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Informationen zum Dokument  BGer 5A_884/2020  Materielle Begründung
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BGer 5A_884/2020 vom 29.10.2020
 
 
5A_884/2020
 
 
Urteil vom 29. Oktober 2020
 
 
II. zivilrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Herrmann, Präsident,
 
Bundesrichter Marazzi, von Werdt,
 
Gerichtsschreiber Möckli.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Vera Wismer,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
B.________,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts),
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Bern, Kindes- und Erwachsenenschutzgericht, vom 21. September 2020 (KES 20 795).
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________ und B.________ sind die Eltern des 2006 geborenen C.________. Die Mutter wechselte mit dem Sohn mehrmals den Wohnsitz zwischen Kroatien und der Schweiz und auch innerhalb der Schweiz. Sie leidet an Schizophrenie und hat manchmal Panikattacken; phasenweise geht es ihr schlecht und dann ist sie mit allem überfordert.
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B. Im Frühling 2019 erreichten die KESB Oberaargau mehrere Gefährdungsmeldungen. Die Schule U.________ meldete, dass die Zusammenarbeit mit der Mutter schwierig und ihr Verhalten chaotisch sei, so dass C.________ gefährdet erscheine; er sei zusehends schwieriger, da er verunsichert wirke und schnell aggressiv werde. Die Kantonspolizei meldete, dass es zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen der Mutter und dem ehemaligen Freund D.________ gekommen sei. Die Mutter sei stark alkoholisiert gewesen und C.________ habe der Polizei geholfen, diese zu stützen. Es sei der Eindruck entstanden, dass solche Situationen für ihn nicht neu seien. Das Spital V.________ meldete, die Mutter sei als Patientin ausfällig und unkooperativ gewesen und habe das Spital gegen ärztlichen Rat verlassen. In der Folge erweiterte die KESB Oberaargau mit Entscheid vom 27. August 2019 die Aufgaben der bereits bestehenden Beistandschaft.
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Im Bericht vom 20. April 2020 teilte die Beiständin mit, dass bei C.________ eine Kindeswohlgefährdung vorliege. Er sei im sozialen Verhalten auffällig und die schulischen Leistungen seien ungenügend. Es bedürfe stärkerer Massnahmen. Die Eltern würden die Bedürfnisse von C.________ nicht erkennen. Er brauche stabile Ansprechpersonen, die ihm Halt geben und Vorbild in der Kommunikation und Konfliktbewältigung sein können. Er brauche ein spezielles Fördersetting in der Schule. Hierfür sei eine Platzierung in einer geeigneten Institution erforderlich, ansonsten sich die Aggressionsproblematik verschärfe und der Anschluss im schulischen Bereich gefährdet sei.
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Anlässlich der Anhörung von Mutter und Rechtsvertreterin (C.________ blieb der Anhörung fern), erklärte sich Erstere damit einverstanden, die Institution E.________ anschauen zu gehen. Kurz darauf beantragte jedoch die Rechtsvertreterin, dass C.________ weiterhin in U.________ zu beschulen sei; die Mutter habe nie das Einverständnis zu einer Platzierung in der Institution E.________ gegeben. Nach Abklärungen und diversen Beratungen entzog die KESB den Eltern mit superprovisorischer Verfügung vom 12. August 2020 das Aufenthaltsbestimmungsrecht über C.________ und platzierte diesen in der Institution E.________.
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C. Nach weiteren Abklärungen, Korrespondenz und Anhörung der Eltern und von C.________ entzog die KESB den Eltern mit Entscheid vom 2. September 2020 das Aufenthaltsbestimmungsrecht und brachte C.________ in der Institution E.________ unter; einer allfälligen Beschwerde entzog sie die aufschiebende Wirkung.
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Gegen diesen Entscheid erhob die Mutter Beschwerde und verlangte auch die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung. Mit Verfügung vom 21. September 2020 wies das Obergericht des Kantons Bern den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ab und setzte dem Vater und der KESB Frist zur Einreichung einer Vernehmlassung. Zur Begründung verwies es auf Ziff. 15 des angefochtenen Entscheides, in welcher der Entzug der aufschiebenden Wirkung begründet worden war.
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D. Gegen diese Verfügung hat die Mutter am 21. Oktober 2020 beim Bundesgericht eine Beschwerde eingereicht mit den Begehren um vollumfängliche Aufhebung des KESB-Entscheides, eventualiter um Rückweisung der Sache an das Obergericht. Ferner wird für das bundesgerichtliche Verfahren die aufschiebende Wirkung und die unentgeltliche Rechtspflege verlangt.
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Erwägungen:
 
