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Informationen zum Dokument  BGer 2C_373/2021  Materielle Begründung
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BGer 2C_373/2021 vom 22.02.2022
 
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2C_373/2021
 
 
Urteil vom 22. Februar 2022
 
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Aubry Girardin, Präsidentin,
 
Bundesrichter Donzallaz, Bundesrichterin Hänni, Bundesrichter Beusch, Bundesrichter Hartmann,
 
Gerichtsschreiber Seiler.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Donato Del Duca,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Amt für Migration und Integration
 
des Kantons Aargau,
 
Rechtsdienst, Bahnhofplatz 3C, 5001 Aarau.
 
Gegenstand
 
Nichtverlängerung der Kurzaufenthaltsbewilligung EU/EFTA und Wegweisung,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 2. Kammer, vom 22. März 2021 (WBE.2020.335).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.________ (geboren 1961, deutscher Staatsangehöriger) erhielt am 12. Juli 2007 eine Grenzgängerbewilligung und am 1. Februar 2008 eine Aufenthaltsbewilligung EG/EFTA (heute: EU/EFTA) zur Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit in der Schweiz.
1
A.________ trat in der Schweiz wiederholt wegen Verkehrs- und Betreibungsdelikten strafrechtlich in Erscheinung, wobei er neben diversen (Übertretungs-) Bussen eine Geldstrafe von zehn Tagessätzen gegen sich erwirkte. Ab September 2009 wurde er aufgrund eines Burnouts arbeitsunfähig geschrieben und am 11. Mai 2010 wurde eine Beistandschaft über ihn errichtet. Ab dem 16. August 2012 bezog er Sozialhilfe. Mehrere Wiedereingliederungs- bzw. Arbeitsversuche scheiterten.
2
Die Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA von A.________ wurde zuletzt am 21. August 2015 bis zum 30. November 2015 verlängert. Danach wurde ihm am 13. Januar 2016 nur noch eine Kurzaufenthaltsbewilligung EU/EFTA aufgrund des damals noch pendenten IV-Verfahrens erteilt, welche am 30. August 2016 bis zum 8. April 2017 verlängert wurde. Am 15. September 2017 sprach die Eidgenössische Invalidenversicherung dem Beschwerdeführer rückwirkend auf den 1. September 2014 eine ganze Invalidenrente zu. Zudem wurde am 11. Juni 2018 ein Anspruch auf Ergänzungsleistungen festgestellt. Aufgrund damals laufender Abklärungen betreffend allfällige Rentenansprüche in Deutschland sistierte das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau am 23. Oktober 2017 das Verlängerungsverfahren bezüglich der (zu diesem Zeitpunkt bereits abgelaufenen) Kurzaufenthaltsbewilligung EU/EFTA.
3
 
B.
 
Da entsprechende Rentenansprüche in Deutschland mangels Mindestanzahl an Pflichtbeiträgen abschlägig beantwortet worden waren und sich deshalb keine Ablösung der Ergänzungsleistungen abzeichnete, verweigerte das Amt für Migration und Integration am 13. Februar 2020 nach Gewährung des rechtlichen Gehörs eine weitere Verlängerung der Kurzaufenthaltsbewilligung EU/EFTA, wies A.________ aus der Schweiz weg und setzte ihm eine 90-tägige Ausreisefrist ab Rechtskraft der Wegweisungsverfügung. Die dagegen erhobenen innerkantonalen Rechtsmittel blieben erfolglos; zuletzt wies das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 22. März 2021 eine Beschwerde von A.________ ab.
4
 
C.
 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 6. Mai 2021 beantragt A.________, der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 22. März 2021 sei aufzuheben und es sei das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau anzuweisen, ihm eine ordentliche Aufenthaltsbewilligung zu erteilen oder eventualiter die abgelaufene Kurzaufenthaltsbewilligung EU/EFTA zu verlängern. In prozessualer Hinsicht beantragt A.________, dass seiner Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen sei und ihm die unentgeltliche Rechtspflege und die unentgeltliche Rechtsverbeiständung durch Rechtsanwalt Donato Del Duca zu gewähren seien.
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Die Vorinstanz und das Amt für Migration und Integration beantragen die Abweisung der Beschwerde.
6
Mit Verfügung vom 7. Mai 2021 erkannte das Bundesgericht der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu.
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Erwägungen:
 
 
1.
 
