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Informationen zum Dokument  BGer 9C_550/2020  Materielle Begründung
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BGer 9C_550/2020 vom 30.11.2020
 
 
9C_550/2020
 
 
Urteil vom 30. November 2020
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
 
Gerichtsschreiberin Oswald.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dieter Studer,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle Schaffhausen, Oberstadt 9, 8200 Schaffhausen,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 21. Juli 2020 (63/2019/12).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die 1960 geborene, zuletzt vom 9. August 2011 bis zum 28. Februar 2012 zu 50 % als kaufmännische Angestellte tätig gewesene, A.________ meldete sich im August 2012 unter Verweis auf eine starke Arthrose bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Schaffhausen (fortan: IV-Stelle) traf erwerbliche und medizinische Abklärungen. Insbesondere zog sie ein von der Krankentaggeldversicherung veranlasstes Gutachten des Zentrums B.________ vom 23. September 2013 bei und liess die Versicherte durch Prof. Dr. med. C.________ psychiatrisch begutachten (Expertise vom 22. August 2015). Nach einem stationären psychosomatischen Rehabilitationsaufenthalt (Bericht vom 23. November 2016) wurde A.________ bei der Ärztlichen Begutachtungsinstitut GmbH (ABI), Basel, polydisziplinär begutachtet (Expertise vom 22. Januar 2018 in den Fachbereichen Allgemeine Innere Medizin, Psychiatrie, Orthopädie, Neurologie, Rheumatologie und Otorhinolaryngologie). Mit Verfügung vom 26. März 2019 verneinte die IV-Stelle einen Leistungsanspruch (Invaliditätsgrad von 10 %).
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B. Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen mit Entscheid vom 21. Juli 2020 ab.
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C. Die Versicherte führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt, es sei der vorinstanzliche Entscheid vom 21. Juli 2020 aufzuheben und ihr ab 1. März 2013 eine Rente zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache zur Einholung eines Gerichtsgutachtens an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Erwägungen:
 
 
1.
 
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; zum Ganzen vgl. BGE 145 V 57 E. 4 S. 61 f.).
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1.2. Bei den vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit der versicherten Person handelt es sich grundsätzlich um Entscheidungen über Tatfragen, welche das Bundesgericht seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen hat. Die konkrete Beweiswürdigung stellt ebenfalls eine Tatfrage dar. Dagegen ist die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln eine frei überprüfbare Rechtsfrage (statt vieler: BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398 und E. 4.1 S. 399 f.; bestätigt etwa mit Urteil 9C_174/2020 vom 2. November 2020 E. 2.3).
5
 
2.
 
