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Informationen zum Dokument  BGer 9C_162/2020  Materielle Begründung
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BGer 9C_162/2020 vom 16.09.2020
 
 
9C_162/2020
 
 
Urteil vom 16. September 2020
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichter Stadelmann, Bundesrichterin Glanzmann,
 
Gerichtsschreiberin Nünlist.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Susanne Friedauer,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,
 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 21. Januar 2020 (VBE.2019.236).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. Die 1962 geborene, gelernte Arztgehilfin, A.________ meldete sich am 25. Juni 1992 unter Hinweis auf eine beidseitige kongenitale Hüftluxation, bestehend seit Geburt, bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (Berufsberatung, Umschulung auf eine neue Tätigkeit, Hilfsmittel, Rente) an. Nach Abklärungen wurde ihr mit Verfügung vom 9. Mai 1994 rückwirkend ab 1. September 1992 eine halbe Invalidenrente zugesprochen. Der Anspruch wurde in den Jahren 1996, 1998, 2001, 2003, 2007 und 2012 im Rahmen revisionsweiser Überprüfungen bestätigt.
1
A.b. Im Mai 2017 leitete die IV-Stelle des Kantons Aargau eine erneute Rentenrevision ein. Nach Abklärungen - insbesondere der Begutachtung durch die Swiss Medical Assessment- and Business-Center AG (SMAB, Expertise vom 16. April 2018) - hob sie die bisherige halbe Invalidenrente mit Verfügung vom 22. Februar 2019 wiedererwägungsweise auf.
2
B. Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 21. Januar 2020 ab, wobei es die Wiedererwägungsvoraussetzung der zweifellosen Unrichtigkeit sowohl bezüglich der Mitteilung vom 24. März 1998 als auch hinsichtlich der ursprünglichen "Rentenzusprache" (vom 9. Mai 1994) bejahte.
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C. A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und es sei ihr weiterhin eine Invalidenrente auszurichten. Eventualiter sei die Angelegenheit zwecks Zusprache von Eingliederungsmassnahmen an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.
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Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
5
D. Am 16. Juli 2020 gewährte das Gericht der Versicherten das rechtliche Gehör betreffend der Frage, ob der angefochtene Entscheid mittels substituierter Begründung - Anwendung von Art. 17 Abs. 1 ATSG (Rentenrevision) - zu bestätigen sei. Hiezu liess sich die Versicherte am 21. August 2020 vernehmen.
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Erwägungen:
 
