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Informationen zum Dokument  BGE 1 I 132 - Ehegaume Wald  Materielle Begründung
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BGE 1 I 95 - Eherecht trotz liederlichen Lebenswandels

Sachverhalt
A.
B.
C.
D.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Erwägung 1
Erwägung 2
Erwägung 3
Erwägung 4
Erwägung 5
Demnach hat das Bundesgericht
erkannt:
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Loic Stucki, A. Tschentscher  
 
BGE 1 I, 132 (132)34. Urtheil
 
vom 4. Februar 1875 in Sachen Daniel Buff.  
 
Sachverhalt
 
 
A.
 
Rekurrent, welcher in Folge der von seiner Ehefrau angehobenen Ehescheidungsklage vor die Ehegaume der Gemeinde Wald geladen worden ist, weigerte sich vor derselben zu erscheinen, da durch Art. 58 der Bundesverfassung die geistliche Gerichtsbarkeit abgeschafft sei, die Ehegaume aber ein geistliches Gericht sei. Die Ehegaume wandte sich deßhalb an die StandesBGE 1 I, 132 (132)BGE 1 I, 132 (133)kommission, worauf dieselbe unterm 12. November vor. Jahres beschloß, daß Rekurrent zur Einantwortung vor der Ehegaume pflichtig sei.
1
 
B.
 
Hierüber beschwerte sich derselbe mit Eingabe vom 30. November vorigen Jahres beim Bundesrathe, gestützt auf Art. 58 Absatz 2 der Bundesverfassung, indem er ausführte: Zur Zeit bestehen im Kanton Appenzell A.-Rh. zwei Ehegerichtsinstanzen, nämlich Ehegaume und Ehegericht, deren Mitglieder je zu ein Drittel geistlichen und zu zwei Drittel weltlichen Standes sein müssen. (Art. 6 und 13 der Kantonsverfassung.) Mit Abschaffung der geistlichen Gerichtsbarkeit seien aber nicht nur die blos aus Geistlichen komponirten Gerichte, sondern die Jurisdiktion der Geistlichen überhaupt abgeschafft, sonst könnte der Fall vorkommen, daß ein Gericht mit Ausnahme eines einzigen weltlichen Mitgliedes nur aus Geistlichen bestellt werden dürfte.
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C.
 
Die Standeskommission entgegnete auf diese Beschwerde am 10. Dezember vor. Jahres: Als der Antrag der Ehegaume Wald vorgelegen habe, sei sie, die Standeskommission, der Ansicht gewesen, daß die bloße Mitgliedschaft Geistlicher die Gerichte nicht zur geistlichen Gerichtsbarkeit mache, so lange die Gerichte als solche nicht nach geistlichen Ausnahmsgesetzen Recht sprechen dürfen. Sie halte nun aber allerdings dafür, daß eine Aenderung der Verfassungsbestimmungen hinsichtlich der Ehegerichtsinstanzen eintreten müsse. Bereits sei auch eine Revisionskommission bestellt, die sich namentlich mit der Frage zu beschäftigen haben werde, welchen bereits bestehenden Gerichtsbehörden die der Ehegaume und dem Ehegerichte überbundenen Fälle einstweilen zugewiesen werden sollen. Einstweilen seien aber Ehegaume und Ehegericht noch kompetent, da sie nicht geistliche Gerichtsbarkeiten im Sinne des Art. 58 der Bundesverfassung seien.
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D.
 
Gemäß Bundesbeschluß vom 16. Oktober v.J., Art. 113 der Bundesverfassung und Art. 59 des Organisationsgesetzes über die Bundesrechtspflege hat der Bundesrath diesen Rekurs dem Bundesgerichte überwiesen.BGE 1 I, 132 (133)
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BGE 1 I, 132 (134)Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
 
Erwägung 1
 
1. Aus der in Art. 58 der neuen Bundesverfassung enthaltenen Bestimmung an und für sich, laut welcher die geistliche Gerichtsbarkeit abgeschafft ist, könnte nicht gefolgert werden, daß eine Gerichtsbehörde, sofern sie als Glied der weltlichen Gewalt erscheint und nach den bürgerlichen Gesetzen zu urtheilen hat, aus dem Grunde als verfassungswidrig erklärt werden müßte, weil Einzelne der gewählten Personen zufällig dem geistlichen Stande angehören.
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Erwägung 2
 
