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Informationen zum Dokument  EuGH Rs. C-456/98, Slg. 2000, S. I-06007 - Centrosteel  Materielle Begründung
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Zur Zulässigkeit
Zur Sache
Kosten
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Michelle Ammann, A. Tschentscher  
 
Urteil
 
des Gerichtshofes (Erste Kammer)  
vom 13. Juli 2000  
In der Rechtssache  
-- C-456/98 --  
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) von der Pretura Brescia (Italien) in dem bei dieser anhängigen Rechtsstreit  
Centrosteel Srl  
gegen  
Adipol GmbH  
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (ABl. L 382, S. 17) sowie der die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr betreffenden Artikel in Titel III Kapitel 2 und 3 EG-Vertrag  
erläßt  
Der Gerichtshof (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Sevon sowie der Richter P. Jann (Berichterstatter) und M. Wathelet, Generalanwalt: F. G. Jacobs Kanzler: R. Grass  
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen  
der Adipol GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt B. Terrano, Triest, und Rechtsanwalt G. Orlandi, Brescia, der italienischen Regierung, vertreten durch Professor U. Leanza, Leiter des Servizio del contenzioso diplomatico im Außenministerium, als Bevollmächtigten im Beistand von Avvocato dello Stato P. G. Ferri, der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Patakia und A. Aresu, juristischer Dienst, als Bevollmächtigte, aufgrund des Berichts des Berichterstatters, nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. März 2000 folgendes  
 
Urteil
 
1. Die Pretura Brescia hat mit Beschluß vom 24. November 1998, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Dezember 1998, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) drei Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (ABl. L 382, S. 17; im folgenden: Richtlinie) sowie der die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehrbetreffenden Artikel in Titel III Kapitel 2 und 3 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.
1
2. Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Centrosteel Srl (im folgenden: Centrosteel) mit Sitz in Brescia (Italien) und der Adipol GmbH (im folgenden: Adipol) mit Sitz in Wien (Österreich).
2
3. Aus den Akten des Ausgangsverfahrens ergibt sich, daß Centrosteel zwischen 1989 und 1991 aufgrund eines zwischen ihr und Adipol geschlossenen Handelsvertretervertrags für diese Gesellschaft als Handelsvertreterin tätig war. Nach der Kündigung des Vertrages verlangte Centrosteel die Zahlung eines bestimmten Betrages als Provision.
3
4. Nachdem Adipol die Zahlung des von Centrosteel verlangten Betrages abgelehnt hatte, erhob Centrosteel Klage bei der Pretura Brescia, vor der die Beklagte geltend machte, daß der Handelsvertretervertrag nichtig sei, da Centrosteel nicht, wie nach Artikel 2 des italienischen Gesetzes Nr. 204 vom 3. Mai 1985 (GURI Nr. 119 vom 22. Mai 1985, S. 3623; im folgenden: Gesetz Nr. 204) vorgeschrieben, in das Handelsvertreterregister eingetragen sei.
4
5. Nach dieser Bestimmung ist bei jeder Handelskammer ein Handelsvertreterregister zu führen, in das "sich eintragen lassen muß, wer die Tätigkeit eines Handelsvertreters ausübt oder auszuüben beabsichtigt". Artikel 9 des Gesetzes Nr. 204 bestimmt: "Wer nicht in das nach diesem Gesetz vorgesehene Register eingetragen ist, darf nicht als Handelsvertreter tätig sein."
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6. Laut Vorlagebeschluß haben die italienischen Gerichte in der Vergangenheit in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß ein Handelsvertretervertrag, der von einer nicht in das Register eingetragenen Person geschlossen worden ist, wegen Verstoßes gegen die zwingende Bestimmung des Artikels 9 des Gesetzes Nr. 204 nichtig ist und daß diese Person nicht auf Zahlung der Provisionen und Entschädigungen bezüglich der von ihr ausgeübten Tätigkeit klagen kann.
6
7. Auf eine ihm dazu vom Tribunale Bologna (Italien) zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage hat der Gerichtshof für Recht erkannt, daß die Richtlinie einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Gültigkeit eines Handelsvertretervertrags von der Eintragung des Handelsvertreters in ein dazu vorgesehenes Register abhängig macht (Urteil vom 30. April 1998 in der Rechtssache C-215/97, Bellone, Slg. 1998, I-2191).
7
8. In diesem Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, daß Artikel 13 Absatz 2 der Richtlinie als Einschränkung der Gültigkeit des Vertrages nur das Erfordernis der Schriftform nennt. Da der Gemeinschaftsgesetzgeber die Frage abschließend geregelt hat, können die Mitgliedstaaten somit außer der schriftlichen Abfassung des Vertrages keine weitere Bedingung aufstellen (Urteil Bellone, Randnr. 14).
8
9. Das vorlegende Gericht führt unter Berufung auf das Urteil Bellone aus, daß dieses Urteil nicht dazu führen könne, daß das Gesetz Nr. 204 in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unangewandt bleibe, da Richtlinien nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes keine unmittelbare Wirkung im Verhältnis zwischen Privatpersonen hätten. Daher seien möglicherweise unmittelbar die Bestimmungen des Vertrages heranzuziehen, insbesondere diejenigen über die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr, die anders als Richtlinien in den nationalen Rechtsordnungen unmittelbare und sofortige Wirkung hätten. Die etwaige Unvereinbarkeit der italienischen Regelung mit diesen Gemeinschaftsgrundsätzen würde zwangsläufig dazu führen, daß diese Regelung nicht angewandt werde.
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10. Das vorlegende Gericht hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
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    1. Auslegung der Artikel 52, 53, 54, 55, 56, 57 und 58 EG-Vertrag: Stellen die Artikel 2 und 9 des italienischen Gesetzes Nr. 204 von 1985, wonach zur Eintragung in ein Register verpflichtet ist, wer eine Vertretertätigkeit ausübt, und der Handelsvertretervertrag eines nicht in das Register eingetragenen Vertreters nichtig ist, eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar?
    2. Stehen die Vertragsbestimmungen über die Niederlassungsfreiheit in den Artikeln 52 bis 58 einer nationalen Regelung entgegen, die die Gültigkeit eines Handelsvertretervertrags von der Eintragung des Handelsvertreters in ein dazu vorgesehenes Register abhängig macht?
    3. Stehen die Vertragsbestimmungen über die Dienstleistungsfreiheit in den Artikeln 59 bis 66 einer nationalen Regelung entgegen, die die Gültigkeit eines Handelsvertretervertrags von der Eintragung des Handelsvertreters in ein dazu vorgesehenes Register abhängig macht?
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Zur Zulässigkeit
 
