichen Befugnisse nicht berührt worden.  
2. Ein Spielfilm, der eine frei erdachte Handlung wiedergibt, zu den in ihm dargestellten Vorgängen aber selbst nicht Stellung nimmt, ist im allgemeinen ein Erzeugnis der Kunst.  
3. Die in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleistete Freiheit der Kunst unterliegt nicht den Schranken der polizeilichen Generalklausel. Sie finden jedoch dort ihre Grenze, wo ihre Inanspruchnahme ein anderes Grundrecht verletzen oder Rechtsgüter, die für den Bestand der staatlichen Gemeinschaft notwendig sind, gefährden würde.  
GG Art. 5  
 
Urteil
 
des I. Senats vom 21. Dezember 1954  
-- BVerwG I C 14/53 --  
Durch eine an die Inhaberin eines Lichtspielhauses in L., Frau H., gerichtete Verfügung vom 24. März 1951 verbot das Ordnungsamt der Stadt L. unter Bezugnahme auf §§ 14, 41 des preußischen PolizeiverBVerwGE 1, 303 (303)BVerwGE 1, 303 (304)waltungsgesetzes vom 1. Juni 1931 (GS S. 77) -- PolVerwG -- in Verbindung mit Art. 2 und 5 des Grundgesetzes - GG - die in diesem Lichtspielhaus vorgesehene Aufführung des Tonfilms "Die Sünderin". Das Ordnungsamt begründete das Verbot damit, daß die Gefühle der überwiegend christlich denkenden Einwohnerschaft der Stadt L. und des Emslandes schlechthin durch die Aufführung dieses Tonfilms verletzt würden und somit eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung entstehen würde. Der Inhalt des Tonfilms verstoße nach Ansicht des Rates der Stadt gegen den Anstand, insbesondere auch in geschlechtlicher Hinsicht, gegen das religiöse Empfinden und die sittlichen Anschauungen des emsländischen Volkes. Das Verbot müsse auch deshalb ausgesprochen werden, weil die polizeiliche Gewaltanwendung gegen etwaige Demonstrationen unter diesen obwaltenden Umständen sich nicht als angemessenes und geeignetes Mittel darstellen würde.
1
Auf Grund der in der Verfügung enthaltenen Rechtsmittelbelehrung erhoben Frau H. und die Klägerin -- die Verleiherin des Films -- bei dem beklagten Kreistag des Kreises L. Beschwerde. Der Beklagte stellte die Entscheidung zurück, um das Urteil des Bezirksverwaltungsgerichts Koblenz in einem gleichen Falle abzuwarten.
2
Die von der Klägerin erhobene Klage hat das Landesverwaltungsgericht abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Landesverwaltungsgerichts sowie die Verfügung des Ordnungsamtes der Stadt L. aufgehoben.
3
Die Revision des Beklagten hatte keinen Erfolg.
4
 
Aus den Gründen:
 
Die Revision rügt Verletzung des § 14 PolVerwG.
5
Zweifellos ist das preußische Polizeiverwaltungsgesetz nicht nach Art. 125 GG Bundesrecht geworden. Selbst wenn die in § 14 PolVerwG enthaltene sogenannte polizeiliche Generalklausel kraft ausdrücklicher Bestimmung oder gewohnheitsrechtlicher Übung innerhalb einer oder mehrerer Besatzungszonen oder gar im ganzen Bundesgebiet einheitlich gelten sollte, könnte sie nicht Bundesrecht sein, weil das Polizeirecht nicht zu den Gegenständen der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes gehört. Jedoch folgt die Befugnis des Revisionsgerichts zur Nachprüfung des Berufungsurteils daraus, daß zu erörtern ist, ob das Berufungsgericht Vorschriften des Grundgesetzes, besonders den Art. 5 GG, richtig angewendet hat.
6
Dabei kann es keine Rolle spielen, daß der Film von der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) freigegeben war. Zwar kann der Staat auch hoheitliche Funktionen einem privatrechtlichen Verband übertragen. Aber eine solche Übertragung kann nur durch Gesetz oder auf Grund einer gesetzlichen Ermächtigung erfolgen, nicht durch Vertrag.BVerwGE 1, 303 (304)
7
BVerwGE 1, 303 (305)Die Zulassung eines Films durch die FSK kann deshalb keine für die Verwaltung bindende hoheitliche Entscheidung bedeuten, wie sie ehemals die Reichsfilmprüfstellen zu treffen hatten.
