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Informationen zum Dokument  BGer 6B_144/2022  Materielle Begründung
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BGer 6B_144/2022 vom 06.04.2022
 
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6B_144/2022
 
 
Urteil vom 6. April 2022
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin,
 
Bundesrichter Denys,
 
Bundesrichter Muschietti,
 
Gerichtsschreiberin Arquint Hill.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Departement des Innern des Kantons Solothurn, vertreten durch das Amt für Justizvollzug, Ambassadorenhof, Riedholzplatz 3, 4509 Solothurn,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Bedingte Entlassung,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom 26. Januar 2022 (VWBES.2021.454).
 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das Kantonsgericht Basel-Landschaft verurteilte den Beschwerdeführer am 22. März 2016 wegen gewerbsmässigen Diebstahls, Diebstahls, mehrfacher Sachbeschädigung, mehrfachen Hausfriedensbruchs sowie mehrfacher Widerhandlung gegen das Ausländergesetz zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Eine dagegen gerichtete Beschwerde wies das Bundesgericht am 10. August 2016 ab, soweit es darauf eintrat (Urteil 6B_843/2016).
 
Das Obergericht des Kantons Solothurn verurteilte den Beschwerdeführer am 7. September 2021 (unter Widerruf der für eine Reststrafe von 478 Tagen gewährten bedingten Entlassung) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 37 Monaten. Eine vom Beschwerdeführer dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesgericht am 23. März 2022 ab, soweit es darauf eintrat (Urteil 6B_1402/2021).
 
Das Amt für Justizvollzug des Kantons Solothurn verweigerte dem Beschwerdeführer am 4. November 2021 die bedingte Entlassung. Das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn wies am 26. Januar 2022 eine dagegen erhobene Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat.
 
Der Beschwerdeführer wendet sich mit Eingaben vom 1. und 10. Februar 2022 an das Bundesgericht. Das Urteil des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben und er bedingt zu entlassen. Zudem sei ihm eine Genugtuung von Fr. 2'000.-- zuzusprechen.
 
2.
 
Der vorinstanzliche Entscheid hat eine Frage des Vollzugs von Strafen und Massnahmen zum Gegenstand, weshalb er der Beschwerde in Strafsachen unterliegt (Art. 78 Abs. 2 lit. b BGG). Der Beschwerdeführer hat ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheides und ist daher zur Beschwerde legitimiert (Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG).
 
 
3.
 
3.1. Der Beschwerdeführer rügt formelle Mängel des Verfahrens. Er macht sinngemäss geltend, die Vorinstanzen hätten mangels (damaliger) Rechtskraft des Urteils des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 7. September 2021 nicht über die bedingte Entlassung befinden dürfen.
 
3.2. Gemäss Art. 86 Abs. 1 StGB ist der Gefangene nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe bedingt zu entlassen, wenn es das Verhalten im Strafvollzug rechtfertigt und nicht anzunehmen ist, er werde weitere Verbrechen oder Vergehen begehen. Die bedingte Entlassung stellt die Regel und die Verweigerung die Ausnahme dar (BGE 133 IV 201 E. 2.2). Gemäss Art. 86 Abs. 2 StGB prüft die zuständige Behörde von Amtes wegen, ob die gefangene Person bedingt entlassen werden kann, und holt einen Bericht der Anstaltsleitung ein. Die gefangene Person ist anzuhören. Die zuständige Behörde hat jährlich neu zu prüfen, ob die bedingte Entlassung gewährt werden kann (Art. 86 Abs. 3 StGB).
 
3.3. Die Gewährung der bedingten Entlassung setzt, was sich schon aus dem Wortlaut von Art. 86 StGB ergibt, eine rechtskräftige Verurteilung voraus. Ist ein Beschwerdeverfahren am Bundesgericht hängig, erwächst das kantonale Urteil erst mit einer Abweisung der Beschwerde in Strafsachen durch das Bundesgericht in Rechtskraft (vgl. BGE 144 IV 35 E. 2.3.2; Urteile 1B_58/2014 vom 15. April 2014 E. 3.1; 6B_440/2012 vom 14. Dezember 2012 E. 2.3.2; vgl. auch SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N. 7 zu Art. 437 StPO; THOMAS SPRENGER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 8 zu Art. 437 StPO). Der Beschwerdeführer hatte Beschwerde in Strafsachen gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 7. September 2021 erhoben. Es erwuchs daher erst mit deren Abweisung durch das Bundesgericht am 23. März 2022 in Rechtskraft (Urteil 6B_1402/2021).
 
