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Informationen zum Dokument  BGer 6B_1030/2020  Materielle Begründung
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BGer 6B_1030/2020 vom 30.11.2020
 
 
6B_1030/2020
 
 
Urteil vom 30. November 2020
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, Präsident,
 
Bundesrichter Muschietti,
 
Bundesrichterin Koch,
 
Gerichtsschreiber Matt.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Nicolas von Wartburg,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8090 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Unrechtmässiger Bezug von Leistungen einer Sozialversicherung oder Sozialhilfe (Art. 148a StGB); Landesverweisung; rechtliches Gehör,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 10. Juli 2020 (SB190570-O/U/cwo).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
Am 2. Oktober 2019 verurteilte das Bezirksgericht Zürich A.________ wegen unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe zu 120 Tagen Freiheitsstrafe und verwies ihn für 5 Jahre des Landes. Das von A.________ angerufene Obergericht des Kantons Zürich bestrafte ihn am 10. Juli 2020 mit 115 Tagen Freiheitsstrafe, teilweise als Zusatzstrafe zu einer Freiheitsstrafe von 20 Tagen gemäss Strafbefehl vom 12. Juni 2018. Es bestätigte ausserdem den Widerruf des bedingten Vollzugs einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen gemäss Strafbefehl vom 18. August 2017 und die Landesverweisung von 5 Jahren.
1
 
B.
 
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________, er sei wegen unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe in einem leichten Fall mit einer Busse zu bestrafen. Von der Landesverweisung sei abzusehen. Eventualiter sei die Sache unter Wahrung des rechtlichen Gehörs zur Neubeurteilung an das Obergericht zurückzuweisen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
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Erwägungen:
 
 
1.
 
Der Beschwerdeführer macht geltend, es liege ein leichter Fall von unrechtmässigem Sozialhilfebezug gemäss Art. 148a Abs. 2 StGB, statt des von der Vorinstanz angenommenen Art. 148a Abs.1 StGB, vor, was die Vorinstanz nicht hinreichend prüfe. Den Sachverhalt bestreitet er nicht (Beschwerde S. 5 ff.).
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1.1.
 
