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Informationen zum Dokument  BGer 1B_379/2020  Materielle Begründung
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BGer 1B_379/2020 vom 11.08.2020
 
 
1B_379/2020
 
 
Urteil vom 11. August 2020
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Chaix, Präsident,
 
Bundesrichter Kneubühler, Bundesrichterin Jametti,
 
Gerichtsschreiberin Hänni.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
 
Dr. Diego Reto Gfeller,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich,
 
Abteilung für schwere Gewaltkriminalität.
 
Gegenstand
 
Anordnung von Untersuchungshaft,
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts
 
des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 13. Juli 2020
 
(UB200112).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich führt eine Strafuntersuchung gegen A.________ wegen (schwerer) Körperverletzung zum Nachteil seiner Zwillingstöchter B.________ und C.________, geboren am (......) 2020. Ebenfalls beschuldigt ist die Freundin/Verlobte des Beschwerdeführers bzw. Kindsmutter.
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Nach einer Untersuchung von B.________ am 21. Juni 2020 im Universitäts-Kinderspital Zürich erstattete dieses am 23. Juni 2020 Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Verdachts auf schwere Körperverletzung bzw. Kindsmisshandlung durch ein Schütteltrauma zum Nachteil von B.________. C.________ wurde ebenfalls im Kinderspital aufgenommen und untersucht. A.________ und die Mitbeschuldigte wurden am 23. Juni 2020 verhaftet.
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B. Mit Verfügung vom 25. Juni 2020 versetzte das Zwangsmassnahmengericht des Bezirks Zürich A.________ in Untersuchungshaft. Die von ihm dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürichs mit Entscheid vom 13. Juli 2020 ab.
3
C. Mit Eingabe vom 20. Juli 2020 führt A.________ Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Er beantragt, das Urteil der Vorinstanz sei aufzuheben und er sei umgehend auf freien Fuss zu setzen. Es sei ihm ausserdem die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren.
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Die Staatsanwaltschaft sowie das Obergericht verzichten auf eine Stellungnahme.
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Erwägungen:
 