3.4. In Verkennung dieser Rechtslage leitete das Amt für Justizvollzug (welches davon ausging, das Urteil vom 7. September 2021 sei mit seiner Ausfällung rechtskräftig geworden) ein Verfahren nach Art. 86 Abs. 2 StGB ein und verweigerte dem Beschwerdeführer in der Folge am 4. November 2021 die bedingte Entlassung. Die Vorinstanz wies eine dagegen erhobene Beschwerde am 26. Januar 2022 ab, soweit sie darauf eintrat und auferlegte dem Beschwerdeführer die Verfahrenskosten. Der Beschwerdeführer befand sich indessen zum Zeitpunkt der Entscheide beider Vorinstanzen - mangels eines rechtskräftigen Strafurteils - nicht im Strafvollzug, sondern noch in Sicherheitshaft. Die Verfahrenshoheit (um über allfällige Haftentlassungsgesuche zu entscheiden) lag damit bei der Strafkammer des Obergerichts des Kantons Solothurn (siehe Urteil 1B_133/2022 vom 10. März 2022). Das Amt für Justizvollzug und die Vorinstanz hätten daher über die Frage der bedingten Entlassung nicht entscheiden dürfen; sie waren formell unzuständig. Dass das Urteil vom 7. September 2021 mit der Beschwerdeabweisung am 23. März 2022 (und damit während Hängigkeit des vorliegenden Verfahrens) rechtskräftig geworden ist, ändert nichts an der ursprünglichen Unzuständigkeit der Vorinstanzen zum Entscheidzeitpunkt und führt insbesondere auch nicht dazu, dass das Bundesgericht das vorinstanzliche Urteil in der Sache überprüfen könnte. Auf den Antrag des Beschwerdeführers, er sei bedingt zu entlassen, kann folglich nicht eingetreten werden. Offen bleiben kann, ob der Mangel der zum Entscheidzeitpunkt bestehenden Unzuständigkeit der Vorinstanzen derart gravierend ist, dass er schlechthin zur Nichtigkeit des angefochtenen Urteils führen müsste. Jedenfalls ist dieses aber wegen des festgestellten formellen Mangels aufzuheben und die Angelegenheit zur Entscheidung an das Amt für Justizvollzug zurückzuweisen. Das Verfahren wird aufgrund der aktuellen Sach- und Rechtslage im Sinne von Art. 86 StGB (u.a. Anhörung des Gefangenen) und unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebots durchzuführen sein.
 
3.5. Auf das Genugtuungsbegehren ist nicht einzutreten, ebenso wenig auf das hilfsweise gestellte Feststellungsbegehren. Der Beschwerdeführer legt nicht dar und es ist auch nicht ersichtlich, weshalb ihm eine Genugtuung auszurichten wäre und inwiefern neben der Aufhebung des Urteils ein spezifisches Interesse an der beantragten Feststellung (betreffend beanstandete Nichtberücksichtigung von formellen Mängeln) bestehen könnte.
 
3.6.
 
Die Beschwerde ist nach dem Gesagten gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist. Es werden keine Kosten erhoben und keine Entschädigungen ausgerichtet. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gegenstandslos. Da es sich um einen Entscheid handelt, der die Beurteilung in der Sache nicht präjudiziert, und in Nachachtung des Beschleunigungsgebots (Art. 29 Abs. 1 BV), kann auf die Einholung von Vernehmlassungen verzichtet werden (vgl. Urteil 6B_151/2019 vom 17. April 2019 E. 5).
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht :
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom 26. Januar 2022 wird aufgehoben und die Angelegenheit zur Entscheidung im Sinne der Erwägungen an das Amt für Justizvollzug zurückgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Kosten erhoben und keine Entschädigungen ausgerichtet.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 6. April 2022
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari
 
Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill
 
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