1.1.1. Nach Art. 148a StGB macht sich des unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe schuldig, wer jemanden durch unwahre oder unvollständige Angaben, durch Verschweigen von Tatsachen oder in anderer Weise irreführt oder in einem Irrtum bestärkt, sodass er oder ein anderer Leistungen einer Sozialversicherung oder Sozialhilfe bezieht, die ihm oder dem andern nicht zustehen (Abs. 1). In leichten Fällen ist die Strafe Busse (Abs. 2).
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1.1.2. Nach der Botschaft zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes (Botschaft vom 26. Juni 2013; BBl 2013 6039) ist Art. 148a StGB als 
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"Ein solches passives Verhalten ist etwa dort gegeben, wo jemand die Meldung unterlässt, dass sich seine Lage verändert beziehungsweise verbessert hat ("On observe un tel comportement passif lorsque quelqu'un omet de signaler que sa situation s'est améliorée par exemple" [Message FF 2013 5373 5432]; "Tale comportamento passivo è ad esempio dato quando qualcuno omette di comunicare un cambiamento o un miglioramento della sua situazione" [Messaggio FF 2013 5163 5222]). Die kantonalen Sozialhilfegesetze auferlegen einer um Sozialhilfe ersuchenden Person die Pflicht, vollständig und wahrheitsgetreu Auskunft über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu geben. Der Betreffende muss Unterlagen vorlegen, welche zur Abklärung der Situation erforderlich sind und eine Änderung der Verhältnisse unverzüglich melden. Es stellt einen klassischen Fall des unrechtmässigen Leistungsbezugs dar, dass durch unwahre oder unvollständige Angaben, Verschweigen oder Verheimlichen von Tatsachen eine in Wahrheit nicht bestehende Notsituation vorgetäuscht wird" (Botschaft, a.a.O., 6037 f.).
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Die Tatbestandsvariante des "Verschweigens" umfasst somit nach der Botschaft auch das passive Verhalten durch Unterlassen der Meldung einer veränderten bzw. verbesserten Lage. Art. 148a StGB erfasst demnach erstens das Handeln (unwahre oder unvollständige Angaben machen) und zweitens das Unterlassen (Verschweigen von Tatsachen). Im Unterschied zum Betrug setzt das Verschweigen von Tatsachen nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung keine Garantenstellung im Sinne eines unechten Unterlassungsdelikts voraus. Da nach dem Gesetz alle leistungsrelevanten Tatsachen gemeldet werden müssen, genügt zur Tatbestandserfüllung die blosse Nichtanmeldung geänderter Verhältnisse. Als Verschweigen gilt daher nicht nur die unterlassene Mitteilung auf aktives Nachfragen der Leistungserbringer (vgl. Urteil 6B_1033/2019 vom 4. Dezember 2019 E. 4.5.2 f. und E. 4.5.5 f.).
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1.1.3. Für die Frage, ob ein leichter Fall im Sinne von Art. 148a Abs. 2 StGB vorliegt, ist nicht allein auf einen bestimmten Grenzbetrag als Abgrenzungskriterium abzustellen (so etwa Empfehlungen der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz [SSK] betreffend die Ausschaffung verurteilter Ausländerinnen und Ausländer [Art. 66a bis 66d StGB] vom 24. November 2016: Grenzbetrag von Fr. 3'000.--; vgl. MATTHIAS JENAL, in: Basler Kommentar, Strafrecht II, 4. Aufl. 2018, N 22 zu Art. 148a StGB; vgl. auch GARBARSKI/BORSODI, in: Commentaire romand, Code pénal II, 2017, N 33 zu Art. 148a StGB). Ein Grenzbetrag kann, in welcher Höhe auch immer, nur im Sinne einer Erheblichkeitsschwelle bedeutsam sein. Da der Gesetzgeber der bundesrätlichen Fassung von Art. 148a StGB folgte, hat die Botschaft besondere Bedeutung für die Interpretation dieses Tatbestandes. Danach sind - neben dem Betrag der unrechtmässig bezogenen Sozialleistung, d.h. dem Ausmass des verschuldeten Erfolgs - weitere Elemente (vgl. Art. 47 StGB) zu beachten, die das Verschulden des Täters "herabsetzen" können (Botschaft a.a.O., 6039). Dies kann etwa die (kurze) Zeit des unrechtmässigen Leistungsbezugs sein. Abgesehen von Fällen mit einem geringen Betrag, sah der Gesetzgeber vor allem dann einen leichten Fall für gegeben, wenn das Verhalten des Täters nur eine geringe kriminelle Energie offenbart oder seine Beweggründe und Ziele nachvollziehbar sind (vgl. Urteil 6B_1161/2019 vom 13. Oktober 2020 E. 1.2).