1.1. Auf dem Gebiet des Ausländerrechts ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten im Zusammenhang mit Bewilligungen ausgeschlossen, auf die weder das Bundesrecht noch das Völkerrecht einen Anspruch einräumen (Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG). Ob die jeweiligen Bewilligungsvoraussetzungen erfüllt sind, ist eine Frage der materiellen Beurteilung; für das Eintreten genügt, dass ein entsprechender Anwesenheitsanspruch in vertretbarer Weise geltend gemacht wird (vgl. BGE 136 II 177 E. 1.1). Dies tut der Beschwerdeführer, indem er sich als deutscher Staatsangehöriger aufgrund einer früheren Erwerbstätigkeit auf einen Anspruch aus Art. 4 Anhang I des Abkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA; SR 0.142.112.681) beruft.
8
1.2. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wurde unter Einhaltung der gesetzlichen Frist (Art. 100 Abs. 1 BGG) und Form (Art. 42 BGG) eingereicht und richtet sich gegen einen Endentscheid einer letzten, oberen kantonalen Instanz (Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 sowie Art. 90 BGG). Der Beschwerdeführer ist zur Beschwerde legitimiert (Art. 89 Abs. 1 BGG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.
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1.3. Nicht näher einzugehen ist auf die Beschwerde allerdings, soweit der Beschwerdeführer darin die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung aus wichtigen Gründen (Härtefallbewilligung) nach Art. 20 der Verordnung vom 22. Mai 2002 über den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der Europäischen Union und deren Mitgliedstaaten, zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich sowie unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation (VFP; SR 142.203; Titel bis zum 31. Dezember 2020: Verordnung vom 22. Mai 2002 über die schrittweise Einführung des freien Personenverkehrs zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Union und deren Mitgliedstaaten sowie unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation, VEP) verlangt. Bei dieser Bewilligung handelt es sich um eine Ermessensbewilligung, sodass insoweit die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nicht offen steht (Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG; Urteil 2C_800/2019 vom 7. Februar 2020 E. 3.3). Verfassungsrügen erhebt der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang keine, sodass seine Beschwerde insoweit auch nicht als subsidiäre Verfassungsbeschwerde entgegen genommen werden kann (Art. 116 und Art. 106 Abs. 2 BGG).
10
 
2.
 
2.1. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). "Offensichtlich unrichtig" bedeutet dabei "willkürlich" (BGE 143 IV 241 E. 2.3.1; 140 III 115 E. 2). Die beschwerdeführende Partei kann die Feststellung des Sachverhalts unter den gleichen Voraussetzungen beanstanden, wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Sie hat deshalb substanziiert darzulegen, weswegen diese Voraussetzungen gegeben sein sollen; wird sie dieser Anforderung nicht gerecht, bleibt es beim vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt (BGE 140 III 16 E. 1.3.1).
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2.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. In Bezug auf die Verletzung der verfassungsmässigen Rechte gilt nach Art. 106 Abs. 2 BGG eine gesteigerte Rüge- und Substanziierungspflicht (BGE 143 II 283 E. 1.2.2; 139 I 229 E. 2.2; 138 I 274 E. 1.6). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist daher weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann die Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (Motivsubstitution; BGE 141 V 234 E. 1; 139 II 404 E. 3).
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3.
 
3.1. Die Parteien sind sich einig, dass der Beschwerdeführer infolge dauernder Arbeitsunfähigkeit seinen Arbeitnehmerstatus verloren hat und sich für seinen Aufenthalt in der Schweiz nicht mehr auf Art. 6 Anhang I FZA berufen kann. Ebenso unbestritten ist, dass der Beschwerdeführer nicht über die finanziellen Mittel verfügt, die für eine Aufenthaltsbewilligung nach Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA erforderlich wären. Es ist auch nicht ersichtlich, dass das angefochtene Urteil insoweit zu beanstanden wäre.
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3.2. Streitig ist vor Bundesgericht jedoch, ob der Beschwerdeführer die Voraussetzungen für ein Verbleiberecht nach Art. 4 Abs. 2 Anhang I FZA in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 der Kommission vom 29. Juni 1970 über das Recht der Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates zu verbleiben (ABl. Nr. L 142, 1970, S. 24; nachfolgend: Verordnung (EWG) Nr. 1251/70) erfüllt.
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4.
 