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 145 V 57 E. 4.2 S. 62 mit Hinweis).
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2. Die Frage der Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG) kann aus den nachfolgenden Gründen offen bleiben.
8
3. Eine vom Versicherungsorgan wiedererwägungsweise vorgenommene Rentenaufhebung darf gegebenenfalls vom angerufenen Gericht gestützt auf Art. 17 Abs. 1 ATSG bestätigt werden, wenn dessen Voraussetzungen erfüllt sind und das rechtliche Gehör dazu gewährt worden ist (vgl. 9C_309/2017 vom 13. Juli 2017 E. 3.3.2 mit Hinweisen). Die Beschwerdeführerin hat sich im Rahmen des ihr gewährten rechtlichen Gehörs am 21. August 2020 zu den relevanten revisionsrechtlichen Aspekten äussern können. Es besteht keine Veranlassung, eine weitere Stellungnahme einzuholen.
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4. Festzulegen ist im Rahmen der Revisionsprüfung nach Art. 17 Abs. 1 ATSG, wonach eine Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben wird, wenn sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines Rentenbezügers erheblich ändert, zunächst der initial massgebende Referenzzeitpunkt.
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4.1. Zeitlicher Referenzpunkt für die Prüfung einer anspruchserheblichen Änderung im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG bildet die letzte (der versicherten Person eröffnete) rechtskräftige Verfügung, welche auf einer materiellen Prüfung des Rentenanspruchs mit rechtskonformer Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung und Durchführung eines Einkommensvergleichs (bei Anhaltspunkten für eine Änderung in den erwerblichen Auswirkungen des Gesundheitszustands) beruht. Dabei ist unbeachtlich, ob der Rentenanspruch im Ergebnis bestätigt oder modifziert wird (vgl. BGE 133 V 108 E. 5 mit Hinweisen).
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Dieser Grundsatz gilt auch für Mitteilungen im Sinne von Art. 51 ATSG: Ändert sich nach durchgeführter Rentenrevision als Ergebnis einer materiellen Prüfung des Rentenanspruchs nichts und eröffnet die IV-Stelle deswegen das Revisionsergebnis gestützt auf Art. 74ter lit. f IVV auf dem Weg der blossen Mitteilung, ist im darauf folgenden Revisionsverfahren zeitlich zu vergleichender Ausgangssachverhalt derjenige, welcher der Mitteilung zugrunde lag (SVR 2013 IV Nr. 44   S. 134, 8C_441/2012 E. 3.1.2 mit Hinweisen).
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Die Heranziehung eines Verwaltungsaktes als Vergleichsbasis setzt voraus, dass er auf denjenigen Abklärungen beruht, welche mit Blick auf die möglicherweise veränderten Tatsachen notwendig erscheinen. Unter einer Sachverhaltsabklärung im Sinne von BGE 133 V 108 muss eine Abklärung verstanden werden, die - wenn sie inhaltlich zu einem anderen Ergebnis führt - geeignet ist, eine Rentenerhöhung, -herabsetzung oder -aufhebung zu begründen (SVR 2013 IV Nr. 44 S. 134, 8C_441/2012 E. 6.2 mit Hinweisen).
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4.2. Nach der Rentenzusprache mit Verfügung vom 9. Mai 1994 wurde bei der Beschwerdeführerin im Juni 1994 an der rechten und im November 1995 an der linken Hüfte eine Totalprothese eingesetzt. Dr. med. B.________ schloss - insbesondere aufgrund der zweiten Operation - auf eine Verbesserung des Gesundheitszustandes (vgl. Arztberichte vom 9. Januar 1996 und 23. Februar 1998). Ab dem Zeitpunkt der operativen Eingriffe wurde die Arbeitsfähigkeit in leidensangepasster Tätigkeit im Rahmen der revisionsweisen Überprüfungen der Invalidenrente jedoch nicht (Arztberichte von Dr. med. B.________ vom 9. Januar 1996, 23. Februar 1998, 19. Februar 2001, 17. Juli 2003 und 27. Dezember 2006) respektive nicht schlüssig (Arztbericht von Dr. med. B.________ vom 17. April 2012, wonach die angestammte Tätigkeit noch zu vier Stunden pro Tag, eine leidensangepasste Tätigkeit jedoch nicht zumutbar gewesen sein soll) beurteilt. Die Unvollständigkeiten bzw. Widersprüche in den medizinischen Akten wurden seitens der Verwaltung nicht aufgeklärt.
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4.3. Sämtlichen Rentenrevisionen - insbesondere nach dem Gesagten (E. 4.2) auch der vorinstanzlich (für die Wiedererwägung) alternativ für massgeblich gehaltenen Mitteilung vom 24. März 1998 - lag keine rechtskonforme medizinische Sachverhaltsabklärung zugrunde. Daran ändert nichts, dass mit der Mitteilung von 1998 der Invaliditätsgrad geändert wurde und im Rahmen dieser Revision neben dem Arztbericht weitere Unterlagen eingeholt wurden. Die Berufung auf die in der Stellungnahme vom 21. August 2020 zur Begründung herangezogenen Urteile dringt nicht durch, weil die Fälle nicht gleich gelagert sind.
15
 
5.
 
