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Informationen zum Dokument  BGer 9C_354/2020  Materielle Begründung
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BGer 9C_354/2020 vom 08.09.2020
 
 
9C_354/2020
 
 
Urteil vom 8. September 2020
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichter Stadelmann, Bundesrichterin Moser-Szeless,
 
Gerichtsschreiber Attinger.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________,
 
vertreten durch Fürsprecher Daniel Küng,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 12. Mai 2020 (IV 2017/382).
 
 
Sachverhalt:
 
Nachdem bereits in den Jahren 2010 und 2014 Rentenbegehren des 1958 geborenen A.________ abgelehnt worden waren, meldete er sich im Januar 2015 erneut zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an. Mit Verfügung vom 17. Oktober 2017 verneinte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen wiederum einen Rentenanspruch mangels eines leistungsbegründenden Invaliditätsgrades.
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Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 12. Mai 2020 teilweise gut, hob die angefochtene Verfügung auf und wies die Sache zur weiteren kardiologischen Verlaufsbegutachtung, zur Neuermittlung des Valideneinkommens sowie zur anschliessenden neuen Verfügung über den Rentenanspruch an die IV-Stelle zurück (Dispositivziffer 1 des genannten Entscheids in Verbindung mit den diesbezüglichen Erwägungen).
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Die IV-Stelle führt Beschwerde ans Bundesgericht mit dem Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Rückweisung der Streitsache an die Vorinstanz zur Einholung eines Gerichtsgutachtens.
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Erwägungen:
 
1. Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob ein Rechtsmittel zulässig ist (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 145 V 380 E. 1 Ingress S. 382 mit Hinweis).
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1.1. Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um einen Rückweisungsentscheid. Die IV-Stelle wird darin angewiesen, eine weitere Begutachtung zu veranlassen und anschliessend erneut über den Rentenanspruch zu verfügen. Es liegt mithin ein Zwischenentscheid vor, gegen den die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten grundsätzlich nur zulässig ist (Art. 93 Abs. 1 BGG), wenn er einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil bewirken kann (lit. a) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit und Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b).
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1.2. Vom Grundsatz der Nichtanhandnahme direkter Beschwerden gegen ungerechtfertigte Rückweisungsentscheide mangels Vorliegens der Eintretensvoraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 lit. a und b BGG kann jedoch eine Ausnahme gemacht werden, wenn sich zeigt, dass ein Gericht regelmässig in entsprechender Weise vorgeht (BGE 139 V 99 E. 2.5 S. 104 mit Hinweis; SVR 2020 IV Nr. 30 S. 107, 8C_503/2019 E. 1.2 mit mehreren Hinweisen).
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1.3. Der hier angefochtene Entscheid lässt sich zwanglos in eine Reihe anderer einfügen, in denen das kantonale Gericht (zum Teil explizit) deutlich gemacht hat, dass es sich nicht an die bundesgerichtliche Rechtsprechung halten will, sondern es vorzieht, in den Fällen, in welchen es selber ein Gerichtsgutachten einholen müsste, die Sache zur gutachterlichen Abklärung an die Verwaltung zurückzuweisen (hievor angeführte Urteile). Da die Vorinstanz ihre abweichende Praxis, für welche sie vom Bundesgericht bereits mehrfach gerügt worden ist (SVR 2020 IV Nr. 30 S. 107, 8C_503/2019 E. 1.3 mit Hinweisen), offenbar unbeirrt fortsetzt, rechtfertigt es auch hier, vom Grundsatz der Nichtanhandnahme direkter Beschwerden gegen ungerechtfertigte Rückweisungsentscheide eine Ausnahme zu machen und auf die vorliegende Beschwerde einzutreten (vgl. zuletzt SVR 2020 IV Nr. 32 S. 113, 9C_824/2019 E. 2.3.3).
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2. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die Sache zur erneuten Begutachtung und anschliessenden Neuverfügung an die IV-Stelle zurückgewiesen hat anstatt selber ein Gerichtsgutachten einzuholen.
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2.1. Die Beschwerdeinstanz hat gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung in der Regel ein Gerichtsgutachten einzuholen, wenn sie im Rahmen der Beweiswürdigung zum Schluss gelangt, ein bereits erhobener medizinischer Sachverhalt müsse (insgesamt oder in wesentlichen Teilen) noch gutachterlich geklärt werden oder eine Administrativexpertise sei in einem rechtserheblichen Punkt nicht beweiskräftig. Eine Rückweisung an die IV-Stelle ist hingegen zulässig, wenn es darum geht, zu einer bisher vollständig ungeklärten Frage ein Gutachten einzuholen, oder wenn lediglich eine Klarstellung, Präzisierung oder Ergänzung von gutachterlichen Ausführungen erforderlich ist (BGE 139 V 99 E. 1.1 S. 100; 137 V 210 E. 4.4.1.4 S. 264 f.).
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2.2. Die Rechtsprechung, wonach die Gerichte die Einholung eines Gutachtens bei festgestellter Abklärungsbedürftigkeit nicht ohne Not durch Rückweisung an die Verwaltung delegieren dürfen, beruht auf dem Gebot der Verfahrensfairness sowie auf den Vorteilen von Gerichtsgutachten bezüglich Straffung des Gesamtverfahrens und beschleunigter Rechtsgewährung. Die direkte Durchführung der Beweismassnahme durch die Beschwerdeinstanz mindert sodann das Risiko von - für die öffentliche Hand und die versicherte Person - unzumutbaren multiplen Begutachtungen. Schliesslich verhält sich die Einschränkung der Befugnis der Sozialversicherungsgerichte, eine Streitsache zur neuen Begutachtung an die Verwaltung zurückzuweisen, komplementär zu den Mitwirkungsrechten der versicherten Person im Zusammenhang mit der Anordnung eines Administrativgutachtens gemäss Art. 44 ATSG. Letztere tragen zur Chancengleichheit bei, derweil das Gebot, im Falle einer Beanstandung des Administrativgutachtens eine Gerichtsexpertise einzuholen, die Waffengleichheit im Prozess gewährleistet, wo dies nach der konkreten Beweislage angezeigt ist (BGE 137 V 210 E. 4.4.1.1-4.4.1.3 S. 263 f.; SVR 2020 IV Nr. 30 S. 107, 8C_503/2019 E. 2.2; Urteil 9C_463/2019 vom 25. September 2019 E. 1.2).
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3. 
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3.1. Nach Würdigung der Aktenlage gelangte das kantonale Gericht zum Ergebnis, dass die interdisziplinäre Arbeitsfähigkeitsschätzung im Verlaufsgutachten der MEDAS Interlaken vom 11. November 2016 nicht zu überzeugen vermöge, denn es fehle sowohl eine Antwort auf die Frage, ob sich der Gesundheitszustand in kardiologischer Hinsicht verändert habe, als auch eine Antwort auf die Frage nach der spezifisch kardiologischen Arbeitsunfähigkeit. Der massgebende medizinische Sachverhalt stehe also nicht mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit fest, weshalb die Sache zur neuen kardiologischen Verlaufsbegutachtung an die IV-Stelle zurückzuweisen sei.