11. Adipol, die italienische Regierung und die Kommission machen geltend, das Vorabentscheidungsersuchen sei aus folgenden Gründen unzulässig:
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    - Es beruhe auf einer fehlerhaften Tatsachenwürdigung, da Centrosteel nicht als Handelsvertreterin tätig gewesen sei, sondern lediglich aufgrund einer Vereinbarung, deren Gültigkeit zweifelhaft sei, bestimmte Zahlungen von Adipol erhalten habe (Adipol);
    - die Parteien hätten sich im Ausgangsverfahren nicht auf die Vertragsbestimmungen über die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr berufen (Adipol);
    - nach den Vorschriften des internationalen Privatrechts seien die italienischen Gerichte für die Entscheidung im Ausgangsverfahren nicht zuständig; die Zuständigkeit liege allein bei den österreichischen Gerichten (Kommission);
    - die vorgelegten Fragen seien für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens nicht nötig (Adipol, italienische Regierung und Kommission).
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12. Bis auf das letztgenannte Argument, das in Wirklichkeit zur Sache gehört und daher in diesem Rahmen geprüft wird, können die erwähnten Unzulässigkeitseinreden aus den vom Generalanwalt in den Nummern 10 bis 27 seiner Schlußanträge genannten Gründen, denen sich der Gerichtshof anschließt, nicht durchgreifen.
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Zur Sache
 