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1.2. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass er von Januar 2018 bis August 2018 Sozialhilfe bezogen hat, obwohl er aufgrund des Widerrufs seiner Niederlassungsbewilligung per 31. Dezember 2017 aus der Schweiz weg gewiesen worden war. Er bestreitet auch nicht, auf diese Weise rund Fr. 23'000.-- Sozialhilfe zu Unrecht erhalten zu haben. Mithin ist von einem Deliktsbetrag auszugehen, welcher die Erheblichkeitsschwelle eines leichten Falls weit überschreitet. Auch die Deliktsdauer von acht Monaten ist nicht unerheblich. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers vermag es ihn unter Verschuldensgesichtspunkten kaum zu entlasten, dass er keine aktiven Falschangaben über seinen Aufenthaltsstatus gemacht und namentlich keine falschen Urkunden vorgelegt hat, um den Sozialdienst zu täuschen. Gemäss seinen eigenen Angaben stand er auch nach dem 31. Dezember 2017 in ständigem Austausch mit seinem Sozialberater. Er hat diesem gegenüber somit wiederholt während recht langer Zeit für seinen Anspruch wesentliche Tatsachen verschwiegen. Dass der Berater seit Frühjahr 2016 Kenntnis vom laufenden Verfahren betreffend Widerruf der Niederlassungsbewilligung hatte, ist in diesem Zusammenhang ohne Belang, zumal damals noch keine relevanten Änderungen in der Anspruchsberechtigung eingetreten waren, und der Beschwerdeführer unbestrittenermassen verpflichtet war, eine Änderung der Verhältnisse zeitnah mitzuteilen. Demgegenüber mussten sich die Behörden nicht aktiv beim Beschwerdeführer über den Stand eines langwierigen Verfahrens erkundigen. Ebenso wenig ist ihnen vorzuwerfen, dass sie ihm keine Auflage machten, wonach er den endgültigen Abschluss des ausländerrechtlichen Verfahrens - eine vom Beschwerdeführer von Gesetzes wegen zu meldende Tatsache - mitzuteilen habe. Auch der Einwand, er sei davon ausgegangen, dass das Sozialamt mit den Migrationsdiensten in Kontakt stünde und so von der Wegweisung erfahren würde, lässt das Verschulden des Beschwerdeführers nicht in einem milden Licht erscheinen. Dass dies offensichtlich nicht der Fall war und es an ihm gewesen wäre, dem Sozialamt den Verfahrensabschluss mitzuteilen, muss dem Beschwerdeführer spätestens Anfang 2018 bewusst geworden sein. Dennoch wartete er bis am 19. Juli Juli 2018 zu, bevor er seinen Sozialberater über die definitive Wegweisung per 31. Dezember 2017 informierte. Dieses Verhalten ist nicht nachvollziehbar. Ebenso wenig kann daraus, entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers, geschlossen werden, dass er die Behörden nicht bewusst irreführen wollte, um zu Unrecht Sozialhilfe zu beziehen. Auch trifft die Behörden wie gesagt keine das Verschulden des Beschwerdeführers mildernde Mitverantwortung. Daran ändert nichts, dass sein Sozialberater offenbar intern gerügt wurde. Der Beschwerdeführer scheint mit seinem Hinweis auf die Opfermitverantwortung zu verkennen, dass Art. 148a StGB lediglich die nicht arglistig-kausale Täuschung erfasst, während die arglistige Täuschung im Bereich des Sozialrechts weiterhin unter den Tatbestand des Betrugs fällt (vgl. Urteil 6B_1033/2019 vom 4. Dezember 2019 E. 4.5.3).
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Von einem geringen Verschulden oder äusserst geringer krimineller Energie kann somit nicht gesprochen werden. Die Vorinstanz verletzt kein Bundesrecht, wenn sie den Grundtatbestand (Art. 148a Abs. 1 StGB) zur Anwendung bringt. Auch eine Verletzung der Begründungspflicht ist nicht ersichtlich. Die Vorinstanz nennt vielmehr die wesentlichen Überlegungen, von denen sie sich hat leiten lassen und auf die sie ihren Entscheid stützt. Dies gilt auch für die Umstände, aufgrund derer sie einen leichten Fall im Sinne von Art. 148a Abs. 2 StGB verneint.
10
 
2.
 
Der Beschwerdeführer bestreitet die Rechtmässigkeit der Landesverweisung einzig mit dem Vorliegen eines leichten Falls von unrechtmässigem Sozialhilfebezug. Bei diesem Ergebnis ist auf die Landesverweisung nicht einzugehen.
11
 
3.
 
Die Beschwerde ist abzuweisen. Ausgangsgemäss hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen, da sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege aussichtslos ist. Seinen finanziellen Verhältnissen ist bei der Kostenfestsetzung Rechnung zu tragen (Art. 64, Art. 65 Abs. 1 und 2, Art. 66 Abs. 1 BGG).
12
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3. Der Beschwerdeführer trägt die Gerichtskosten von Fr. 1'200.--.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 30. November 2020
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Denys
 
Der Gerichtsschreiber: Matt
 
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