4.1. Das Verbleiberecht nach Beendigung der Erwerbstätigkeit steht nach Art. 4 Abs. 2 Anhang I FZA unter anderem unter den Voraussetzungen der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70. Gemäss Art. 2 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 steht das Recht, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates zu verbleiben, einem (ehemaligen) Arbeitnehmer zu, "der infolge dauernder Arbeitsunfähigkeit eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis aufgibt, wenn er sich seit mindestens zwei Jahren im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates ständig aufgehalten hat. Die Voraussetzung einer bestimmten Dauer des ständigen Aufenthalts entfällt, wenn die dauernde Arbeitsunfähigkeit durch Arbeitsunfall oder Berufskrankheit eintritt, auf Grund derer ein Anspruch auf Rente entsteht, die ganz oder teilweise zu Lasten eines Trägers dieses Mitgliedstaates geht".
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4.2. Die Vorinstanz war der Ansicht, die Mindestaufenthaltsdauer von zwei Jahren gemäss Art. 2 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 sei im Zeitpunkt der Arbeitsunfähigkeit (September 2009) nicht erreicht gewesen, da der Beschwerdeführers erst mit der polizeilichen Anmeldung in U.________ per 1. November 2007 in der Schweiz Wohnsitz genommen habe, auch wenn er aktenkundig per 13. August 2007 eine Wohnung in U.________ angemietet und zuvor nach eigenen Angaben ab Juli 2007 ein Zimmer im Hotel B.________ in V.________ bezogen habe. Auf diese "Karenzfrist" könne nicht verzichtet werden, weil der Zustand, welcher die Arbeitsunfähigkeit des Beschwerdeführers herbeigeführt habe (Burnout), nicht als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall im Sinne von Art. 2 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 zu charakterisieren sei.
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4.3. Der Beschwerdeführer macht geltend, dass die Vorinstanz die medizinische Ursache für seine Arbeitsunfähigkeit falsch beurteilt und die zweijährige Mindestaufenthaltsdauer falsch bemessen habe.
17
 
5.
 
Auslegungsweise zu klären ist zunächst, was unter dem Begriff des ständigen Aufenthalts gemäss Art. 2 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 zu verstehen ist.
18
 
5.1.
 
