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Informationen zum Dokument  BGer 8C_586/2020  Materielle Begründung
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BGer 8C_586/2020 vom 30.11.2020
 
 
8C_586/2020
 
 
Urteil vom 30. November 2020
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
 
Gerichtsschreiber Grunder.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
ÖKK Kranken- und Unfallversicherungen AG,
 
Bahnhofstrasse 13, 7302 Landquart,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter Philipp,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Unfallversicherung (Unfallbegriff),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 31. Juli 2020 (UV.2019.00172).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Der 1989 geborene A.________ war ab 8. Oktober 2018 bei der Arbeitsvermittlungsfirma B.________ GmbH als Elektromonteur angestellt und dadurch bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) gegen die Folgen von Unfällen obligatorisch versichert. Am 17. Oktober 2018 nahm er eine Wandbohrung vor, wobei sich der Bohrer verkeilte und das rechte Handgelenk des Versicherten verdreht wurde. Die radiologische Untersuchung ergab eine Ruptur der ulnaren Anteile des Diskus triangularis sowie ein periartikuläres Weichteilganglion im ventralen Bereich des Radiokarpalgelenkes (Bericht des Röntgeninstituts C.________ vom 6. November 2018). Diese Verletzungen mussten chirurgisch versorgt werden (Operationsbericht der Dr. med. D.________, Fachärztin FMH für Chirurgie und Handchirurgie, Klinik E.________, vom 10. Dezember 2018). Mit Verfügung vom 25. Februar 2019 eröffnete die Suva dem Versicherten und der ÖKK Kranken- und Unfallversicherung AG (ÖKK), aus dem geschilderten Sachverhalt sowie den medizinischen Akten gehe hervor, dass die gesundheitlichen Beschwerden weder auf einen Unfall noch auf eine unfallähnliche Körperschädigung zurückzuführen seien, weshalb keine Leistungen aus der obligatorischen Unfallversicherung erbracht werden könnten. Die hiegegen erhobenen Einsprachen wies sie ab (Einspracheentscheid vom 12. Juni 2019).
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B. Die ÖKK führte beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich Beschwerde und beantragte, A.________ seien die Leistungen aus der obligatorischen Unfallversicherung im Zusammenhang mit dem Ereignis vom 17. Oktober 2018 zuzusprechen. Mit Entscheid vom 31. Juli 2020 wies das kantonale Gericht die Beschwerde ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt die ÖKK das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren wiederholen.
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Die Suva schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren beanstandeten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem sie das Ereignis vom 17. Oktober 2017 nicht als Unfall im Sinne des in Art. 4 ATSG definierten Unfallbegriffs qualifiziert hat. Prozessthema bildet dabei die Frage, ob das Merkmal der Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors gegeben sei. Die Vorinstanz hat die dabei zu beachtenden Rechtsgrundlagen zutreffend dargestellt (vgl. BGE 134 V 72 E. 2.2 S. 74 und E. 4 S. 76 ff.; 129 V 402 E. 2.1 S. 404), worauf verwiesen wird.
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3.
 