2.1. Ihren Antrag auf Rentenzusprache ab 1. März 2013 begründet die Beschwerdeführerin nicht. Darauf ist nicht einzutreten (Art. 42 Abs. 2 BGG).
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2.2. Der Eventualantrag auf Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Einholung eines Gerichtsgutachtens bezweckt, einen als nicht rechtsgenüglich abgeklärt gerügten Sachverhalt zu vervollständigen und wird in der Beschwerdeschrift begründet. Im Gutheissungsfall könnte nicht reformatorisch entschieden werden, weshalb auf das kassatorische Eventualbegehren einzutreten ist (vgl. etwa zit. Urteil 9C_174/2020 E. 1 mit Hinweisen).
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3. Das Obergericht hat die massgeblichen rechtlichen Grundlagen insbesondere zum im Sozialversicherungsprozess geltenden Untersuchungsgrundsatz (Art. 61 lit. c ATSG) sowie zum Beweiswert und zur Beweiswürdigung ärztlicher Berichte und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis) zutreffend wiedergegeben. Darauf wird verwiesen.
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4. Die Vorinstanz stellte nach einlässlicher Würdigung der medizinischen Akten fest, ausgehend von der beweiskräftigen Expertise des ABI vom 22. Januar 2018 sei bei der Beschwerdeführerin weder eine posttraumatische Belastungsstörung noch eine schwere depressive Problematik mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ausgewiesen. Sie erwog, es liessen sich überdies anhand der Standardindikatoren keine rentenauslösenden funktionellen Einschränkungen objektivieren.
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5. Die Beschwerdeführerin macht im Wesentlichen geltend, das Obergericht habe den Sachverhalt basierend auf dem nicht beweiswertigen Gutachten des ABI unzureichend abgeklärt.
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5.1. Das kantonale Gericht hat die Diagnose eines Morbus Menière in tatsächlicher Hinsicht berücksichtigt und alsdann - gestützt auf das polydisziplinäre ABI-Gutachten - Feststellungen zur körperlichen Leistungsfähigkeit insgesamt, unter Berücksichtigung sämtlicher Beschwerden, getroffen (Zumutbarkeit körperlich sehr leichter, überwiegend sitzender Verrichtungen unter Wechselbelastung ohne Einnahme von Zwangshaltungen oder wiederholtes Überwinden von Treppen und Gehen auf unebenem Grund; aufgrund eines vermehrten Pausenbedarfs mit um 10 % reduzierter Leistung bei ganztägigem Pensum). Der erst im Nachgang zum ABI-Gutachten mit Sicherheit diagnostizierte Morbus Menière äussert sich funktionell - gemäss den bereits im vorinstanzlichen Verfahren eingereichten Berichten der Behandler - primär in episodisch auftretenden Schwindelattacken. Diese wurden im Sinne qualitativer Einschränkungen bereits im ABI-Gutachten berücksichtigt (Ausschluss sturzgefährdender Tätigkeiten). Entgegen der Beschwerdeführerin hat die Vorinstanz den Untersuchungsgrundsatz nicht verletzt, indem sie auf weitere Abklärungen hiezu verzichtet hat, zumal ein Morbus Menière jedenfalls bei einer kaufmännischen Angestellten kaum je ein invalidisierendes Leiden zu begründen vermag.
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5.2. Soweit die Versicherte dem psychiatrischen Teilgutachten des ABI den Beweiswert mit Verweis auf die kurze Gesprächsdauer von 55 Minuten abspricht, legt sie nicht dar, inwiefern der psychiatrische Experte gebotene Tests nicht durchgeführt oder Anamnese, Symptome und Verhalten in der klinischen Untersuchung unzureichend erhoben hätte. Allein aus einer - verhältnismässig - kurzen Dauer der psychiatrischen Exploration (hier: 55 Minuten) ist nicht von vornherein auf eine Sorgfaltswidrigkeit des Gutachters zu schliessen (Urteil 9C_190/2019 vom 14. Mai 2019 E. 3.1). Daran ändert weder die Existenz eines psychiatrischen Vorgutachtens noch die Vielzahl von Differenzialdiagnosen der behandelnden Ärzte etwas, zumal sich der Experte damit grundsätzlich vor der persönlichen Untersuchung der Versicherten auseinanderzusetzen hatte und in seinem Bericht nachvollziehbar begründet hat, welche der im Raum stehenden (Verdachts-) Diagnosen sich aus objektiver Sicht nicht halten liessen (Expertise Ziff. 4.1.7 S. 15). Zum psychiatrischen Vorgutachten des Prof. Dr. med. C.________ bestehen nach - nicht offensichtlich unrichtiger und für das Bundesgericht damit verbindlicher (E. 1.1 hievor) - Feststellung der Vorinstanz diagnostisch keine nennenswerten Diskrepanzen. Wie die Beschwerdeführerin zutreffend erkennt, bedürfte die hier einzig in Frage kommende - sehr seltene - posttraumati sche Belastungsstörung mit spätem Beginn der Störung (d.h. später als mit der nach ICD-10 [F43.1] wenige Wochen bis Monate betragenden Latenzzeit) einer besonderen Begründung (BGE 142 V 342 E. 5.2.2 S. 347 mit Hinweis; Ur teil 9C_548/2019 vom 16. Januar 2020 E.6.3.1). Eine solche ist weder aktenkundig noch dargelegt, genauso wenig wie Bemühungen der behandelnden Psychiater, die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung eingehender zu explorieren. Angesichts dessen ist nicht ersichtlich, weshalb sich eine solche Exploration - bei nota bene bereits jahrelanger psychiatrischer Behandlung - erstmals im Rahmen der Begutachtung aufgedrängt hätte.