5.1.1. Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge wie des FZA und seiner Bestandteile richtet sich nach den Regeln des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (VRK; SR 0.111), das insoweit kodifiziertes Völkergewohnheitsrecht darstellt und als solches auch im Verhältnis zur Europäischen Gemeinschaft (EG) bzw. Union (EU) zur Anwendung kommt, obschon diese nicht Vertragspartei des Wiener Übereinkommens ist (vgl. Urteil 9C_30/2020 vom 14. Juni 2021 E. 3.3, zur Publikation vorgesehen; BGE 147 II 1 E. 2.3; 146 II 150 E. 5.3.1 mit weiteren Hinweisen).
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5.1.2. Nach Art. 31 Abs. 1 VRK haben die Vertragsstaaten eine zwischenstaatliche Übereinkunft nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, ihren Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte ihres Zieles und Zweckes auszulegen. Neben dem Zusammenhang (Art. 31 Abs. 2 VRK) sind gemäss Art. 31 Abs. 3 VRK in gleicher Weise jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen (lit. a), jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht (lit. b), sowie jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz (lit. c) zu berücksichtigen. Die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses sind nach Art. 32 VRK ergänzende Auslegungsmittel und können herangezogen werden, um die nach Art. 31 VRK ermittelte Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Art. 31 VRK die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt (Art. 32 Bst. a VRK) oder zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt (Art. 32 Bst. b VRK; vgl. BGE 147 II 1 E. 2.3; 146 II 150 E. 5.3.2; 145 II 339 E. 4.4.2; 144 II 130 E. 8.2; 143 II 136 E. 5.2; je mit Hinweisen). Art. 31 Abs. 1 VRK bestimmt eine Reihenfolge der Berücksichtigung der verschiedenen Auslegungselemente, ohne dabei eine feste Rangordnung unter ihnen festzulegen. Den Ausgangspunkt der Auslegung völkerrechtlicher Verträge bildet jedoch die gewöhnliche Bedeutung ihrer Bestimmungen (BGE 147 II 1 E. 2.3; 146 II 150 E. 5.3.2; 144 II 130 E. 8.2.1; 143 II 202 E. 6.3.1; 143 II 136 E. 5.2.2). Diese gewöhnliche Bedeutung ist nach Treu und Glauben und unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs und des Ziels und Zwecks des Vertrags zu bestimmen (BGE 147 II 1 E. 2.3; 146 II 150 E. 5.3.2; 144 II 130 E. 8.2.1; 143 II 202 E. 6.3.1; 143 II 136 E. 5.2.2). Ziel und Zweck des Vertrags ist dabei, was mit dem Vertrag erreicht werden sollte. Zusammen mit der Auslegung nach Treu und Glauben stellt die teleologische Auslegung den "effet utile" des Vertrags sicher (BGE 147 II 1 E. 2.3; 146 II 150 E. 5.3.2; 144 II 130 E. 8.2.1; 143 II 136 E. 5.2.2; 142 II 161 E. 2.1.3; 141 III 495 E. 3.5.1). Ausserdem sind die Vertragsstaaten nach Treu und Glauben gehalten, jedes Verhalten und jede Auslegung zu unterlassen, mittels welcher sie ihre vertraglichen Pflichten umgehen oder den Vertrag seines Ziels und Zwecks entleeren würden (BGE 147 II 1 E. 2.3; 146 II 150 E. 5.3.2; 144 II 130 E. 8.2.1; 143 II 202 E. 6.3.1; 142 II 161 E. 2.1.3).
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5.1.3. Ist ein Vertrag in zwei oder mehr gleichermassen verbindlichen Sprachen geschlossen und ergibt ein Vergleich der Texte einen Bedeutungsunterschied, der durch die Anwendung der Art. 31 und 32 VRK nicht ausgeräumt werden kann, wird diejenige Bedeutung zugrunde gelegt, die unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck des Vertrags die Wortlaute am besten miteinander in Einklang bringt (Art. 33 Abs. 4 VRK; vgl. dazu und insb. zum völkergewohnheitsrechtlichen Charakter der Norm Urteil des Internationalen Gerichtshofs [IGH] vom 27. Juni 2001
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5.2. Verwendet das FZA Begriffe des Unionsrechts, hat sich die Auslegung derselben nach der unionsrechtlichen Rechtsprechung zu richten, wie sie vor der Unterzeichnung des Freizügigkeitsabkommens (21. Juni 1999) bestand (Art. 16 Abs. 2 FZA). Neuere Entscheide des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) berücksichtigt das Bundesgericht im Interesse einer parallelen Rechtslage, soweit keine triftigen Gründe dagegen sprechen (vgl. BGE 147 II 1 E. 2.3; 143 II 57 E. 3.6; 139 II 393 E. 4.1.1 mit Hinweisen). Der EuGH hatte bislang soweit ersichtlich weder vor noch nach Unterzeichnung des FZA Gelegenheit, sich zur hier entscheidenden Frage zu äussern.
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5.3. Art. 2 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 spricht in der deutschen Fassung nicht von Wohnsitz, sondern von ständigem Aufenthalt. Diese beiden Konzepte sind nach ihrer gewöhnlichen Bedeutung (Art. 31 Abs. 1 VRK) nicht deckungsgleich: Aufenthalt bezeichnet laut Duden hauptsächlich das Sichaufhalten bzw. eine zeitlich begrenzte Anwesenheit an einem Ort, während unter Wohnsitz der Ort verstanden wird, an dem jemand seine Wohnung hat. Nichtsdestotrotz sind sich die Vorinstanz und der Beschwerdeführer einig, dass es auf den Wohnsitz und damit - analog zum Landesrecht (Art. 23 ZGB und Art. 20 Abs. 1 lit. a des Bundesgesetzes vom 18. Dezember 1987 über das internationale Privatrecht [IPRG; SR 291]) - auf die Absicht des dauernden Verbleibs (vgl. zur Bedeutung dieses Kriteriums im Landesrecht BGE 97 II 1 E. 3) und den Mittelpunkt der Lebensinteressen ankomme. Die Vorinstanz und der Beschwerdeführer sehen sich in diesem Verständnis durch Art. 2 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 gestützt, der die Dauer des ständigen Aufenthalts in Art. 2 Abs. 1 lit. a und b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 mit der Dauer des Wohnsitzes gleichsetzt (vgl. auch BGE 144 II 121 E. 3.5.3 ["Kriterium der Wohnsitzdauer"]).
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5.4.
 