13. Vorab ist daran zu erinnern, daß die Richtlinie die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien eines Handelsvertretervertrags unabhängig von irgendwelchen grenzüberschreitenden Faktoren harmonisieren soll. Ihr Anwendungsbereich geht also über den der im Vertrag verankerten Grundfreiheiten hinaus.
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14. Außerdem ist darauf hinzuweisen, daß sich der Gerichtshof im Urteil Bellone zu einer Situation geäußert hat, die mit derjenigen, die dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit zugrunde liegt, identisch ist, nämlich zur Gültigkeit eines dem italienischen Recht unterliegenden Handelsvertretervertrags, wenn der Handelsvertreter nicht in das Handelsvertreterregister eingetragen ist. Der Gerichtshof hat in diesem Urteil entschieden, daß die Richtlinie es ausschließt, daß die Gültigkeit eines Handelsvertretervertrags von der Eintragung des Handelsvertreters in ein solches Register abhängig gemacht wird.
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15. Zwar kann nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes eine nicht angemessen in nationales Recht umgesetzte Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für den einzelnen begründen (Urteile vom 26. Februar 1986 in der Rechtssache 152/84, Marshall, Slg. 1986, 723, Randnr. 48, und vom 14. Juli 1994 in der Rechtssache C-91/92, Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325, Randnr. 20).
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16. Doch ergibt sich ebenfalls aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes (Urteile vom 13. November 1990 in der Rechtssache C-106/89, Marleasing, Slg. 1990, I-4135, Randnr. 8, vom 16. Dezember 1993 in der Rechtssache C-334/92, Wagner Miret, Slg. 1993, I-6911, Randnr. 20, Faccini Dori, Randnr. 26, und vom 27. Juni 2000 in den Rechtssachen C-240/98, C-241/98, C-242/98, C-243/98 und C-244/98, Océano Grupo Editorial und Salvat Editores, Slg. 2000, I-0000, Randnr. 30), daß ein nationales Gericht, das das nationale Recht - ob es sich nun um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt - bei dessen Anwendung auszulegen hat, seine Auslegung soweit wie möglich am Wortlaut und am Zweck der Richtlinie ausrichtenmuß, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Artikel 189 Absatz 3 EG-Vertrag (jetzt Artikel 249 Absatz 3 EG) nachzukommen.
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17. Somit hat das vorlegende Gericht, das mit einem Rechtsstreit befaßt ist, der in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt und auf einen nach Ablauf der Frist zur Umsetzung der Richtlinie entstandenen Sachverhalt zurückgeht, bei der Anwendung der Rechtsvorschriften oder - was im Ausgangsverfahren der Fall zu sein scheint - einer gefestigten nationalen Rechtsprechung diese so auszulegen, daß sie im Einklang mit den Zielen der Richtlinie angewandt werden können. Wie der Generalanwalt insoweit in Nummer 36 seiner Schlußanträge ausführt, hat die Corte suprema di cassazione ihre Rechtsprechung aufgrund des Urteils Bellone anscheinend bereits dahin geändert, daß die Nichtbeachtung der nach dem Gesetz Nr. 204 bestehenden Verpflichtung zur Eintragung in das Handelsvertreterregister im italienischen Recht nicht mehr zur Nichtigkeit des Handelsvertretervertrags führt.
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18. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen erübrigt sich, wie die italienische Regierung und die Kommission zutreffend geltend machen, eine Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts, die sich auf die Vertragsbestimmungen über die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr beziehen, da der bei diesem Gericht anhängige Rechtsstreit auf der Grundlage der Richtlinie und der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu den Wirkungen der Richtlinien entschieden werden kann.
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19. Auf die vorgelegten Fragen ist daher zu antworten, daß die Richtlinie einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Gültigkeit eines Handelsvertretervertrags von der Eintragung des Handelsvertreters in das dazu vorgesehene Register abhängig macht. Das nationale Gericht hat bei der Anwendung der vor oder nach der Richtlinie erlassenen nationalen Rechtsvorschriften diese soweit wie möglich unter Berücksichtigung des Wortlauts und Zweckes der Richtlinie auszulegen, so daß sie im Einklang mit den Zielen der Richtlinie angewandt werden können.
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Kosten
 
20. Die Auslagen der italienischen Regierung und der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
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Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) auf die ihm von der Pretura Brescia mit Beschluß vom 24. November 1998 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
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Die Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter steht einer nationalen Regelung entgegen, die die Gültigkeit eines Handelsvertretervertrags von der Eintragung des Handelsvertreters in das dazu vorgesehene Register abhängig macht. Das nationale Gericht hat bei der Anwendung der vor oder nach der Richtlinie erlassenen nationalen Rechtsvorschriften diese soweit wie möglich unter Berücksichtigung des Wortlauts und Zweckes der Richtlinie auszulegen, so daß sie im Einklang mit den Zielen der Richtlinie angewandt werden können.  
Sévon, Jann, Wathelet  
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 13. Juli 2000.
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R. Grass (Der Kanzler), L. Sévon (Der Präsident der Ersten Kammer)  
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).