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5.3. Die Beschwerdeführerin rügt, Dr. med. D.________ vom Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) habe als Allgemeinmediziner nicht über die notwendigen fachärztlichen Qualifikationen verfügt, um zum psychiatrischen Teilgutachten Stellung zu beziehen. Dieses wäre vielmehr einer RAD-Ärztin oder einem RAD-Arzt mit Facharzttitel in Psychiatrie und Psychotherapie vorzulegen gewesen. Dabei verkennt sie, dass der RAD in ihrem Fall weder einen internen Bericht noch einen Untersuchungsbericht (Art. 49 Abs. 1 bzw. 2 IVV) verfasst hat, in denen er den medizinischen Sachverhalt selber gewürdigt hätte und wofür er der "im Einzelfall gefragten persönlichen und fachlichen Qualifikationen" bedurft hätte (von der Beschwerdeführerin zitiertes Urteil 9C_446/2019 vom 5. September 2019 E. 2.2). Vielmehr hat er eine beratende Funktion gegenüber der Verwaltung ausgeübt (Art. 59 Abs. 2bis IVG; Art. 49 Abs. 3 IVV), konkret: Er hat diese bei der Einschätzung unterstützt, ob die von der Versicherten nach der Begutachtung neu eingelegten Stellungnahmen der behandelnden Ärzte Anlass zu weiteren Abklärungen gaben. Bei seiner Stellungnahme handelte es sich mithin nicht um eine eigenständige medizinische Einschätzung und damit Grundlage für die Beurteilung des Leistungsanspruchs, sondern um eine Hilfestellung an die Verwaltung bei deren Vornahme. Hiefür ist weder eine spezifische fachärztliche Qualifikation des RAD vorausgesetzt, noch besteht auf dessen Stellungnahme zu einem externen Gutachten überhaupt ein Rechtsanspruch der versicherten Person. Die konkrete Beweiswürdigung bleibt vielmehr Aufgabe der Rechtsanwendenden (vgl. statt vieler etwa Urteil 8C_213/2020 vom 19. Mai 2020 E. 4.3), auch wenn sich diese durch den RAD beraten lassen.
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5.4. Schliesslich ist die Kritik der Versicherten an der rückwirkenden Beurteilung der Arbeitsfähigkeit durch die Gutachter des ABI nicht stichhaltig. Der psychiatrische Vorgutachter ermittelte im Jahr 2015 eine Arbeitsunfähigkeit von 20 bis 30 %, die indes bei unbestrittenem Einkommensvergleich auf Basis der selben Tabellenlöhne bei Validen- und Invalideneinkommen ohnehin nicht rentenbegründend zu wirken vermöchte und vom Experten überdies ausdrücklich aufgrund im damaligen Zeitpunkt unzureichender Behandlung als "besserungsfähig" bezeichnet wurde. Fehlen Angaben zu früher bestandenen funktionellen Einschränkungen aus psychiatrischer Sicht in den Akten weitgehend, ist nachvollziehbar, dass die ABI-Gutachter auch retrospektiv eine massgebliche Arbeitsunfähigkeit aus psychischen Gründen nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit attestieren konnten. Gebricht es für einen rückwirkenden Nachweis einer psychisch bedingten massgeblichen Arbeitsunfähigkeit am Tatsachenfundament, wirkt sich die Beweislosigkeit im Sinne der materiellen Beweislast zum Nachteil der Versicherten aus (etwa: BGE 145 V 361 E. 3.2.2 i.f. mit Hinweisen). Es erübrigt sich die Einholung eines medizinischen Gerichtsgutachtens, zumal nicht ersichtlich ist, auf welcher tatsächlichen Grundlage dieses zu neuen Erkenntnissen gelangen sollte.
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5.5. Zusammenfassend vermag die Versicherte nicht aufzuzeigen, inwiefern die vorinstanzlichen Feststellungen bezüglich ihres Gesundheitszustandes und ihrer Arbeitsfähigkeit offensichtlich unrichtig oder sonstwie bundesrechtswidrig sein sollten (oben E. 1.2).
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6. Die Beschwerde ist nach dem Gesagten unbegründet.
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7. Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Schaffhausen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 30. November 2020
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Die Gerichtsschreiberin: Oswald
 
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