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Informationen zum Dokument  BGer 1C_456/2020  Materielle Begründung
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BGer 1C_456/2020 vom 26.11.2020
 
 
1C_456/2020
 
 
Urteil vom 26. November 2020
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Chaix, Präsident,
 
Bundesrichter Haag, Müller,
 
Gerichtsschreiber Härri.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Bundesamt für Justiz,
 
Direktionsbereich Internationale Rechtshilfe,
 
Bundesrain 20, 3003 Bern,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
A.________,
 
Beschwerdegegner,
 
vertreten durch die Rechtsanwälte
 
Dr. Simone Nadelhofer, Sandrine Giroud,
 
Dominik Elmiger und Dr. Cédric Marti.
 
Gegenstand
 
Auslieferung an Russland,
 
Beschwerde gegen den Entscheid
 
des Bundesstrafgerichts, Beschwerdekammer,
 
vom 19. August 2020 (RR.2020.51 + RR.2020.30).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Am 15. April 2015 ersuchte die Generalstaatsanwaltschaft der russischen Föderation die Schweiz um Auslieferung des russischen und britischen Staatsangehörigen A.________ zur Strafverfolgung wegen Machtmissbrauchs. Sie wirft ihm vor, er habe als Rektor einer Universität zwischen 2003 und 2007 mehrere Wohnungen, die dieser gehört hätten, aus der Buchhaltung entfernt und zu seiner Bereicherung verkauft.
1
Am 20. Januar 2020 bewilligte das Bundesamt für Justiz (im Folgenden: Bundesamt) die Auslieferung, nachdem das Bundesstrafgericht (Beschwerdekammer) die Angelegenheit zweimal zur Vervollständigung des Sachverhalts an es zurückgewiesen hatte. Das Bundesamt fällte seinen Entscheid unter Vorbehalt desjenigen des Bundesstrafgerichts über die Einrede des politischen Delikts nach Art. 55 Abs. 2 IRSG. Gleichentags beantragte das Bundesamt dem Bundesstrafgericht die Ablehnung dieser Einrede.
2
Die von A.________ erhobene Beschwerde hiess das Bundesstrafgericht am 19. August 2020 gut. Es hob den Entscheid des Bundesamtes vom 20. Januar 2020 auf und lehnte die Auslieferung ab. Das Verfahren betreffend Einrede des politischen Delikts schrieb das Bundesstrafgericht als gegenstandslos geworden ab.
3
B. Das Bundesamt führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, den Entscheid des Bundesstrafgerichts aufzuheben.
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C. Das Bundesstrafgericht hat unter Hinweis auf seinen Entscheid, an dessen Begründung es festhält, auf Gegenbemerkungen verzichtet. A.________ hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, auf die Beschwerde nicht einzutreten. Eventualiter sei sie abzuweisen. Subeventualiter sei das Verfahren zur neuen Entscheidung an das Bundesstrafgericht zurückzuweisen. Das Bundesamt hat eine Replik eingereicht, A.________ eine Duplik.
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Erwägungen:
 
1. Das Bundesamt verlangt lediglich die Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Es beschränkt sich somit auf einen kassatorischen Antrag. Das ist im bundesgerichtlichen Verfahren grundsätzlich unzulässig (BGE 137 II 313 E. 1.3 S. 317 mit Hinweisen). Ob bereits aus diesem Grund auf die Beschwerde nicht eingetreten werden kann, kann aus folgenden Erwägungen offenbleiben.
6
 
2.
 