8
Art. 5 Abs. 1 GG gewährleistet das Recht der freien Meinungsäußerung in Wort, Schrift und Bild und der Freiheit der Berichterstattung durch den Film. Diese Rechte finden nach Art. 5 Abs. 2 GG ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze. Der Film "Die Sünderin" ist kein berichterstattender Film, sondern ein Spielfilm, der eine frei erdachte Handlung wiedergibt, zu den in ihm dargestellten Vorgängen aber selbst, wie das Berufungsgericht festgestellt hat, nicht Stellung nimmt. Damit ist er aber auch keine Meinungsäußerung. Er fällt deshalb nicht unter die Vorschriften des Art. 5 Abs. 1 GG. Vielmehr ist ein solcher Spielfilm - ungeachtet seines künstlerischen Wertes, der nicht zur Entscheidung des Gerichts steht - ein Erzeugnis der Kunst in gleicher Weise wie etwa ein Roman oder ein Theaterstück, die erdachte Handlungen zum Gegenstand haben, ohne zugleich erkennbar eine bestimmte Stellung zu irgendwelchen Problemen zu beziehen. Die rechtliche Beurteilung richtet sich demnach nach Art. 5 Abs. 3 GG.
9
Nach dieser Vorschrift sind Kunst, Wissenschaft, Lehre und Forschung frei. Diese Freiheit ist nach dem Wortlaut des Art. 5 Abs. 3 GG, abgesehen von der in Satz 2 vorgeschriebenen Bindung der Lehre an die Treue zur Verfassung, unbegrenzt. In entsprechender Weise hatte Art. 142 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung bestimmt: "Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei." Auch die Weimarer Verfassung hatte in Art. 142 dieser Freiheit keine Schranken gesetzt, während sie in Art. 118 Abs. 1 in gleicher Weise wie das Grundgesetz in Art. 5 Abs. 2 das Recht der freien Meinungsäußerung an die Schranken der allgemeinen Gesetze gebunden hatte. Gleichwohl wurde unter der Herrschaft der Weimarer Verfassung die Auffassung vertreten, daß auch die Freiheit der Kunst und Wissenschaft nicht nur in den allgemeinen Strafgesetzen, sondern auch in der polizeilichen Generalermächtigung ihre Schranken finde (so u.a. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., Anm. 3 zu Art. 142; Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 5. Aufl., Anm. 1 zu Art. 142). Dieser Auffassung kann in Übereinstimmung mit der für die Auslegung des Art. 142 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung u.a. von Kitzinger (in Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, 2. Bd. S. 463 f., 477 ff.) und für die Freiheit der Wissenschaft nach dem Grundgesetz von Köttgen (in Neumann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, S. 310 ff. [312]) vorgetragenen Ansicht nicht gefolgt werden. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die polizeiliche Generalermächtigung überhaupt als allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG anzusehen ist oder ob, wie der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 1. Februar 1954 (NJW 1954 S. 713) ausgeführt hat, auch das Grundrecht der freien Meinungsäußerung durch die Polizei nur bei einem MißBVerwGE 1, 303 (305)BVerwGE 1, 303 (306)brauch dieses Grundrechts eingeschränkt werden kann. Denn da Art. 5 Abs. 3 GG seinem Wortlaut nach die Freiheit der Kunst ohne Einschränkungen gewährleistet, bedarf jede Auslegung, die die nach dem Wortlaut unbegrenzt gewährleistete Freiheit beschränkt, der sicheren Rechtsgrundlage. "Zu vermuten ist die Freiheit, nachzuweisen die Unfreiheit" (Kitzinger a.a.O. S. 450). Nun ergibt aber die Geschichte des Kampfes um die Freiheitsrechte im vorigen Jahrhundert, daß dieser Kampf für die Freiheit der Kunst und Wissenschaft geführt worden ist gegen die Übergriffe durch eine Staatsgewalt, die ihre Aufgabe im Sinne jenes Polizeirechts auffaßte, das seinen klassischen Ausdruck in § 10 II 17 des Allgemeinen Landrechts gefunden hatte (vgl. Kitzinger a.a.O. S. 479). Wenn der Verfassungsgesetzgeber von 1919, der diese freiheitlichen Ideen wieder aufnahm und weitgehend in der Weimarer Verfassung verwirklichte, im Gegensatz zu ihnen Kunst und Wissenschaft der polizeistaatlichen Kontrolle hätte unterwerfen wollen, so hätte er dies klar zum Ausdruck gebracht. Einen darauf gerichteten Willen dem Verfassungsgesetzgeber von 1919 ohne weiteres zu unterstellen, würde dem Sinn der Weimarer Verfassung widersprechen. Erst recht kann ein solcher Wille dem Grundgesetzgeber nicht unterstellt werden; denn das Grundgesetz bezweckt in seinem grundrechtlichen Teil gerade auch den Schutz des einzelnen vor einer übermäßigen Ausdehnung der Staatsgewalt. Eine Beschränkung der durch das Grundgesetz gewährleisteten Freiheitsrechte kann deshalb nur insoweit für zulässig gehalten werden, als es der Grundgesetzgeber ausdrücklich bestimmt hat. Weitergehend als die Weimarer Verfassung bindet das Grundgesetz in Art. 1 Abs. 3 Gesetzgebung und Verwaltung an die institutionelle Garantie der Grundrechte. Nach Art. 19 Abs. 1 GG kann ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes nur