5.4.1. Andere Sprachfassungen von Art. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70, die gleichermassen verbindlich sind wie die deutsche Fassung (vgl. Postambel FZA), wecken indessen Zweifel an der Richtigkeit dieser Auffassung. So spricht etwa die französische Fassung von "résidant d'une façon continue" (Art. 2 Abs. 1 lit. a und b) bzw. "résidence continu[e]" (Art. 2 Abs. 1 lit. c) statt von "domicilié" und von "durée de résidence" statt von "durée de domicile" (Art. 2 Abs. 2; ähnlich auch die italienische und die englische Fassung). Danach wäre eher nicht auf die - gegen aussen manifestierte - Absicht des dauernden Verbleibs oder die Lebensinteressen, sondern einzig auf den (physischen) Aufenthalt abzustellen. Unterscheiden sich die Wortlaute der verschiedenen gleichermassen verbindlichen Sprachfassungen ihrer gewöhnlichen Bedeutung nach, rücken die übrigen Auslegungskriterien in den Vordergrund (vgl. Art. 33 Abs. 4 VRK; vgl. oben E. 5.1.3).
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5.4.2. In systematischer Hinsicht deuten Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 und die Bestimmungen des FZA über die Wanderarbeitnehmer darauf hin, dass es nicht auf den Lebensmittelpunkt des Wanderarbeitnehmers ankommt. Nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 bleibt der ständige Aufenthalt durch vorübergehende Abwesenheiten von insgesamt bis zu drei Monaten pro Jahr unberührt, während ihn längere Abwesenheiten unterbrechen, sofern sie nicht durch die Ableistung von Wehrdienst bedingt sind (vgl. Urteil des EuGH vom 9. Januar 2003 C-257/00
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Auch die Bestimmungen über den Aufenthalt der Wanderarbeitnehmer im FZA knüpfen nicht an den Wohnsitz oder an den Lebensmittelpunkt des Wanderarbeitnehmers an (vgl. etwa Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Anhang I FZA).
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5.5. Die Auslegung von Art. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 ergibt, dass die deutsche Sprachfassung dieser Bestimmung insoweit ungenau ist, als sie teilweise auf den Wohnsitz statt (ausschliesslich) auf den ständigen Aufenthalt Bezug nimmt. Dieses Auslegungsergebnis steht im Übrigen auch im Einklang mit einigen jüngeren Urteilen, in denen das Bundesgericht in Bezug auf den Kanton Tessin festgehalten hat, dass es für die Gewährung des Aufenthaltsrechts nach FZA nicht auf den Mittelpunkt der (Lebens-) Interessen ankommt (vgl. Urteile 2C_7/2021 vom 16. November 2021 E. 2.2 und 3.4; 2C_103/2019 vom 3. September 2021 E. 3.6; 2C_47/2019 vom 3. September 2021 E. 3.6; 2C_560/2020 vom 9. Juni 2021 E. 2.3). Entgegen dem angefochtenen Urteil kann angesichts der gewöhnlichen Bedeutung des Begriffs des ständigen Aufenthalts in Art. 2 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 und im Lichte des systematischen Zusammenhangs dieser Bestimmung mit den übrigen Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 und des FZA (Art. 31 Abs. 1 VRK) nicht ausschlaggebend sein, wo sich der Lebensmittelpunkt des Wanderarbeitnehmers befindet. Entscheidend ist vorliegend vielmehr alleine, ob sich der Beschwerdeführer vor der Aufgabe der Erwerbstätigkeit im September 2009 infolge Arbeitsunfähigkeit schon zwei Jahre ständig in der Schweiz aufgehalten hatte, wobei vorübergehende Unterbrechungen des Aufenthalts von insgesamt bis zu drei Monaten pro Jahr gemäss Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 dem Verbleiberecht nicht entgegenstünden.
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5.6. Zuzustimmen ist der Vorinstanz allerdings insoweit, als nicht jede körperliche Anwesenheit einer Person in der Schweiz bedeutet, dass sie hier ständigen Aufenthalt hätte. Wie sich aus Art. 2 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 ergibt, geht der Unionsverordnungsgeber - und ihm folgend die Vertragsparteien des FZA, die diese Verordnung durch die Verweisung in Art. 4 Abs. 2 Anhang I FZA zum Bestandteil des FZA erhoben haben - nämlich davon aus, dass Personen, die lediglich zur Arbeit im Beschäftigungsstaat anwesend sind und regelmässig täglich (Grenzgänger) oder wöchentlich (Wochenaufenthalter) in einen anderen Staat zurückkehren, in letzterem Staat ständigen Aufenthalt (bzw. in der deutschen Fassung: Wohnsitz) haben. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass Grenzgänger und Wochenaufenthalter im Beschäftigungsstaat keinen ständigen Aufenthalt begründen, obschon sie sich tagsüber bzw. unter der Woche dort aufhalten. Dies steht auch im Einklang mit dem Zweck des Kriteriums der Aufenthaltsdauer. Denn damit soll dem sozialen Bedürfnis der Wanderarbeitnehmer, nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben im gewohnten Lebensumfeld verbleiben zu können, entsprochen (BGE 144 II 121 E. 3.5.3 mit Hinweisen; Urteil 2C_940/2019 vom 8. Juni 2020 E. 7.1.2.5) bzw. sichergestellt werden, dass der verbleibewillige Wanderarbeitnehmer im Aufnahmestaat verwurzelt, mit diesem substanziell verbunden und dort hinreichend integriert ist (vgl. Urteil des EuGH
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5.7.
 