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3.2. Bei dieser Sachlage ist offenkundig weder von einer bisher vollständig ungeklärten Frage noch von der Notwendigkeit einer Klarstellung, Präzisierung oder Ergänzung von gutachterlichen Ausführungen auszugehen, welche Umstände rechtsprechungsgemäss die Möglichkeit der Rückweisung an die IV-Stelle eröffnen würden (BGE 139 V 99 E. 1.1 S. 100; 137 V 210 E. 4.4.1.4 S. 264). Der medizinische Sachverhalt wurde im Verwaltungsverfahren eingehend abgeklärt: Die IV-Stelle zog Berichte der behandelnden Ärzte sowie Stellungnahmen ihres Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) bei. Weiter holte sie bei der MEDAS Interlaken das erwähnte polydisziplinäre Verlaufsgutachten ein, welches die Fachrichtungen Allgemeine Innere Medizin, Allergologie, Kardiologie, Pneumologie, Rheumatologie und Psychiatrie umfasst. Die MEDAS-Experten, namentlich Dr. B.________, Facharzt FMH für Kardiologie und Allgemeine Innere Medizin, nahmen sodann am 4. Juli 2017 ergänzend Stellung zu den medizinischen Einwänden des behandelnden Kardiologen Dr. C.________. Wenn das kantonale Gericht den Sachverhalt dennoch für nicht rechtsgenüglich abgeklärt und die Einholung eines weiteren kardiologischen Verlaufsgutachtens für angezeigt hält, muss es selbst aktiv werden und ein Gerichtsgutachten anordnen. Indem die Vorinstanz stattdessen die Sache zur Einholung der neuerlichen Expertise an die IV-Stelle zurückweist und damit einmal mehr deutlich macht, dass sie nicht gewillt ist, sich an die diesbezügliche letztinstanzliche Gerichtspraxis zu halten, verletzt sie die von der Rechtsprechung statuierten, in E. 2.1 und 2.2 hievor dargelegten Grundsätze zur Anordnung eines Gerichtsgutachtens und damit Bundesrecht.
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3.3. An dieser Betrachtungsweise ändert nichts, dass das kantonale Gericht eine anderweitige Ermittlung des Valideneinkommens anordnet und auch in diesem Zusammenhang zur ergänzenden Abklärung an die Verwaltung zurückweist. Denn wie die beschwerdeführende IV-Stelle zutreffend einwendet, handelt es sich hier um einen Neuanmeldungsfall nach (wiederholter) rechtskräftiger Rentenablehnung. Die Frage nach dem Einkommensvergleich kann sich daher rechtsprechungsgemäss nur dann stellen, wenn das nachzuholende kardiologische Verlaufsgutachten eine seit der letzten Rentenverweigerung eingetretene gesundheitliche Verschlechterung ausweist (BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 10, 585 E. 5.3 in fine). Die Höhe des Valideneinkommens braucht somit je nach Ergebnis der ausstehenden medizinischen Begutachtung gar nicht ermittelt zu werden. Angesichts dieser Gegebenheiten ist der von der IV-Stelle geäusserte Verdacht nicht von der Hand zu weisen, wonach die Vorinstanz mit der zusätzlichen Rückweisung an die Verwaltung in erster Linie beabsichtige, die dargelegte bundesgerichtliche Praxis zur Einholung von Gerichtsgutachten zu umgehen. Es sticht denn auch ins Auge, dass die Vorinstanz selber anlässlich ihrer gerichtlichen Überprüfung (und Bestätigung) der ersten rentenablehnenden Verfügung vom 4. Januar 2010 keine zusätzlichen Abklärungen zum Valideneinkommen für nötig erachtete, wie sie sie nunmehr offenbar für unabdingbar hält (vgl. vorinstanzliche Entscheide vom 17. Juli 2012 und 12. Mai 2020).
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3.4. Der angefochtene Entscheid ist nach dem Gesagten aufzuheben und die Streitsache ist zur Einholung eines Gerichtsgutachtens an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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4. Die Beschwerde ist offensichtlich begründet, weshalb sie im vereinfachten Verfahren nach Art. 109 Abs. 2 lit. b BGGerledigt wird. Auf einen Schriftenwechsel wird angesichts des Verfahrensausgangs, der auf klarer Rechtslage beruht, verzichtet. Die Einholung einer Vernehmlassung käme einem formalistischen Leerlauf gleich und würde nur weitere Kosten verursachen (Art. 102 Abs. 1 BGG; Urteil 9C_824/2019 vom 14. Januar 2020 E. 4 mit Hinweisen).
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5. 
17
5.1. Das Verfahren ist kostenpflichtig. Die Gerichtskosten und eine allfällige Parteientschädigung hätte grundsätzlich die unterliegende Partei zu tragen (Art. 66 Abs. 1 erster Satz, Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Unnötige Kosten hat indessen zu bezahlen, wer sie verursacht (Art. 66 Abs. 3, Art. 68 Abs. 4 BGG). Dies erlaubt es, die Gerichts- und Parteikosten ausnahmsweise der Vorinstanz bzw. dem Gemeinwesen, dem sie angehört, aufzuerlegen, namentlich, wenn sie in qualifizierter Weise die Pflicht zur Justizgewährleistung verletzt hat (BGE 142 V 551 E. 9.1 S. 571 mit Hinweisen).
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5.2. Letzteres trifft hier zu. Die Vorinstanz hat zum wiederholten Mal die dargelegte Rechtsprechung zur Einholung von Gerichtsgutachten missachtet, obschon das Bundesgericht ihr bzw. dem Kanton St. Gallen deswegen bereits mehrfach die Gerichtskosten auferlegt hat (SVR 2020 IV Nr. 30 S. 107, 8C_503/2019 E. 4.2 mit Hinweisen). Damit hat sie die IV-Stelle erneut zum Gang vor das Bundesgericht gezwungen. Weil dieses unnötige bundesgerichtliche Verfahren nicht dem Versicherten angelastet werden kann, sind die Gerichtskosten wiederum dem Kanton St. Gallen zu überbinden.
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 12. Mai 2020 wird aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre und über die Beschwerde neu entscheide.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Kanton St. Gallen auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 8. September 2020
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Meyer
 
Der Gerichtsschreiber: Attinger
 
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