1. Anfechtungsgegenstand kann einzig die Frage der aufschiebenden Wirkung im kantonalen Beschwerdeverfahren und Anfechtungsobjekt kann ausschliesslich die betreffende Verfügung des Obergerichtes bilden (Art. 75 Abs. 1 BGG). Auf diese hat sich auch das Rechtsbegehren zu beziehen (Art. 42 Abs. 1 BGG). Die Beschwerde scheitert bereits daran, dass die Aufhebung des KESB-Entscheides statt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung im Verfahren vor dem Obergericht verlangt wird. Vor diesem Hintergrund geht im Übrigen auch der für das bundesgerichtliche Verfahren gestellte Antrag um aufschiebende Wirkung an der Sache vorbei; in der vorliegenden Konstellation gibt es nichts aufzuschieben, sondern wäre wenn schon eine auf Art. 104 BGG gestützte vorsorgliche Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung im kantonalen Beschwerdeverfahren zu verlangen gewesen.
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2. Immerhin bezieht sich die Beschwerdebegründung auf die obergerichtliche Verfügung und damit auf das zulässige Anfechtungsobjekt. Bei diesem handelt es sich um einen Zwischenentscheid, der nur unter den besonderen Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 BGG direkt beim Bundesgericht anfechtbar ist; sodann sind Entscheide betreffend aufschiebende Wirkung vorsorgliche Massnahmen im Sinn von Art. 98 BGG (BGE 134 II 192 E. 1.5 S. 197; 137 III 475 E. 2 S. 477; Urteile 5A_665/2018 vom 18. September 2018 E. 1; 5A_815/2019 vom 6. März 2020 E. 2.1; 5A_474/2020 vom 12. Juni 2020 E. 2; 5A_555/2020 vom 10. Juli 2020 E. 3), weshalb nur verfassungsmässige Rechte als verletzt gerügt werden können. Während der nicht wiedergutzumachende Nachteil im Sinn von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG begründet wird, erfolgen keine Ausführungen zu Art. 98 BGG. Dies ist aber insofern nicht schädlich, als ohnehin einzig eine Verletzung des rechtlichen Gehörs im Sinn von Art. 29 Abs. 2 BV geltend gemacht wird.
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3. Soweit eine Verletzung von Art. 29 Abs. 2 BV sinngemäss darin erblickt wird, dass das Obergericht zur Begründung seiner Verfügung auf den KESB-Entscheid verwiesen hat, geht die Rüge fehl. Sogar für Sachentscheide ist der Verwies auf die Begründung der unteren Instanz bundesrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden (BGE 119 II 478 E. 1d S. 480; 126 III 492 E. 3b S. 494; Urteile 4A_538/2013 vom 19. März 2014 E. 3.1; 4A_434/2013 vom 19. Dezember 2013 E. 1.2; 4A_477/2018 vom 16. Juli 2019 E. 3.2.1; 4A_611/2018 vom 5. Juni 2019 E. 3.3.1). Umso mehr trifft dies auf eine Verfügung zu, mit welcher im Rahmen der Instruktion vorerst nur über die Frage der aufschiebenden Wirkung zu befinden ist. Im Übrigen betrifft die verwiesene Ziff. 15 des KESB-Entscheides spezifisch die Frage der aufschiebenden Wirkung, indem die KESB darlegt, wieso sie diese einer allfälligen Beschwerde entzieht; die Fragestellung, ob die aufschiebende Wirkung wieder hergestellt werden soll, ist die gleiche.
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4. In der Sache wird geltend gemacht, die Begründung nehme keinen Bezug auf die Vorbringen der Beschwerdeführerin, namentlich die in der Beschwerde erfolgten Sachverhaltsbestreitungen und die Kritik an der abgesprochenen Erziehungsfähigkeit bzw. die diesbezügliche Forderung nach einer umfassenden Begutachtung. Der Entzug der aufschiebenden Wirkung sei im Übrigen nicht gerechtfertigt, weil keine Dringlichkeit vorliege; eine angemessene Beschulung sei in U.________ ebenso gewährleistet und der angebliche Verlust des Platzes in der Institution E.________ rein hypothetisch und vorgeschoben.