5.7.1. Nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 wird der ständige Aufenthalt durch eines der im Aufenthaltsland üblichen Beweismittel nachgewiesen. Es kommen in der Schweiz zwar verschiedene Beweismittel infrage, mit denen ein Arbeitnehmer seinen ständigen Aufenthalt beweisen kann. Im Vordergrund steht jedoch die Aufenthaltsbewilligung. Denn der hier erwerbstätige Vertragsausländer braucht nur dann um eine Aufenthaltsbewilligung zu ersuchen, wenn er nicht regelmässig täglich oder wöchentlich in sein Herkunftsland zurückkehrt (vgl. Art. 7 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 2 Anhan I FZA). Andernfalls benötigt er eine sogenannte Sonderbescheinigung (Art. 7 Abs. 2 Unterabs. 2 Anhang I FZA) bzw. eine Grenzgängerbewilligung (Art. 4 Abs. 3 VEP).
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5.7.2. Im Geltungsbereich des FZA hat die Aufenthaltsbewilligung allerdings keine rechtsbegründende Wirkung, sondern bloss deklaratorischen Charakter. Hält sich ein Vertragsausländer in einem Vertragsstaat auf und erfüllt er die materiellen Voraussetzungen für diesen Aufenthalt, darf ihm der Aufnahmestaat sein Anwesenheitsrecht nicht absprechen, bloss weil der Vertragsausländer eine Verfahrensvorschrift des Aufnahmestaats verletzt hat (vgl. BGE 136 II 329 E. 2.2; 134 IV 57 E. 4, je mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EuGH; vgl. auch BGE 142 II 35 E. 5.3; Urteile 2C_185/2019 vom 4. März 2021 E. 8.1; 2C_430/2020 vom 13. Juli 2020 E. 1). Wenn ein Angehöriger eines Vertragsstaats eine Grenzgängerbewilligung beantragt und erhalten hat, ist für die Dauer dieser Bewilligung dennoch grundsätzlich davon auszugehen, dass er sich in der Schweiz als Grenzgänger aufhält, und kann sein Aufenthalt auf dieser Grundlage und für diese Dauer nicht als ständig im Sinne von Art. 2 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 betrachtet werden (vgl. oben E. 5.6). Der Status des ausländischen Staatsangehörigen ändert sich und sein Aufenthalt kann als ständig im Sinne der zitierten Verordnungsbestimmung betrachtet werden, wenn er oder sein Arbeitgeber um eine ordentliche Aufenthaltsbewilligung gemäss dem FZA ersuchen.
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5.8. Die Vorinstanz stellte fest, dass der Beschwerdeführer per 13. August 2007 eine Wohnung in U.________ gemietet hatte. Aufgrund der Distanz zwischen seiner früheren Wohnung in W.________/Deutschland, die der Beschwerdeführer noch bis Ende Oktober 2007 gemietet hatte, und dem Arbeitsort im Kanton Aargau (von rund 200 km; Art. 105 Abs. 2 BGG) hielt die Vorinstanz für glaubhaft, dass der Beschwerdeführer nicht täglich pendelte. Hingegen ging sie davon aus, dass der Beschwerdeführer wöchentlich nach Deutschland zurückkehrte, bis er sich nach dem Ende des Mietverhältnisses in Deutschland Anfang November 2007 in U.________ anmeldete und dort - nach der Ansicht der Vorinstanz - zu diesem Zeitpunkt seinen Lebensmittelpunkt begründete.
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Die Annahme einer regelmässig wöchentlichen Rückkehr nach Deutschland bis Anfang November 2007 wird dadurch gestützt, dass der Beschwerdeführer am 12. Juli 2007 zunächst lediglich eine Grenzgängerbewilligung EG/EFTA erhalten hatte. Wie sich aus den Akten ergibt (Art. 105 Abs. 2 BGG), stellte seine Arbeitgeberin sodann am 8. November 2007 ein Gesuch um die Aufenthaltsbewilligung EG/EFTA, das am 1. Februar 2008 bewilligt wurde. Auch angesichts dieser bewilligungsrechtlichen Umstände ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz davon ausging, der Beschwerdeführer sei noch bis Anfang November 2007 regelmässig wöchentlich nach Deutschland zurückgekehrt. Ist der Beschwerdeführer bis Anfang November 2007 als Wochenaufenthalter zu betrachten, kann frühestens ab Anfang November 2007 von einem ständigen Aufenthalt in der Schweiz gesprochen werden.
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5.9. Nach dem Gesagten hatte sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Aufgabe der Erwerbstätigkeit noch nicht zwei Jahre in der Schweiz aufgehalten. Dem Beschwerdeführer ist auch keine Hilfe, dass gemäss Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 Unterbrechungen des Aufenthalts durch Auslandsabwesenheiten von bis zu drei Monaten pro Jahr dem ständigen Aufenthalt nicht schaden. Denn im Sinne dieser Bestimmung unterbrochen werden kann der ständige Aufenthalt erst, wenn er überhaupt einmal begründet worden ist.
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6.
 
