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Informationen zum Dokument  BGer 9C_332/2020  Materielle Begründung
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BGer 9C_332/2020 vom 28.09.2020
 
 
9C_332/2020
 
 
Urteil vom 28. September 2020
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
 
Gerichtsschreiberin Nünlist.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 27. April 2020 (200 19 740 IV).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Der 1964 geborene A.________ bezog von 1. Juli 2012 bis 31. Juli 2013 eine ganze und ab 1. August 2013 eine Viertelsrente (Verfügung vom 20. Juni 2014, bestätigt mit Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 23. September 2016).
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Nach Abklärungen im Rahmen einer revisionsweisen Überprüfung der Invalidenrente - insbesondere einer Begutachtung des Versicherten durch die Ärztliche Begutachtungsinstitut GmbH (ABI, Expertise vom 25. März 2019) - erhöhte die IV-Stelle Bern die Viertelsrente mit Verfügung vom 29. August 2019 ab 1. November 2017 auf eine halbe Invalidenrente.
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B. Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 27. April 2020 ab.
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C. A.________ beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die Zusprache einer ganzen, eventuell einer Dreiviertelsrente ab 1. November 2017. Subeventualiter sei die Sache zur erneuten Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Erwägungen:
 
 
1.
 
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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1.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Indes prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweis).
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2.
 
2.1. Die Vorinstanz hat einen Revisionsgrund seit Zusprache der Invalidenrente mit Verfügung vom 20. Juni 2014 bejaht. Sie hat dem ABI-Gutachten vom 25. März 2019 Beweiskraft zuerkannt und gestützt auf eine Arbeitsfähigkeit von 50 % in leidensangepasster Tätigkeit auf einen Invaliditätsgrad von 56 % und damit ab 1. November 2017 neu auf den Anspruch auf eine halbe Invalidenrente geschlossen.
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2.2. Strittig und zu prüfen sind im Zusammenhang mit der Ermittlung des Invalideneinkommens die Arbeitsfähigkeit in leidensangepasster Tätigkeit gemäss ABI-Gutachten und der Abzug vom Tabellenlohn. Sodann bestreitet der Beschwerdeführer die Verwertbarkeit seiner Restarbeitsfähigkeit.
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3. Auf die vom kantonalen Gericht korrekt dargelegten rechtlichen Grundlagen wird verwiesen.
9
 
4.
 
4.1. Bei den gerichtlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit handelt es sich um Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.; vgl. E. 1).
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4.2. Entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers ist die vom kantonalen Gericht festgestellte Arbeitsfähigkeit von 50 % in leidensangepasster Tätigkeit mit Blick auf die Ausführungen im unbestritten beweiskräftigen ABI-Gutachten nicht offensichtlich unrichtig. So beschreiben die Experten ausdrücklich, dass bezogen auf ein 100%-Pensum von einer 50%igen Arbeits- und Leistungsfähigkeit auszugehen sei (Interdisziplinäre Gesamtbeurteilung S. 14 Ziff. 4.7.4). Dies lässt keine Interpretation im Sinne des Beschwerdeführers zu, wonach die Leistung bei einer Präsenz von vier bis fünf Stunden pro Tag um 50 % eingeschränkt sei.
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Bei den in diesem Zusammenhang eingereichten Unterlagen handelt es sich in erster Linie um unzulässige Noven (Art. 99 Abs. 1 BGG). Soweit ihnen eine juristische Beurteilung entnommen werden könnte, genügt der blosse Verweis darauf nicht.
12
 
5.
 
5.1. Die Rechtsprechung anerkennt, dass das (vorgerückte) Alter zusammen mit weiteren persönlichen und beruflichen Gegebenheiten dazu führen kann, dass die einer versicherten Person verbliebene Resterwerbsfähigkeit auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt realistischerweise nicht mehr nachgefragt wird. Massgebend sind die Umstände des konkreten Falles, etwa die Art und Beschaffenheit des Gesundheitsschadens und seiner Folgen, der absehbare Umstellungs- und Einarbeitungsaufwand und in diesem Zusammenhang auch Persönlichkeitsstruktur, vorhandene Begabungen und Fertigkeiten, Ausbildung, beruflicher Werdegang oder Anwendbarkeit von Berufserfahrung aus dem angestammten Bereich. Für den Zeitpunkt, in welchem die Frage nach der Verwertbarkeit der (Rest-) Arbeitsfähigkeit bei vorgerücktem Alter beantwortet wird, ist auf das Feststehen der medizinischen Zumutbarkeit einer (Teil-) Erwerbstätigkeit abzustellen (BGE 145 V 2 E. 5.3.1 S. 16; 138 V 457 E. 3 S. 459 ff.; SVR 2019 IV Nr. 7 S. 21, 8C_892/2017 E. 3.2; vgl. auch MARCO WEISS, Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit aufgrund vorgerückten Alters - Rechtsprechungstendenzen, SZS 2018 S. 630).
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5.2.
 
