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Informationen zum Dokument  BGer 5A_768/2020  Materielle Begründung
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BGer 5A_768/2020 vom 23.11.2020
 
 
5A_768/2020
 
 
Urteil vom 23. November 2020
 
 
II. zivilrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Herrmann, Präsident,
 
Bundesrichter von Werdt, Schöbi,
 
Gerichtsschreiber Sieber.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Angelo Schwizer,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Kantonsgericht von Graubünden, I. Zivilkammer, Poststrasse 14, 7002 Chur,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Rechtsverweigerung / Rechtsverzögerung (Eheschutz),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts von Graubünden, I. Zivilkammer, (ZK1 19 3).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. B.________ und A.________ (Beschwerdeführer) heirateten im Jahr 2002. Sie sind die Eltern von C.________ (geb. 2004), D.________ (geb. 2007) und E.________ (geb. 2011). Seit dem 15. Juni 2017 leben die Eheleute getrennt.
1
A.b. In dem ebenfalls im Juni 2017 anhängig gemachten Eheschutzverfahren sind namentlich die Betreuung der Kinder, das Besuchsrecht des Vaters und der Kindesunterhalt strittig. Mit Entscheid vom 6. Dezember 2018 regelte das Regionalgericht Engiadina Bassa/Val Müstair das Getrenntleben, wobei es insbesondere die drei Mädchen unter die Obhut der Mutter stellte und dem Vater im Sinne einer Minimalgarantie ein Besuchsrecht von einem Tag alle zwei Wochen sowie das Recht auf telefonische Kontakte einräumte.
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A.c. Seit dem 17. Juni 2019 ist vor dem Regionalgericht Maloja das Scheidungsverfahren hängig.
3
 
B.
 
B.a. Gegen den Eheschutzentscheid vom 6. Dezember 2018 reichte A.________ Berufung beim Kantonsgericht von Graubünden ein und beantragte, ihm sei unter Anpassung der Unterhaltsregelung die Obhut über die Kinder und eventuell ein übliches Besuchs- und Ferienrecht einzuräumen (Verfahren ZK1 19 3). Am 12. April 2019 ersuchte A.________ ausserdem vorsorglich um Regelung des persönlichen Verkehrs während des Berufungsverfahrens (Verfahren ZK1 19 66).
4
B.b. Nach mehrmaliger Abmahnung beim Kantonsgericht erhob A.________ am 20. Februar 2020 in beiden Verfahren beim Bundesgericht Beschwerde wegen Rechtsverzögerung. Während das Bundesgericht die Beschwerde bezüglich des Verfahrens ZK1 19 3 guthiess und das Kantonsgericht zu möglichst raschem Entscheid anhielt (Urteil 5A_152/2020 vom 7. April 2020), schrieb es im Verfahren ZK1 19 66 die Beschwerde als gegenstandslos geworden ab, da das Kantonsgericht zwischenzeitlich entschieden hatte (Urteil 5A_153/2020 vom 2. April 2020).
5
B.c. Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 20. März 2020 gelangte A.________ gegen den Entscheid über die vorsorglichen Massnahmen während des Berufungsverfahrens ans Bundesgericht. Das Bundesgericht hob das Urteil des Kantonsgerichts auf und wies die Sache an dieses zurück (Urteil 5A_229/2020 vom 13. Juli 2020). Am 26. August 2020 entschied das Kantonsgericht erneut über das Gesuch um Erlass vorsorglicher Massnahmen (Verfahren ZK1 20 97), wogegen A.________ am 16. September 2020 erneut Beschwerde in Zivilsachen einreichte (Verfahren 5A_767/2020).
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C. Ebenfalls am 16. September 2020 gelangt A.________ im Eheschutzverfahren mit neuerlicher Rechtsverzögerungsbeschwerde ans Bundesgericht und beantragt, das Kantonsgericht sei anzuweisen, das Verfahren ZK1 19 3 ohne jeden weiteren Verzug an die Hand zu nehmen und unverzüglich der notwendigen Entscheidung zuzuführen. Ausserdem sei das Kantonsgericht anzuweisen, alle notwendigen organisatorischen Massnahmen zu ergreifen, um unverzüglich die notwendigen Entscheide treffen zu können. Weiter ersucht A.________ für das Verfahren vor Bundesgericht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
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Das Kantonsgericht reicht mit Vernehmlassung vom 21. September 2020 Bemerkungen ein, ohne jedoch einen Antrag in der Sache zu stellen. Am 20. November 2020 teilt es ausserdem mit, es habe am 16. November 2020 im Verfahren ZK1 19 3 über die Berufung entschieden und werde seinen Entscheid in den nächsten Wochen den Parteien mitteilen.
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Erwägungen:
 
 
1.
 