2. Dagegen kann es, wenn die angeführte Vorschrift in ihrem Zusammenhange mit den Artikeln 49, 53 und 54 der neuen Bundesverfassung in's Auge gefaßt wird, welche die vollständige Unabhängigkeit des bürgerlichen vom religiösen und kirchlichen Gebiete, namentlich in Ehesachen gewahrt wissen wollen, nicht mehr als zulässig erscheinen, daß der Staat, der nur den bürgerlichen Charakter der Ehe kennen und das religiöse Moment derselben jedem Einzelnen anheimstellen soll, in den Behörden, welche beim Abschluß oder bei der Trennung der Ehe zu funktioniren haben, einer bestimmten Kirche als solcher eine offizielle, ausschließliche oder auch nur theilweise Vertretung einräume und alle Bürger, welches auch ihre Glaubensansicht oder ihr Glaubensbekenntniß sein möge, zur Unterwerfung unter dieselben verpflichte.
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Erwägung 3
 
3. Die Bestimmungen der Verfassung des Kantons Appenzell A.-Rh., nach welchen für Ehestreitigkeiten, namentlich zur Beurtheilung von Scheidungsbegehren, mit Ausnahme der zeitlichen Folgen derselben, besondere Gerichte aufgestellt sind, in welchen die Kirche als solche zu einem Drittheile vertreten sein muß und zwar in der Weise, daß die Ehegaume als erste Instanz aus dem auch mit der Prozeßleitung betrauten Ortspfarrer und den beiden Hauptleuten der betreffenden Gemeinde, und das oberinstanzliche Ehegericht aus drei im Lande angestellten Geistlichen und sechs Mitgliedern des Großen Rathes besteht, Bestimmungen, die noch auf dem religiösen Charakter der Ehe beruhen und offenbar bezwecken, der Landeskirche einen wesentlichen Einfluß auf die Eheangelegenheiten zu sichern,BGE 1 I, 132 (134) BGE 1 I, 132 (135)können daher gegenüber den angerufenen Grundsätzen der Bundesverfassung keinen allgemein verbindlichen Fortbestand beanspruchen.
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Erwägung 4
 
4. Die Standeskommission von Appenzell A.-Rh. hat denn dieß in ihrer Rekursbeantwortung auch selber anerkannt und wendet im Wesentlichen nur ein, daß bis zur gesetzlichen Lösung der Frage, welchen Gerichten die bisherigen Funktionen der Ehegerichte zugewiesen werden sollen, diese letztern noch als allein kompetent betrachtet werden müssen.
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Erwägung 5
 
5. Dieser Einwurf kann jedoch nicht als begründet erfunden werden. Nach dem Art. 2 der Übergangsbestimmungen der neuen Bundesverfassung können Bestimmungen kantonaler Verfassungen und Gesetze, welche mit den Vorschriften der erstern in Widerspruch stehen, nur unter der Voraussetzung als einstweilen noch in Kraft bestehend betrachtet werden, daß zur Ausführung der betreffenden Bestimmungen der Bundesverfassung noch ein besonderes Bundesgesetz erforderlich und in der Verfassung selbst in Aussicht genommen ist. Dieß ist aber bezüglich des einschlägigen Art. 58 Absatz 2 der Bundesverfassung nicht der Fall, indem vielmehr die Organisation der Gerichtsbehörden, welche über Ehescheidungsstreitigkeiten zu urtheilen haben werden -- innerhalb der von der Bundesverfassung gezogenen Grenzen -- ausschließlich Sache der Kantone verblieben ist. Mithin hätten die betreffenden Kantone sofort nach der Annahme der neuen Bundesverfassung für die Ersetzung der verfassungswidrig gewordenen Ehegerichte zu sorgen gehabt und konnten jedenfalls, sofern dieß nicht freiwillig geschah, keinen Bürger mehr dazu anhalten, sich der Jurisdiktion derselben zu unterwerfen.
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Demnach hat das Bundesgericht
erkannt:
 
Der Rekurs wird in dem Sinne begründet erklärt, daß Rekurrent nicht angehalten werden kann, sich vor den dermalen bestehenden Ehegerichten des Kantons Appenzell Außer-Rhoden einzulassen.BGE 1 I, 132 (135)
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