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Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör fliesst die Pflicht, einen Entscheid so abzufassen, dass der Betroffene ihn gegebenenfalls sachgerecht anfechten kann. Daher müssen - im Sinn der entscheidwesentlichen Gesichtspunkte - wenigstens kurz die Überlegungen genannt werden, von denen sich das Gericht hat leiten lassen und auf welche sich sein Entscheid stützt (BGE 139 IV 179 E. 2.2 S. 183; 141 III 28 E. 3.2.4 S. 41; 141 IV 249 E. 1.3.1 S. 253).
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Diesen Anforderungen wird Ziff. 15 des KESB-Entscheides ohne Weiteres gerecht, zumal die Frage der aufschiebenden Wirkung nicht gleich einlässlich zu begründen ist wie der Sachentscheid selbst. Die Begründung geht dahin, dass die aufschiebende Wirkung eine angemessene Beschulung von C.________ unnötig verzögern würde, dass die mangelnde Erziehungsfähigkeit (die in den vorangehenden Erwägungen dargestellt wird) belegt sei, dass die Institution E.________ geeignet sei und dass ein Beschwerdeverfahren mehrere Monate dauern könne, weshalb C.________ seien Platz in der Institution höchstwahrscheinlich verlieren würde.
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An dieser Einschätzung ändern die Vorbringen in der kantonalen Beschwerde nichts. Die KESB hat umfangreiche Sachverhaltsabklärungen getroffen und der von der Beschwerdeführerin (weitestgehend abstrakt) erhobenen Kritik, dies sei in willkürlicher Weise geschehen, kann nicht gefolgt werden. Auch wenn seitens des Obergerichtes eine betreffende Aussage im Sinn einer eigenen Einschätzung wünschenswert gewesen sein möchte, ist dennoch keine Verletzung der aus Art. 29 Abs. 2 BV fliessenden Begründungspflicht ersichtlich: Kern der mittels Verweises auf Ziff. 15 des KESB-Entscheides erfolgten Begründung ist, dass angesichts der augenfälligen Probleme von C.________ dringend geeignete Massnahmen erforderlich sind, wenn sich seine persönliche und schulische Situation nicht weiter verschlimmern soll. Wichtigster Punkt der kantonalen Beschwerde bildet das Vorbringen, dass der Beschwerdeführerin die Erziehungsfähigkeit nicht einfach so abgesprochen werden dürfe, sondern dass es hierfür zwingend einer einlässlichen psychiatrischen Begutachtung bedürfe. Ob dem so ist, wird im Rahmen des Beschwerdeverfahrens zu prüfen sein. Jedenfalls konnte darüber nicht vorweg im Rahmen der aufschiebenden Wirkung befunden werden und war folglich auch keine diesbezügliche instruktionsrichterliche Begründung erforderlich. Das betreffende Hauptanliegen der Beschwerdeführerin zeigt indes eindrücklich, dass das ganze Verfahren auch noch Jahre statt bloss Monate dauern könnte und damit die zentrale Befürchtung in der Erwägung der KESB, dass Gefahr in lang anhaltendem Verzug liege, begründet ist.
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5. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit auf sie eingetreten werden kann.
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Wie die vorstehenden Erwägungen zeigen, konnte der Beschwerde von Anfang an kein Erfolg beschieden sein, weshalb es an den materiellen Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege fehlt (Art. 64 Abs. 1 BGG) und das entsprechende Gesuch abzuweisen ist.
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Indes rechtfertigt es sich, angesichts der konkreten Umstände ausnahmsweise davon abzusehen, der unterliegenden Beschwerdeführerin die Gerichtskosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, der Beiständin, der KESB Oberaargau und dem Obergericht des Kantons Bern, Kindes- und Erwachsenenschutzgericht, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 29. Oktober 2020
 
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Herrmann
 
Der Gerichtsschreiber: Möckli
 
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