1.1. Gegen das unrechtmässige Verweigern oder Verzögern eines anfechtbaren Entscheids kann Beschwerde geführt werden (Art. 94 BGG). Beschwerde wegen Rechtsverzögerung oder -verweigerung kann vor Bundesgericht jedoch nur bezüglich solcher Entscheide erhoben werden, die auch der Beschwerde in Zivilsachen unterliegen (vgl. Urteile 1B_214/2018 vom 27. Juni 2018 E. 1; 1C_189/2012 vom 18. April 2012 E. 1.3). Die allgemeinen Beschwerdevoraussetzungen beurteilen sich daher anhand desjenigen Entscheids, den die Vorinstanz nach Auffassung der beschwerdeführenden Partei zu Unrecht verweigert oder verzögert hat (Urteil 5D_98/2016 vom 22. Juni 2016 E. 2).
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Dabei handelt es sich vorliegend um den Entscheid über die im Berufungsverfahren bezüglich der Regelung des Getrenntlebens der Eheleute strittigen Punkte (Obhut über die Kinder, Besuchsrecht des Vaters sowie Kindesunterhalt; vgl. vorne Bst. B.a) und damit um den Endentscheid (Art. 90 BGG) eines oberen kantonalen Rechtsmittelgerichts (Art. 75 BGG) über eine insgesamt nicht vermögensrechtliche Zivilsache nach Art. 72 BGG (vgl. Urteil 5A_262/2019 vom 30. September 2019 E. 1.1). Der Beschwerdeführer wäre ausserdem nach Art. 76 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt.
10
Am Interesse des Beschwerdeführers an der Behandlung der Rechtsverzögerungsbeschwerde ändert nichts, dass das Kantonsgericht gemäss eigener Mitteilung zwischenzeitlich über die Berufung entschieden hat. Ein allfälliger Entscheid ist auch nach Darstellung der Vorinstanz noch nicht eröffnet (vgl. Art. 136 ff. und 239 ZPO) und damit noch nicht rechtswirksam geworden (vgl. vorne Bst. C; BGE 145 IV 252 E. 1.3.1). Auf die Rechtsverzögerungsbeschwerde kann damit unter Vorbehalt von E. 1.2 hiernach eingetreten werden.
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1.2. Nicht Gegenstand des vor der Vorinstanz geführten Verfahrens und des ausstehenden Entscheids und damit auch nicht des bundesgerichtlichen Verfahrens (vgl. BGE 142 I 155 E. 4.4.2; 136 II 165 E. 5 [einleitend]) ist demgegenüber die Organisation des Kantonsgerichts. Auf die Beschwerde ist daher insoweit nicht einzutreten, als der Beschwerdeführer vom Bundesgericht verlangt, das Kantonsgericht zu organisatorischen Massnahmen anzuhalten.
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2. Jede Person hat im Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf Beurteilung innert angemessener Frist (Art. 29 Abs. 1 BV). Die Angemessenheit der Entscheidfrist lässt sich nicht absolut bestimmen. Eine Rechtsverzögerung liegt vor, wenn das zuständige Gericht seinen Entscheid nicht binnen der Frist fällt, welche nach der Natur der Sache und der Gesamtheit der übrigen Umstände (u.a. Bedeutung für die Betroffenen und Berücksichtigung der fallspezifischen Entscheidabläufe) als angemessen erscheint. Es spielt keine Rolle, auf welche Gründe die Verzögerung zurückzuführen ist; mangelnde Organisation oder Überlastung bewahren nicht vor dem Vorwurf der Rechtsverzögerung. Entscheidend ist allein, dass das Gericht nicht fristgerecht handelt (BGE 144 II 486 E. 3.2; 135 I 265 E. 4.4).
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3.
 