3.1. Das kantonale Gericht hat zunächst die Auskünfte des Versicherten zum Hergang des Ereignisses zitiert. Danach habe er bei einem Küchenumbau Kernbohrungen für neue Elektrodosen (Steckdosenanschlüsse) ausführen müssen. Er habe auf einer kurzen Bockleiter stehend und mit der schweren Elektrobohrmaschine der Marke Bosch, die mit einem Bohraufsatz von einem Durchmesser von 83 mm bestückt gewesen sei, eine Kernbohrung über Kopf machen müssen. Er habe die Maschine mit der rechten Hand gehalten, geführt und gegen die Wand gedrückt. Plötzlich habe sich der Bohraufsatz in der Mauer verhakt (eventuell wegen eines Betoneisens). Durch die hohe Drehzahl und die damit verbundene Wucht der Bohrmaschine habe sich diese unerwartet gedreht. Dabei sei sein rechtes Handgelenk verdreht worden und er habe sich erhebliche Verletzungen zugezogen. Mit der linken Hand habe er sich an der Bockleiter festgehalten.
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In rechtlicher Hinsicht hat die Vorinstanz erwogen, die vom Versicherten ausgeführte Bewegung (Vornahme einer Kernbohrung) sei als solche für ihn nicht ungewöhnlich gewesen, auch wenn er sie auf einer Bockleiter stehend über Kopf habe vornehmen müssen. Es sei für ihn als gelernter und erfahrener Elektromonteur durchaus alltäglich gewesen, dass er beim Bohren in eine Betonwand auf Armierungseisen, Leitungen oder Nägel habe stossen können. Darin sei nichts Programmwidriges zu sehen. In diesem Zusammenhang hat das kantonale Gericht den Vergleich mit dem von der ÖKK zitierten Urteil 8C_36/2013 des Bundesgerichts vom 14. Januar 2014 nicht gelten lassen. Danach habe die versicherte Person mit einem "marteau-piqueur", dessen Meissel blockiert worden sei, gearbeitet. Ein Druck- oder Presslufthammer weise nicht nur ein ungleich schwereres Gewicht auf als eine übliche Bohrmaschine, sondern bringe auch eine viel stärkere Schlageinwirkung auf die damit arbeitende Person mit sich. Diese müsse zur Bedienung des Geräts denn auch beide Hände einsetzen und könne damit nicht über Kopf arbeiten. Da der im vorliegenden Fall verwendete durchschnittliche Bohrschrauber der Marke Bosch viel kleiner und selbst beim Arbeiten über Kopf sowie auf einer Leiter stehend gut kontrollierbar sei, könne beim Auftreffen des Bohrkopfes auf eine Eisenarmierung nicht von einer programmwidrigen Beeinflussung des natürlichen Bewegungsablaufs gesprochen werden. Abschliessend sei festzuhalten, dass aus den erlittenen Verletzungen des Versicherten (Ruptur der ulnaren Anteile des Diskus triangularis rechts sowie ein periartikuläres Weichteilganglion im ventralen Bereich des Radiokarpalgelenkes rechts) rechtsprechungsgemäss keine Ungewöhnlichkeit hergeleitet werden könne.
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3.2. Die ÖKK bringt vor, der Versicherte sei auf der Leiter stehend in instabiler Haltung beim Bohren auf Widerstand gestossen, wobei er die Bohrmaschine nicht mehr habe kontrollieren können. Dass er sich beim Bohren mit der linken Hand an der Bockleiter zur Stabilisierung seiner Körperhaltung habe festhalten müssen, bleibe im angefochtenen Entscheid unberücksichtigt. Ebenso thematisiere die Vorinstanz nicht, dass er die Bohrmaschine gerade wegen seiner instabilen Haltung nicht mehr habe kontrollieren können und sein rechtes Handgelenk deswegen verdreht worden sei.
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3.3. Nach der Rechtsprechung kann das Merkmal des ungewöhnlichen äusseren Faktors in einer unkoordinierten Bewegung bestehen. Bei Körperbewegungen gilt dabei der Grundsatz, dass das Erfordernis der äusseren Einwirkung lediglich dann erfüllt ist, wenn ein in der Aussenwelt begründeter Umstand den natürlichen Ablauf einer Körperbewegung gleichsam "programmwidrig" beeinflusst hat. Bei einer solchen unkoordinierten Bewegung ist der ungewöhnliche äussere Faktor zu bejahen; denn der äussere Faktor - Veränderung zwischen Körper und Aussenwelt - ist wegen der erwähnten Programmwidrigkeit zugleich ein ungewöhnlicher Faktor (BGE 130 V 117 E. 2.1 S. 118 mit Hinweisen).
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3.4. Diese in erster Linie zu Geschehen im Körperinnern ergangene Rechtsprechung wurde vom Bundesgericht auch in dem von der ÖKK im kantonalen Verfahren zitierten Urteil 8C_36/2013 vom 14. Januar 2014 E. 4 f. angeführt. Der damals betroffen gewesene Versicherte sollte als Elektriker mit einem "marteau-piqueur" (Presslufthammer), ein Loch in eine Wand fräsen. Dabei wurde das Bohreisen ("mèche") in der Mauer plötzlich blockiert. Die durch die Wucht der sich nunmehr drehenden Maschine ergebende heftige Bewegung auf den rechten Arm waren vom Betroffenen nicht zu kontrollieren gewesen. Daher war das Geschehen als programmwidrig und der evidente äussere Faktor zugleich als ungewöhnlich zu bezeichnen.
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Nichts anderes ist im vorliegenden Fall anzunehmen: Das vom Versicherten verwendete Gerät mag zwar geringeres Gewicht aufgewiesen haben. Allerdings stand dieser beim Bohrvorgang nicht auf sicherem Boden, sondern auf einer Bockleiter, wo er zudem das Gerät allein mit der rechten Hand über Kopf handhaben musste. Diese erschwerten Bedingungen trugen mit dazu bei, dass die beim Bohrvorgang am Gemäuer unter Kraftaufwand zu führende Maschine, indem sie auf ein Hindernis stiess, ausser Kontrolle geriet und dementsprechend auf den Körper des Versicherten einwirkte. Daher ist nicht einzusehen, weshalb der vorliegende Fall anders als der im zitierten Urteil 8C_36/2013 beurteilte zu entscheiden ist. Die Beschwerde ist gutzuheissen.
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4.
 
4.1. Die Gerichtskosten sind der Suva als unterliegender Partei aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
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4.2. Die ÖKK lässt beantragen, ihr sei eine Prozessentschädigung zuzusprechen. Gemäss Art. 68 Abs. 2 BGG wird die unterliegende Partei in der Regel verpflichtet, der obsiegenden Partei nach Massgabe des Tarifs des Bundesgerichts alle durch den Rechtsstreit verursachten notwendigen Kosten zu ersetzen. Bund, Kantonen und Gemeinden sowie mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen wird in der Regel keine Parteientschädigung zugesprochen, wenn sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis obsiegen (Abs. 3). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz liegt nicht vor. Daher hat die ÖKK als obligatorische Krankenversicherung keinen Anspruch auf Parteientschädigung.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 31. Juli 2020 und der Einspracheentscheid der Suva vom 12. Juni 2019 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die Suva zurückgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 3000.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3. Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, V. Kammer, A.________, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 30. November 2020
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Der Gerichtsschreiber: Grunder
 
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