eingeschränkt werden, soweit dieses im Grundgesetz selbst vorgesehen ist. Es würde dem Sinn der Art. 1 Abs. 3 und 19 Abs. 1 GG widersprechen, eine solche Einschränkung im Wege der Auslegung nachzuholen. Zwar behandelt das Grundgesetz in dem gleichen Art. 5 in Abs. 1 die Freiheit der Meinungsäußerung, die es in Abs. 2 den Schranken der allgemeinen Gesetze unterwirft, und in Abs. 3 die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, für die nach dem Wortlaut des Grundgesetzes solche Schranken nicht bestehen. Aber die lediglich "redaktionelle Addition" der Freiheit der Meinungsäußerung und der Freiheit von Kunst und Wissenschaft im Rahmen des Art. 5 GG darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Wissenschaft und Kunst eindeutig nicht unter den in Abs. 2 für die in Abs. 1 gewährleisteten Rechte der freien Meinungsäußerung, der Pressefreiheit und der Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film angewandten Begriff "diese Rechte" fallen (so Köttgen a.a.O. S. 312; a. M. offenbar Wernicke im Bonner Kommentar zu Art. 5 II 3 c). Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes ergibt nichts darüber, daß der Grundgesetzgeber etwas Gegenteiliges gewollt hätte. Für die Auffassung, daß der Grundgesetzgeber die Freiheit von Kunst und Wissenschaft nichtBVerwGE 1, 303 (306) BVerwGE 1, 303 (307)generell an die Schranken der allgemeinen Gesetze binden wollte, spricht demnach nicht nur die Tatsache, daß er trotz der Meinungsverschiedenheiten, die über die Auslegung des Art. 142 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung bestanden hatten, von einer ausdrücklichen Einschränkung der Freiheit von Kunst und Wissenschaft abgesehen hat, sondern auch die Systematik des Grundgesetzes, in der der Art. 5 Abs. 3 über die Freiheit von Kunst und Wissenschaft hinter die die freie Meinungsäußerung behandelnden Absätze 1 und 2 gestellt ist. Dafür spricht schließlich der sonst überflüssige Satz 2 in Abs. 3, wonach die Freiheit der Lehre nicht von der Treue zur Verfassung entbindet. Darüber hinaus entspricht es dem freiheitlichen Gehalt des Grundgesetzes, daß es Kunst, Wissenschaft, Lehre und Forschung von der im obrigkeitsstaatlichen Denken verhafteten Kontrolle im Sinne des Polizeirechts freigestellt hat.
10
Der Senat vertritt deshalb die Ansicht, daß die Freiheit der Kunst nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nicht den Schranken der allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG, besonders nicht der polizeilichen Generalermächtigung, unterliegt. Das bedeutet jedoch nicht, daß für die Freiheit der Kunst überhaupt keine Schranken beständen. Wie der Senat in anderem Zusammenhang ausgesprochen hat (Urteile vom 15. Dezember 1953 [BVerwGE 1, 48] und vom 10. März 1954 [BVerwGE 1, 92]), darf ein Grundrecht nicht in Anspruch genommen werden, wenn dadurch ein anderes Grundrecht verletzt wird oder Güter, die für den Bestand der staatlichen Gemeinschaft notwendig sind, gefährdet werden (so offenbar auch von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, S. 68 Anm. 8 Abs. 2 zu Art. 5 GG).
11
Diese Voraussetzungen sind jedoch bei dem Film "Die Sünderin" nicht gegeben. Zwar gehört zu diesen Gütern auch das Sittengesetz im Sinne der allgemeinen grundlegenden Anschauungen über die ethische Gebundenheit des einzelnen in der Gemeinschaft (Wernicke, Bonner Kommentar zu Art. 2 GG II 1 b). Ferner stellt das Grundgesetz in Art. 6 Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Grundordnung und sichert sie als Institutionen des Gemeinschaftslebens besonders auch gegenüber etwaigen Eingriffen der staatlichen Organe. Das bedeutet aber nicht, daß das Grundgesetz Darstellungen der Kunst ausschließt, die Vorgänge zum Gegenstand haben, welche von dem Sittengesetz mißbilligt werden, moralisch ungesund oder unter Strafe gestellt sind oder von den herkömmlichen Anschauungen über Ehe und Familie abweichen; denn durch eine bloße Darstellung solcher Vorgänge werden diese Rechtsgüter nicht untergraben. Das könnte der Fall sein, wenn der Film solche Zustände verherrlichte und als erstrebenswert hinstellte und damit einen kritiklosen Teil des Publikums zur Nachahmung anreizte. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, die frei von Rechtsirrtum getroffen sind, findet aber ein solches Bekenntnis des Films "Die Sünderin" zu den von ihm dargestellten Zuständen nicht statt.BVerwGE 1, 303 (307)
12
BVerwGE 1, 303 (308)Moralische, religiöse und weltanschauliche Auffassungen einzelner Bevölkerungskreise, wie sie in den verschiedenen Landesteilen verschieden entwickelt sind, sind zwar innere Werte. Das Grundgesetz hat sie aber nicht unter den besonderen Schutz der staatlichen Grundordnung gestellt. Dem polizeilichen Einschreiten fehlte somit die rechtliche Grundlage.BVerwGE 1, 303 (308)
13
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).