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Informationen zum Dokument  BGer 9C_294/2020  Materielle Begründung
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BGer 9C_294/2020 vom 13.08.2020
 
 
9C_294/2020
 
 
Urteil vom 13. August 2020
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Meyer, Stadelmann,
 
Gerichtsschreiberin Betschart.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Thomann,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 30. März 2020 (VBE.2019.458).
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________, geboren 1964, war zuletzt als Sekretärin tätig. Am 21. September 2002 erlitt sie bei einem Auffahrunfall ein HWS-Distorsionstrauma. Mit Verfügung vom 15. Juni 2007 sprach ihr die IV-Stelle des Kantons Aargau ab 1. September 2003 eine halbe und ab 1. Januar 2004 eine ganze Invalidenrente zu. Im Rahmen einer Überprüfung des Anspruchs hob sie die Rente mit Verfügung vom 23. Mai 2019 per 30. Juni 2019 auf.
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 30. März 2020 ab.
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C. A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragt, dass ihr unter Aufhebung des angefochtenen Entscheids weiterhin eine ganze Invalidenrente auszurichten sei; eventualiter seien weitere medizinische Abklärungen vorzunehmen.
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Das Bundesgericht holte die vorinstanzlichen Akten ein. Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt.
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Erwägungen:
 
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S. 280). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinn von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt hat, als es die rentenaufhebende Verfügung der IV-Stelle bestätigte. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob es einen Wiedererwägungsgrund gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG zu Recht bejaht hat.
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3. 
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3.1. Die Vorinstanz hat die massgebenden Rechtsgrundlagen und die Rechtsprechung, insbesondere zur Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG), zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen (Art. 109 Abs. 3 BGG).
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3.2. Das kantonale Gericht stellte fest, dass im Zeitpunkt der Rentenzusprache (15. Juni 2007) eine somatoforme Schmerzstörung im Vordergrund stand. Es verwies sodann auf die damals geltende Rechtsprechung, wonach bei Vorliegen dieser Diagnose nur in Ausnahmefällen die Unzumutbarkeit einer willentlichen Schmerzüberwindung und eines Wiedereinstiegs in den Arbeitsprozess anzunehmen gewesen sei (BGE 130 V 352; 131 V 49). Wenn die begutachtende Fachperson allein aufgrund dieser Diagnose eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit attestiert habe, habe die rechtsanwendende Behörde das Augenmerk auf die Frage richten müssen, ob die ärztlicherseits anerkannte (Teil-) Arbeitsunfähigkeit auch im Licht der für eine Unüberwindbarkeit der Schmerzsymptomatik massgebenden rechtlichen Kriterien standhalte (BGE 130 V 352 E. 2.2.5 S. 355 f.; Urteil 8C_33/2013 vom 13. Dezember 2013 E. 4.2.3, nicht publ. in: BGE 140 V 8, aber in: SVR 2014 IV Nr. 7 S. 27). Die dannzumal vorliegenden medizinischen Akten, namentlich das Gutachten der MEDAS Interlaken GmbH, vom 13. September 2006, hätten jedoch keine detaillierten Ausführungen zu den einzelnen Kriterien enthalten. Auch die IV-Stelle habe sich in der Verfügung vom 15. Juni 2007 nicht im Geringsten mit diesen Kriterien oder mit den eher gegen eine Unzumutbarkeit sprechenden Darlegungen im MEDAS-Gutachten auseinandergesetzt (z.B. Abklingen einer früher beschriebenen Depression und der Somatisierungsstörung, keine objektivierbaren körperlichen Funktionseinschränkungen oder Störungen der psychischen und kognitiven Funktionen und eine bedingt günstige Prognose bezüglich der Arbeitsfähigkeit). Die IV-Stelle habe es zudem unterlassen, entsprechende Rückfragen an den RAD oder die Gutachter zu stellen. Daher sei die Leistungszusprache in fehlerhafter Anwendung der damaligen massgeblichen Sach- und Rechtslage ergangen und als zweifellos unrichtig im Sinn von Art. 53 Abs. 2 ATSG zu qualifizieren). Anschliessend prüfte die Vorinstanz den Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der rentenaufhebenden Verfügung vom 23. Mai 2019. Sie mass dem Gutachten der Ärztliches Begutachtungsinstitut GmbH, Basel (ABI), vom 24. September 2018 Beweiskraft zu und schloss gestützt darauf auf eine 90%ige Arbeitsfähigkeit in der angestammten und einer angepassten Tätigkeit.
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4. Was die Beschwerdeführerin dagegen vorbringt, verfängt nicht:
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4.1. Sie macht zunächst geltend, dass die Rentenzusprache auf einem medizinisch und rechtlich abgeklärten Sachverhalt beruhe. Dies ergebe sich namentlich daraus, dass der RAD-Arzt Dr. med. B.________ in seiner Stellungnahme vom 18. Oktober 2006 dem Gutachten der MEDAS Interlaken vom 13. September 2006 Beweiskraft zugemessen habe. Immerhin verwies der RAD-Arzt selbst auf die Rechtsprechung zur somatoformen Schmerzstörung, die "hier zur Anwendung gelangen" könne. Dass er oder die Beschwerdegegnerin die einschlägigen Kriterien geprüft hätte, lässt sich aus dieser nicht näher begründeten Aussage - entgegen der Beschwerdeführerin - allerdings nicht ableiten. Ausserdem war die Rechtsfrage, ob ein mit zumutbarer Willensanstrengung nicht überwindbares unklares Beschwerdebild und somit eine invalidisierende Gesundheitsschädigung gegeben sei, nicht von den Ärzten, sondern von der IV-Stelle als Rechtsanwenderin zu prüfen und zu beantworten (vgl. BGE 137 V 64 E. 5.1 S. 69; Urteile 9C_337/2015 vom 7. April 2016 E. 4.3; 8C_33/2013 vom 13. Dezember 2013 E. 4.2.3 und 4.3.2, nicht publ. in: BGE 140 V 8, aber in SVR 2016 IV Nr. 7 S. 27; vgl. auch BGE 141 V 281 E. 5.2.1 S. 306). Dass sie dies getan hätte, ist aber in keiner Weise erkennbar. Die rentenzusprechende Verfügung ist, wie die Vorinstanz zutreffend festhält, bereits aus diesem Grund zweifellos unrichtig. Deswegen muss auch nicht nachträglich untersucht werden, ob die massgebenden Kriterien damals erfüllt waren (vgl. Urteile 9C_337/2015 vom 7. April 2016 E. 4.4; 9C_427/2014 vom 1. Dezember 2014 E. 2.3.2). Wiedererwägungsrechtlich fällt entscheidend ins Gewicht, dass der Beschwerdeführerin laut Gutachten vom 13. September 2006 aus rheumatologischer Sicht eine angepasste leichte Tätigkeit vollschichtig "ohne weiteres" zumutbar war, was eine Rentenberechtigung zweifellos ausschloss.
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4.2. Des Weiteren beruft sich die Beschwerdeführerin auf das Urteil U 546/06 vom 29. August 2007 im unfallversicherungsrechtlichen Verfahren. Darin bejahte das Bundesgericht die adäquate Kausalität der Beschwerden anhand der Schleudertrauma-Praxis (BGE 117 V 359), weil das Kriterium von Grad und Dauer der Arbeitsunfähigkeit in besonders ausgeprägter Weise gegeben sei (Urteil U 546/06 vom 29. August 2007 E. 3.5). Doch spricht dies nicht gegen die zweifellose Unrichtigkeit der Verfügung vom 15. Juni 2007. Denn im invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren ist nicht von Belang, ob ein Leiden als natürlich und adäquat kausal im Sinne der Rechtsprechung zum UVG zu betrachten ist, und selbst wenn die Kausalität zu bejahen ist, bedeutet dies weder in der Invaliden- noch in der Unfallversicherung, dass das Leiden auch invalidisierend ist (Urteile 9C_273/2008 vom 15. Dezember 2008 E. 4.3; 9C_320/2008 vom 26. August 2008 E. 4.3.2; vgl. auch BGE 133 V 549 E. 6 S. 553 ff.).
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4.3. Ferner hat das Bundesgericht zwar erst im einem Urteil aus dem Jahr 2010 ausdrücklich festgehalten, dass die Rechtsprechung zu den anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen (BGE 130 V 253; 131 V 48) sinngemäss auch auf die Frage Anwendung findet, ob eine spezifische und unfalladäquate HWS-Verletzung (Schleudertrauma) ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle invalidisierend wirkt (BGE 136 V 279). Dieser Hinweis vermag der Beschwerdeführerin freilich ebensowenig zu helfen, weil diese Praxis bereits zuvor in zahlreichen vergleichbaren Fällen ohne Weiteres angewendet worden war (vgl. z.B. Urteile 8C_180/2009 vom 8. Dezember 2009 E. 8.2; 8C_279/2008 vom 25. September 2008 E. 4; 8C_219/2007 vom 18. März 2008 E. 2.3.2; I 121/06 vom 27. April 2006 E. 1; I 281/05 vom 24. Oktober 2005 E. 6.1).
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4.4. Die Beschwerdeführerin bestreitet schliesslich die Beweiseignung des Gutachtens der ABI vom 24. September 2018, namentlich des psychiatrischen Teilgutachtens der ABI.
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4.4.1. Einerseits kann ihr nicht gefolgt werden, soweit sie dem kantonalen Gericht in diesem Zusammenhang eine Verletzung der Begründungspflicht vorwirft. Denn diese aus dem verfassungsmässigen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) fliessende Verpflichtung verlangt nicht, dass sich die Behörde mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzt und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt; vielmehr genügt es, wenn der Entscheid gegebenenfalls sachgerecht angefochten werden kann (BGE 136 I 184 E. 2.2.1 S. 188; BGE 134 I 83 E. 4.1 S. 88; BGE 133 III 439 E. 3.3 S. 445; je mit Hinweisen). Diese Anforderungen erfüllt das vorinstanzliche Urteil.
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4.4.2. Nicht offensichtlich unrichtig ist andererseits der Schluss der Vorinstanz, dass keine Anhaltspunkte aktenkundig sind oder substanziiert dargetan werden, die gegen den Beweiswert des psychiatrischen Teilgutachtens sprechen. Sowohl der Gutachter, Dr. med. C.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, als auch der RAD-Arzt med. pract. D.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, verweisen auf Ressourcen der Beschwerdeführerin und auf deutliche Diskrepanzen zwischen der subjektiv vollständigen Arbeitsunfähigkeit und dem privaten Aktivitätsniveau, die der Annahme einer wesentlichen Einschränkung der Arbeitsfähigkeit entgegenstehen. Daran ändert auch nichts, dass der Beschwerdeführerin schwerere Aktivitäten im Haushalt nicht mehr möglich sein sollen.
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5. Die Beschwerde ist offensichtlich unbegründet, weshalb sie im vereinfachten Verfahren nach Art. 109 Abs. 2 lit. a BGG ohne Durchführung eines Schriftenwechsels, mit summarischer Begründung und unter Verweis auf die Erwägungen im angefochtenen Entscheid (Art. 109 Abs. 3 BGG) erledigt wird.
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6. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 ATSG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der PKE Vorsorgestiftung Energie, Zürich, schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 13. August 2020
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Die Gerichtsschreiberin: Betschart
 
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