2.1. Gemäss Art. 84 BGG ist gegen einen Entscheid auf dem Gebiet der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen die Beschwerde nur zulässig, wenn er unter anderem eine Auslieferung betrifft und es sich um einen besonders bedeutenden Fall handelt (Abs. 1). Ein besonders bedeutender Fall liegt insbesondere vor, wenn Gründe für die Annahme bestehen, dass elementare Verfahrensgrundsätze verletzt worden sind oder das Verfahren im Ausland schwere Mängel aufweist (Abs. 2).
7
Art. 84 BGG bezweckt die wirksame Begrenzung des Zugangs zum Bundesgericht im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen. Ein besonders bedeutender Fall ist mit Zurückhaltung anzunehmen (BGE 139 II 340 E. 4 S. 342 f.). Ein solcher kann auch bei einer Auslieferung nur ausnahmsweise bejaht werden. In der Regel stellen sich insoweit keine Rechtsfragen, die der Klärung durch das Bundesgericht bedürfen, und kommt den Fällen auch sonst wie keine besondere Tragweite zu (BGE 145 IV 99 E. 1.2 S. 104 f.; 134 IV 156 E. 1.3.4 S. 161).
8
Gemäss Art. 42 Abs. 2 BGG ist in der Begründung der Beschwerde in gedrängter Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid Recht verletzt. Ist eine Beschwerde nur unter der Voraussetzung zulässig, dass ein besonders bedeutender Fall vorliegt, so ist auszuführen, warum diese Voraussetzung erfüllt ist.
9
Nach Art. 109 BGG entscheidet die Abteilung in Dreierbesetzung über Nichteintreten auf Beschwerden, bei denen kein besonders bedeutender Fall vorliegt (Abs. 1). Der Entscheid wird summarisch begründet. Es kann ganz oder teilweise auf den angefochtenen Entscheid verwiesen werden (Abs. 3).
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2.2. Zwar geht es hier um eine Auslieferung und damit um ein Sachgebiet, bei dem die Beschwerde nach Art. 84 Abs. 1 BGG insoweit möglich ist. Nach der zutreffenden Ansicht des Beschwerdegegners handelt es sich jedoch um keinen besonders bedeutenden Fall. Was das Bundesamt vorbringt, ist nicht geeignet, einen solchen darzutun.
11
2.3. Die Vorinstanz hat die Auslieferung abgelehnt in reziproker Anwendung des russischen Vorbehalts zu Art. 1 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 (EAUe; SR 0.353.1). Dieser lautet:
12
"In accordance with Article 1 of the Convention the Russian Federation shall reserve the right to refuse extradition: (...) c. based on the considerations of humanity, when there are grounds for supposing that the extradition of the person can seriously affect him due to his old age or state of health."
13
Die Vorinstanz kam in Würdigung eines amtlichen Gutachtens zum Schluss, der Gesundheitszustand des heute 75-jährigen Beschwerdegegners, der an Parkinson mit einer schweren Depression und demenziellen Entwicklung leidet, stehe der Auslieferung entgegen.
14
Bei der reziproken Anwendung des russischen Vorbehalts stützt sich die Vorinstanz auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung. Danach kann die Schweiz dem ersuchenden Staat einen von diesem angebrachten Vorbehalt entgegenhalten, und zwar auch dann, wenn sie selber keinen entsprechenden Vorbehalt formuliert hat und insoweit die Auslieferung in weiterem Umfang gewährte. Die Schweiz verfügt insoweit über einen Ermessensspielraum (BGE 129 II 100 E. 3.2 S. 102 f.; Urteile 1A.139/2005 vom 15. Juni 2005 E. 3.1; 1A.262/2004 vom 7. Dezember 2004 E. 4.1; je mit Hinweisen). Das Bundesamt bringt nichts vor, was es rechtfertigen könnte, auf diese Rechtsprechung zurückzukommen. Einer Klärung der Rechtslage bedarf es nicht. Bei der Beurteilung, ob die gesundheitlichen Probleme des Beschwerdegegners derart schwer wiegen, dass sich die Ablehnung der Auslieferung rechtfertigt, geht es um die Würdigung des Einzelfalles ("cas d'espèce"). Eine solche rechtfertigt keine Einstufung als besonders bedeutender Fall.
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2.4. Das Bundesamt hält dafür, es stellte eine Grundsatzfrage dar, ob die Vorinstanz es hätte dazu anhalten dürfen, den Gesundheitszustand des Beschwerdegegners in Anwendung der Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 4. Dezember 1947 über den Bundeszivilprozess (BZP; SR 273) abzuklären.