5.1. Anlass zur Rentenrevision gibt jede wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen seit Zusprechung der Rente, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den Anspruch zu beeinflussen. Insbesondere ist die Rente bei einer wesentlichen Änderung des Gesundheitszustandes revidierbar. Weiter sind, auch bei an sich gleich gebliebenem Gesundheitszustand, veränderte Auswirkungen auf den Erwerbs- oder Aufgabenbereich von Bedeutung; dazu gehört die Verbesserung der Arbeitsfähigkeit aufgrund einer Angewöhnung oder Anpassung an die Behinderung. Hingegen ist die lediglich unterschiedliche Beurteilung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhalts im revisionsrechtlichen Kontext unbeachtlich (BGE 144 I 103 E. 2.1 S. 105; 141 V 9 E. 2.3 S. 10 f. mit Hinweisen).
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5.2. Seit der Rentenzusprache im Mai 1994 ist allein schon nur mit der Versorgung der Hüftgelenke beidseits mit einer Totalprothese im Juni 1994 und November 1995 unbestritten eine wesentliche Veränderung des Gesundheitszustandes eingetreten, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den Anspruch auf eine Invalidenrente zu beeinflussen. Eine Überprüfung des Rentenanspruchs ist somit unter dem Titel der Revision gemäss Art. 17 Abs. 1 ATSG zulässig.
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5.3. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern das SMAB-Gutachten vom   16. April 2018 den Anforderungen an eine beweiskräftige Expertise nicht entsprechen soll. Dass die Gutachter von den bisherigen ärztlichen Arbeitsfähigkeitsschätzungen abwichen, genügt hiefür nicht. Weiterungen erübrigen sich. Mit der Vorinstanz ist von einer 100%igen Arbeitsfähigkeit in angestammter und leidensangepasster Tätigkeit auszugehen (Expertise S. 17).
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6.
 
6.1. Bei Personen, deren Rente revisionsweise herabgesetzt oder aufgehoben werden soll, sind nach mindestens fünfzehn Jahren Bezugsdauer oder wenn sie das 55. Altersjahr zurückgelegt haben, praxisgemäss in der Regel vorgängig Massnahmen zur Eingliederung durchzuführen, bis sie in der Lage sind, das medizinisch-theoretisch (wieder) ausgewiesene Leistungspotenzial mittels Eigenanstrengung auszuschöpfen und erwerblich zu verwerten. Ausnahmen von der diesfalls grundsätzlich ("vermutungsweise") anzunehmenden Unzumutbarkeit einer Selbsteingliederung liegen namentlich dann vor, wenn die langjährige Absenz vom Arbeitsmarkt auf invaliditätsfremde Gründe zurückzuführen ist, wenn die versicherte Person besonders agil, gewandt und im gesellschaftlichen Leben integriert ist oder wenn sie über besonders breite Ausbildungen und Berufserfahrungen verfügt. Verlangt sind immer konkrete Anhaltspunkte, die den Schluss zulassen, die versicherte Person könne sich trotz ihres fortgeschrittenen Alters und/oder der langen Rentenbezugsdauer mit entsprechender Absenz vom Arbeitsmarkt ohne Hilfestellungen wieder in das Erwerbsleben integrieren. Die IV-Stelle trägt die Beweislast dafür, dass entgegen der Regel die versicherte Person in der Lage ist, das medizinisch-theoretisch (wieder) ausgewiesene Leistungspotenzial auf dem Weg der Selbsteingliederung erwerblich zu verwerten (BGE 145 V 209 E. 5.1 S. 211 f. mit Hinweisen).
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6.2. Im Zeitpunkt der Renteneinstellung mit Verfügung vom 22. Februar 2019 war die Beschwerdeführerin 56 Jahre alt und bezog seit über fünfzehn Jahren eine halbe Invalidenrente. Damit ist die dargelegte Rechtsprechung auf sie anwendbar.
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Es ist nicht ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin je im Umfang ihrer Resterwerbsfähigkeit von 50 % tätig gewesen wäre. Die Resterwerbsfähigkeit wurde somit über mehr als ein Jahrzehnt hinweg aus invaliditätsfremden Gründen nicht verwertet. Die Vorinstanz hat daher kein Bundesrecht verletzt, indem sie den Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen vor der Rentenaufhebung verneint hat.
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7. Nach dem Gesagten hat es im Ergebnis beim angefochtenen Entscheid sein Bewenden. Die Beschwerde ist unbegründet.
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8. Als unterliegende Partei hat die Beschwerdeführerin die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, 3. Kammer, der C.________ und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 16. September 2020
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Meyer
 
Die Gerichtsschreiberin: Nünlist
 
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