3.1. Bereits das Urteil 5A_152/2020 vom 7. April 2020 betraf eine Rechtsverzögerungsbeschwerde des Beschwerdeführers bezüglich des vor der Vorinstanz hängigen Berufungsverfahrens ZK1 19 3 (vgl. vorne Bst. B.b). In seinem Entscheid erwog das Bundesgericht, das Kantonsgericht habe im Eheschutzverfahren insbesondere über das Besuchsrecht des Beschwerdeführers bei seinen Töchtern zu entscheiden. Eheschutzverfahren seien im Allgemeinen dringlich, namentlich wenn es um Kinderbelange gehe. Dies gelte insbesondere auch im vorliegenden Fall, in welchem sich die unter der Obhut der Mutter stehenden Töchter aufgrund des Zeitablaufs und des über eine grosse Distanz erfolgten Wegzugs dem Vater zunehmend zu entfremden schienen. Bei dieser Ausgangslage sei eine rasche Behandlung der Berufung angezeigt. Aus den Akten ergebe sich ausserdem, dass die Angelegenheit spätestens im August 2019 spruchreif gewesen sei. Das Kantonsgericht konnte sodann nicht schlüssig erklären, aus welchem beachtenswerten Grund sich die Ausfällung des Berufungsentscheids verzögerte (Urteil, a.a.O., E. 3). Diese Überlegungen haben nach wie vor Gültigkeit.
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3.2. Der Beschwerdeführer bringt vor Bundesgericht vor, nach dem 7. April 2020 sei das Berufungsverfahren während weiterer vier Monate nicht erkennbar fortgeführt worden. Auf seine Nachfragen vom 5. August und vom 3. September 2020 habe das Kantonsgericht nur mit dem pauschalen Hinweis, das Verfahren befinde sich in der Urteilsphase, bzw. gar nicht reagiert.
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Das Kantonsgericht bestreitet diese Darstellung nicht. Es verweist allerdings darauf, dass es im Verfahren ZK1 20 97 betreffend vorsorgliche Massnahmen im Berufungsverfahren am 26. August 2020 neu entschieden habe (vgl. dazu vorne Bst. B.c). Ausserdem sei in den nächsten Wochen auch mit einem Entscheid im Berufungsverfahren (unter Einbezug zweier weiterer Beschwerdeverfahren) zu rechnen.
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3.3. Mit dem Verweis auf den Entscheid im Massnahmeverfahren vermag das Obergericht von vornherein nicht darzutun, dass es das Berufungsverfahren sinnvoll vorangetrieben hätte. Keine hinreichend beförderliche Behandlung des Verfahrens zeigt die Vorinstanz sodann mit dem wenig aussagekräftigen Hinweis auf, ein Entscheid werde " in den nächsten Wochen" gefällt. Trotz der nach wie vor bestehenden Dringlichkeit (vgl. E. 3.1 hiervor) und entgegen der diesbezüglichen Aufforderung durch das Bundesgericht hat das Kantonsgericht damit auch seit April 2020 nichts dafür getan, das Berufungsverfahren einer Beendigung zuzuführen. Keine entscheidende Bedeutung kommt sodann einem allfällig am 16. November 2020 gefassten, aber noch nicht eröffneten und damit noch nicht rechtswirksamen Entscheid der Vorinstanz zu (vgl. vorne E. 1.1). Folglich erweist sich die Rechtsverzögerungsbeschwerde als begründet.
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4. Nach dem Ausgeführten ist die Beschwerde gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist. Das Kantonsgericht ist aufzufordern, das Berufungsverfahren ZK1 19 3 unverzüglich einem Entscheid zuzuführen. Das Bundesgericht verzichtet darauf, dem Kantonsgericht hierzu eine verbindliche Frist anzusetzen (Art. 107 Abs. 1 BGG).
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Bei diesem Ausgang des Verfahrens obsiegt der Beschwerdeführer vollständig. Hieran ändert nichts, dass in einem untergeordneten Punkt auf die Beschwerde nicht eingetreten werden kann. Entsprechend hat der Kanton Graubünden ihn für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Nachdem im vorinstanzlichen Verfahren ZK1 19 3 nunmehr die zweite Rechtsverzögerungsbeschwere gutgeheissen werden musste, sind auch die Gerichtskosten dem Kanton aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 4 BGG). Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege wird gegenstandslos und ist abzuschreiben.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Das Kantonsgericht von Graubünden wird angewiesen, das Berufungsverfahren ZK1 19 3 unverzüglich einem Entscheid zuzuführen.
 
2. Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege wird als gegenstandslos geworden abgeschrieben.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Kanton Graubünden auferlegt.
 
4. Der Kanton Graubünden hat den Beschwerdeführer mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 23. November 2020
 
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Herrmann
 
Der Gerichtsschreiber: Sieber
 
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