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Gemäss Art. 12 Abs. 1 Satz 1 IRSG wenden, wenn dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, die Bundesverwaltungsbehörden das Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG; SR 172.021) an. Nach Art. 12 VwVG stellt die Behörde den Sachverhalt von Amtes wegen fest und bedient sich nötigenfalls folgender Beweismittel: (...) Gutachten von Sachverständigen (lit. e). Gemäss Art. 19 VwVG finden auf das Beweisverfahren ergänzend unter anderem die Artikel 43-61 BZP sinngemäss Anwendung. Art. 57-61 BZP betreffen die Begutachtung durch Sachverständige. Diese Bestimmungen regeln die Aufgabe des Sachverständigen (Art. 57), seine Ernennung (Art. 58), seine Pflichten (Art. 59), sein Gutachten (Art. 60) und seine Entschädigung (Art. 61). Inwiefern die Vorinstanz diese Bestimmungen bundesrechtswidrig angewandt haben soll, legt das Bundesamt nicht dar und ist nicht erkennbar. Im Übrigen ist nicht auszumachen, was sich für das Bundesamt geändert hätte, wenn die Bestimmungen eines anderen Bundesgesetzes zur Begutachtung anwendbar gewesen wären. Die entsprechenden Bestimmungen decken sich in der Sache im Wesentlichen mit jenen des BZP (vgl. Art. 182 ff. StPO und Art. 183 ff. ZPO). Bei einer Begutachtung sind zudem die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beachten, namentlich der Anspruch der Parteien auf gerechte Behandlung und rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 1 f. BV), was zusätzlich zu einer Angleichung der Verfahren führt. In Anbetracht dessen sind die Vorbringen des Bundesamtes auch im vorliegenden Punkt ungeeignet, einen besonders bedeutenden Fall darzutun.
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2.5. Eine unzureichende Begründung ihres Entscheids kann der Vorinstanz entgegen der Ansicht des Bundesamtes nicht vorgeworfen werden. Die Vorinstanz legt eingehend und nachvollziehbar dar, weshalb sie die Auslieferung ablehnt. Wenn sie sich auf die wesentlichen Gesichtspunkte beschränkt hat, ist das nicht zu beanstanden (BGE 143 III 65 E. 5.2 S. 70 f.; 139 IV 179 E. 2.2 S. 183; je mit Hinweisen).
18
2.6. Dass sonst wie Gründe dafür bestehen könnten, den vorliegenden Fall als besonders bedeutend einzustufen, macht das Bundesamt nicht geltend und ist nicht ersichtlich.
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3. Die Beschwerde ist demnach unzulässig.
20
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Die Eidgenossenschaft (Bundesamt für Justiz) hat dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 f. BGG).
21
4. Das vorliegende Urteil wird unter Anonymisierung des Namens des Beschwerdegegners in der bundesgerichtlichen Datenbank veröffentlicht. Ebenso erfolgt die öffentliche Auflage des Dispositivs (Art. 59 Abs. 3 BGG) unter Anonymisierung des Namens des Beschwerdegegners. Damit wird seinem Geheimhaltungsinteresse hinreichend Rechnung getragen. Die von ihm beantragte weitergehende Anonymisierung und "Verallgemeinerung" des Urteils ist abzulehnen. Sie wäre dessen Verständlichkeit abträglich und ohnehin zwecklos, da die Vorinstanz den angefochtenen Entscheid, der namentlich den Deliktsvorwurf und die Einzelheiten zum Verfahren enthält, in ihrer Datenbank einzig unter Anonymisierung des Namens des Beschwerdegegners veröffentlicht hat.
22
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
 
2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3. Die Eidgenossenschaft (Bundesamt für Justiz) hat dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung von Fr. 4'000.-- zu bezahlen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bundesstrafgericht, Beschwerdekammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 26. November 2020
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Chaix
 
Der Gerichtsschreiber: Härri
 
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