5.2.1. Die medizinische Zumutbarkeit der Teilerwerbsfähigkeit stand vorliegend mit Erstattung des ABI-Gutachtens am 25. März 2019 fest. Zu diesem Zeitpunkt war der Beschwerdeführer rund 55 Jahre alt. Damit verblieben ihm noch etwa 10 Jahre bis zum Eintritt in das AHV-Rentenalter. Diese Aktivitätsdauer reicht - auch bei einer Restarbeitsfähigkeit von 50 % - aus, um eine neue einfache Erwerbstätigkeit aufzunehmen, sich einzuarbeiten und die Arbeit auszuüben.
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5.2.2. Der Versicherte ist im Besitz eines eidgenössischen Fähigkeitszeugnisses als Feinmechaniker. Er arbeitete ab 1986 selbständigerwerbend als Mechaniker und war daneben von 2002 bis 2010 zu 50 % als Maschinist/stellvertretender Geschäftsführer bei der B.________ AG angestellt. Er verfügt somit sowohl über eine abgeschlossene Ausbildung als auch über Erfahrung in Arbeiten, die er in einer ihm zumutbaren leidensangepassten Tätigkeit nutzen kann.
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5.3. Mit Blick auf das gutachterliche Zumutbarkeitsprofil ist sodann vorweg darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer seine Arbeit nicht - wie er geltend macht - zwingend auf zwei Mal zwei Stunden aufzuteilen hat (Interdisziplinäre Gesamtbeurteilung S. 14 Ziff. 4.7.2). Inwiefern er bei einer 50%igen Arbeits- und Leistungsfähigkeit - auch mit Blick auf die weiteren Einschränkungen - nicht in der Lage sein sollte, auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden, ist nicht ersichtlich. So umfasst dieser gerade auch Nischenarbeitsplätze (vgl. Urteil 8C_732/2018, 8C_742/2018 vom 26. März 2019 E. 7.3.2 mit Hinweisen). Auf die Notwendigkeit eines sozial unüblich hohen, überdurchschnittlichen Entgegenkommens des Arbeitgebers ist - entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers - nicht zu schliessen.
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5.4. Soweit auf das Urteil 9C_644/2019 vom 20. Januar 2020 verwiesen wird, ist darauf hinzuweisen, dass die Versicherte im genannten Fall deutlich über 59 Jahre alt war, als die Verwertbarkeit der Teilerwerbsfähigkeit feststand. Damit hatte sie im Gegensatz zum Beschwerdeführer nicht einmal mehr fünf Jahre bis zum Erreichen des AHV-Pensionsalters. Sodann lag dort insbesondere eine ausgeprägte arbeitsmarktliche Desintegration vor. Die Versicherte hatte während über 20 Jahren ausschliesslich in der eigenen Kosmetik- und Therapiepraxis gearbeitet und ihre Berufserfahrung ausserhalb dieses Bereichs lag Jahrzehnte zurück. Sie verfügte über keinerlei Kompetenzen, von denen sie in einer ihr zumutbaren leidensangepassten Tätigkeit hätte profitieren können (E. 4.3 des Urteils). Dagegen kann der Beschwerdeführer neben seiner selbständigen Tätigkeit als Mechaniker auf eine jahrelange Erfahrung als stellvertretender Geschäftsführer zurückgreifen (vgl. E. 5.2.2 hievor). Die beiden Konstellationen sind somit nicht vergleichbar.
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6.
 
6.1. Wird das Invalideneinkommen auf der Grundlage von statistischen Durchschnittswerten ermittelt, ist der entsprechende Ausgangswert (Tabellenlohn) allenfalls zu kürzen. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben können. Der Abzug soll nicht automatisch, sondern nur dann erfolgen, wenn im Einzelfall Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die versicherte Person wegen eines oder mehrerer dieser Merkmale ihre gesundheitlich bedingte (Rest-) Arbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann (BGE 126 V 75 E. 5b/aa S. 79 f.). Er ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen und darf 25 % nicht übersteigen (BGE 134 V 322 E. 5.2 S. 327 f.; 126 V 75 E. 5b/bb S. 80).
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6.2. Die Rechtsfrage, ob ein Abzug vom Tabellenlohn zu gewähren sei (vgl. BGE 137 V 71 E. 5.1 S. 72 f.; Urteil 8C_557/2018 vom 18. Dezember 2018 E. 3.4), kann vorliegend offen gelassen werden. Unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Merkmale (E. 6.1) wäre ein solcher einzig mit Blick auf die leidensbedingten Einschränkungen gerechtfertigt. Diesen wäre mit Reduktion im Umfang von 5 % Genüge getan, was bei unbestrittenem Valideneinkommen von Fr. 76'647.- und einem Invalideneinkommen von neu Fr. 31'884.05 (33'562.15 x 0.95) zu einer Einkommenseinbusse von Fr. 44'762.95 (76'647.- - 31'884.05) und damit einem Invaliditätsgrad von 58 % (44'762.95/76'647.-; zur Rundung: BGE 130 V 121) führen würde. Auch dies entspräche dem Anspruch auf eine halbe Invalidenrente. Die Beschwerde ist unbegründet.
19
7. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
20
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 28. September 2020
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Die Gerichtsschreiberin: Nünlist
 
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