Der Beschwerdeführer kann sich nach dem Gesagten nur dann auf ein Verbleiberecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 Anhang I FZA in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 berufen, wenn seine dauernde Arbeitsunfähigkeit durch Arbeitsunfall oder Berufskrankheit eintrat, aufgrund derer ein Anspruch auf Rente entstand, die ganz oder teilweise zulasten eines Trägers der Schweiz ging.
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6.1. Die Vorinstanz erwog hierzu, dass bei der Auslegung des Begriffs der Berufskrankheit die (nationale) sozialversicherungsrechtliche Praxis zu berücksichtigen und insbesondere auf die Definition der Berufskrankheiten in Art. 9 des Bundesgesetzes vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung (UVG; SR 832.20) und die Liste der Berufskrankheiten gemäss Art. 14 und Anhang 1 der Verordnung vom 20. Dezember 1982 über die Unfallversicherung (UVV; SR 832.202) abzustellen sei. Nach der Generalklausel von Art. 9 Abs. 2 UVG gelten Krankheiten als Berufskrankheit, wenn sie ausschliesslich oder stark überwiegend (d.h. praxisgemäss zu mindestens 75%; vgl. BGE 126 V 183 E. 2b; 119 V 200 E. 2b; 114 V 109 E. 3c; Urteile 8C_516/2020 vom 3. Februar 2021 E. 3.2.2; 8C_73/2017 vom 6. Juli 2017 E. 2.2) durch die berufliche Tätigkeit verursacht werden. Das in der Gesundheitsschädigung verwirklichte Risiko müsse in der Regel nicht bloss kausal mit der Berufsausübung zusammenhängen, sondern sich insbesondere bei psychischen Erkrankungen gerade als typische Folge eines berufsspezifischen Risikos darstellen. Dies sei bei einem Burnout oder einer Erschöpfungsdepression aufgrund einer gewöhnlichen beruflichen Tätigkeit regelmässig nicht der Fall.
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Die Vorinstanz stellte sodann fest, der Beschwerdeführer sei vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit als Senior SAP Consultant bzw. Projektleiter in einer Branche (Informatik) tätig gewesen, in der Burnouts oder Erschöpfungsdepressionen im Vergleich zu anderen Branchen nicht besonders gehäuft auftreten. Zu den gesundheitlichen Problemen des Beschwerdeführers hätten nicht berufsspezifische, sondern stressbedingte bzw. persönliche Faktoren (die hohe Arbeitsbelastung, unterschwellige Konflikte mit dem Vorgesetzten, Versagensängste, der Tod des Vaters, die Trennung von der langjährigen Partnerin, die soziale Isolation und die drohende Wegweisung) geführt, die jedenfalls nicht als Verwirklichung eines berufsspezifischen bzw. -typischen Risikos anzusehen seien. Konsequenterweise habe der Beschwerdeführer in den ersten zwei Jahren nach Eintritt seiner Arbeitsunfähigkeit auch nur Taggelder seiner Krankentaggelderversicherung und keine Leistungen seiner Unfallversicherung ausbezahlt erhalten. Auf Basis dieser rechtlichen und tatsächlichen Erwägungen verneinte die Vorinstanz eine Berufskrankheit "im sozialversicherungs- oder freizügigkeitsrechtlichen Sinne".
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6.2. Entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers ist die Beurteilung der Vorinstanz zumindest im Ergebnis nicht zu beanstanden.
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6.2.1. Weder das FZA noch die Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 enthalten eine Definition des Begriffs der Berufskrankheit. Aus Art. 2 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 ergibt sich jedoch, dass die Mindestaufenthaltsdauer von zwei Jahren einzig bei Berufskrankheiten entfällt, "auf Grund derer ein Anspruch auf Rente entsteht, die ganz oder teilweise zu Lasten eines Trägers dieses Mitgliedstaates geht". Darin ist eine Verweisung auf das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten enthalten, da diese bestimmen, welche Berufskrankheiten einen Anspruch auf Rente verleihen. Die Kommission der Europäischen Union hat zwar gewisse Empfehlungen an die Mitgliedstaaten abgegeben, um eine unionsweite Vereinheitlichung zu erreichen (vgl. Empfehlung der Kommission vom 19. September 2003 über die Europäische Liste der Berufskrankheiten [2003/670/EG], ABl. Nr. L 238 vom 25. September 2003 S. 28; Empfehlung der Kommission vom 22. Mai 1990 betreffend die Annahme einer Europäischen Liste der Berufskrankheiten [90/326/EWG], ABl. Nr. L 160 vom 26. Juni 1990 S. 39). Die Gesetzgebungskompetenz ist aber den Mitgliedstaaten verblieben (vgl. Art. 2 der Empfehlung 2003/670/EWG). Die Vorinstanz hat daher im Ergebnis zu Recht unter Rückgriff auf die nationale Sozialversicherungsgesetzgebung bestimmt, ob der Beschwerdeführer an einer Berufskrankheit leidet, die ihm auch vor Erreichen der Mindestaufenthaltsdauer ein Verbleiberecht verschaffen würde.
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6.2.2. Die Auslegung des Begriffs der Berufskrankheit, welche die Vorinstanz vor dem Hintergrund der sozialversicherungsrechtlichen Praxis des Bundesgerichts vorgenommen hat, erscheint als zutreffend. Zu ergänzen ist lediglich, dass Krankheitsbilder, die nicht geradezu typisch für einen bestimmten Beruf sind, nur dann als stark überwiegend (d.h. zu mindestens 75%) durch berufliche Tätigkeit verursacht und damit als Berufskrankheit gemäss Art. 9 Abs. 2 UVG gelten, wenn empirisch nachgewiesen ist, dass eine eine bestimmte Berufstätigkeit ausübende Person zumindest viermal häufiger von einem Leiden betroffen ist als die Bevölkerung im Durchschnitt (vgl. BGE 126 V 183 E. 4c; 116 V 143 E. 5c; Urteil 8C_516/2020 vom 3. Februar 2021 E. 3.2.2). Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers stellten seine gesundheitlichen Beschwerden (Burnout und Erschöpfungsdepression) deshalb selbst dann noch keine Berufskrankheit im Sinne von Art. 9 Abs. 2 UVG dar, wenn sie stark überwiegend auf die hohe Arbeitsbelastung und die Situation am früheren Arbeitsplatz zurückzuführen wären. Erforderlich wäre nach der Rechtsprechung zu Art. 9 Abs. 2 UVG, dass Personen mit dem Beruf des Beschwerdeführers viermal häufiger von diesen Leiden betroffen sind als die Bevölkerung im Durchschnitt. Es ist weder dargetan noch ersichtlich, dass dem so wäre.
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6.3. Auf der Basis der für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1 BGG) erscheint es als zutreffend, dass die Vorinstanz eine Berufskrankheit im Sinne von Art. 2 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 verneint hat. Da sich der Beschwerdeführer in der Schweiz weniger als zwei Jahre ständig aufgehalten hatte, als er im September 2009 arbeitsunfähig wurde, verleiht ihm Art. 4 Abs. 1 und 2 Anhang I FZA in Verbindung mit Art. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 kein Recht, in der Schweiz zu verbleiben.
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7.
 
Die Beschwerde ist unbegründet und abzuweisen. Dem Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist zu entsprechen, da die Voraussetzungen hierfür erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Der unterliegende Beschwerdeführer ist von den Gerichtskosten zu befreien. Antragsgemäss ist ihm Rechtsanwalt Donato Del Duca als Rechtsvertreter beizugeben. Dem Kanton Aargau steht keine Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 3 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt Donato Del Duca als unentgeltlicher Rechtsvertreter bestellt.
 
3. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
4. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 2'500.-- entschädigt.
 
5. Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 2. Kammer, und dem Staatssekretariat für Migration schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 22. Februar 2022
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: F. Aubry Girardin
 
Der Gerichtsschreiber: Seiler
 
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