1. Die Beschwerde richtet sich gegen einen Haftanordnungsentscheid der kantonalen Beschwerdeinstanz (Art. 222 i.V.m. Art. 225 f. StPO). Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG offen. Der Beschwerdeführer nahm vor der Vorinstanz am Verfahren teil und befindet sich nach wie vor in Haft. Er ist deshalb nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, so dass auf die Beschwerde grundsätzlich einzutreten ist.
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2. Der Beschwerdeführer verzichtet vor Bundesgericht - wie bereits im vorinstanzlichen Verfahren - auf Ausführungen zum dringenden Tatverdacht, ohne diesen jedoch anzuerkennen. Er ist jedoch der Ansicht, die Vorinstanz habe zu Unrecht Kollusionsgefahr angenommen.
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2.1. Der Haftgrund der Kollusionsgefahr liegt vor, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass die bzw. der Beschuldigte Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen (Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO). Verdunkelung kann nach der bundesgerichtlichen Praxis insbesondere in der Weise erfolgen, dass sich die beschuldigten Personen mit Zeuginnen oder Zeugen, Auskunftspersonen, Sachverständigen oder mitbeschuldigten Personen ins Einvernehmen setzen oder sie zu wahrheitswidrigen Aussagen veranlassen, oder dass sie Spuren und Beweismittel beseitigen. Strafprozessuale Haft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass der oder die Beschuldigte die wahrheitsgetreue Abklärung des Sachverhaltes vereitelt oder gefährdet. Die theoretische Möglichkeit, dass die beschuldigte Person kolludieren könnte, genügt indessen nicht, um Haft unter diesem Titel zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Indizien für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sprechen (BGE 137 IV 122 E. 4.2 S. 127 f.; Urteil 1B_560/2019 vom 5. Dezember 2019 E. 2.1; je mit Hinweisen).
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2.2. Konkrete Anhaltspunkte für Kollusionsgefahr können sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes namentlich ergeben aus dem bisherigen Verhalten der beschuldigten Person im Strafprozess, aus ihren persönlichen Merkmalen, aus ihrer Stellung und ihren Tatbeiträgen im Rahmen des untersuchten Sachverhaltes sowie aus den persönlichen Beziehungen zwischen ihr und den sie belastenden Personen. Bei der Frage, ob im konkreten Fall eine massgebliche Beeinträchtigung des Strafverfahrens wegen Verdunkelung droht, ist auch der Art und Bedeutung der von Beeinflussung bedrohten Aussagen bzw. Beweismittel, der Schwere der untersuchten Straftaten sowie dem Stand des Verfahrens Rechnung zu tragen (BGE 132 I 21 E. 3.2.1 S. 23 f. mit Hinweisen). Je weiter das Strafverfahren vorangeschritten ist und je präziser der Sachverhalt bereits abgeklärt werden konnte, desto höhere Anforderungen sind an den Nachweis von Verdunkelungsgefahr zu stellen (BGE 137 IV 122 E. 4.2 S. 127 f. mit Hinweisen). Das Haftgericht hat auch zu prüfen, ob einem gewissen Kollusionsrisiko schon mit geeigneten Ersatzmassnahmen für strafprozessuale Haft ausreichend begegnet werden könnte (Art. 212 Abs. 2 lit. c i.V.m. Art. 237 f. StPO; vgl. BGE 140 IV 74 E. 2.2 S. 78 mit Hinweisen).
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2.3. Die Vorinstanz erwog, es sei beim Beschwerdeführer von Kollusionsgefahr auszugehen, zwar nicht zu den beiden Hebammen, aber zu den Eltern des Beschwerdeführers und jenen der Mitbeschuldigten, zur Kollegin D.________ und zu den Nachbarinnen und Nachbarn. Diese Personen im persönlichen Umfeld seien noch einzuvernehmen und gegebenenfalls mit dem Beschwerdeführer zu konfrontieren. Den Aussagen dieser Personen komme umso grösseres Gewicht zu, als der Beschwerdeführer und die Mitbeschuldigte bislang von ihren Aussageverweigerungsrechten Gebrauch gemacht hätten. Diese fehlende Kooperationswilligkeit vermöge zwar die Kollusiongefahr nicht zu begründen, führe jedoch zur Höhergewichtung der Aussagen Dritter.
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Es gehe ausserdem nicht darum, Abklärungen zu einem vermeintlich delinquenten Umfeld vorzunehmen oder abzuklären ob die Beschuldigten gute Eltern seien. Es müsse eruiert werden, ob die genannten Personen zum interessierenden Sachverhalt Aussagen machen könnten. Es entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, dass junge und "frischgebackene" Eltern sich Personen in ihrem Umfeld anvertrauten, um Rat zu suchen, Schwierigkeiten und gegebenenfalls auch Entgleisungen zu schildern. Solche Umfelderhebungen seien vorliegend umso mehr angezeigt, als es Hinweise auf Gewaltanwendung gebe, die sich noch vor der Einweisung bzw. Aufnahme der Zwillinge im Kinderspital ereignet hätten. Es sei anzunehmen, dass es bereits vor dem bei B.________ diagnostizierten Schütteltrauma zu erheblichen physischen Einwirkungen auf die Kinder (zumindest C.________) gekommen sei und man entsprechend nicht von einem einmaligen Vorfall ausgehen könne.
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2.4. Dagegen wendet der Beschwerdeführer ein, die Vorinstanz habe sich nicht mit der Frage beschäftigt, welche Personen aus welchem Grund kollusionsgefährdet sein könnten. Dies sei bundesrechtswidrig.
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D.________ und die Mutter der Mitbeschuldigten seien mittlerweile einvernommen worden. Keine der beiden Zeuginnen sei anlässlich des Vorgeworfenen zugegen gewesen und keine habe belastende Aussagen getätigt. Allgemeine Leumundszeugen seien nicht ausreichend, die Kollusionsgefahr zu begründen. Diese Einvernahmen seien zwar zum Zeitpunkt des vorinstanzlichen Verfahrens noch nicht in den Akten gelegen; man dürfe sie jedoch zur Entlastung des Beschwerdeführers verwerten. Es widerspreche ausserdem Treu und Glauben, diese Protokolle so lange zurückzuhalten und unter Hinweis auf diese noch ausstehenden Einvernahmen Kollusionsgefahr begründen zu wollen.
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Die anderen Personen aus dem näheren Umfeld, namentlich die Nachbarn und die übrigen Elternteile des Beschwerdeführers und der Mitbeschuldigten hätten den Beschwerdeführer seit der Geburt der Zwillinge nie gesehen. Die Einvernahmen würden somit nichts Tatrelevantes zutage fördern. Der blosse Umstand, dass gewisse Personen noch nicht befragt worden seien, reiche nicht für die Annahme von Kollusionsgefahr aus. Vielmehr müssten die erwarteten Aussagen für die Strafuntersuchung erheblich sein. Die Behörden müssten zudem angeben können, weshalb eine genau bezeichnete Person kollusionsgefährdet sei. Die Vorinstanz mache jedoch keine Aussagen zur persönlichen Nähe zwischen den zu befragenden Personen und dem Beschwerdeführer und die "Art und Bedeutung" der bedrohten Beweismittel sei derart gering, dass die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nicht gerechtfertigt sei.
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Ausserdem könne sich die Staatsanwaltschaft nicht auf die Kollusionsgefahr berufen, wenn sie sich weigere, eine Konfrontationseinvernahme durchzuführen. Gemäss Urteil 1B_560/2019 vom 5. Dezember 2019 begründe auch der Umstand, dass ein Siegelungsverfahren hängig sei, keine Kollusionsgefahr.
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2.5. Dem Beschwerdeführer ist zwar darin zuzustimmen, dass allenfalls in Bezug auf D.________ und der Mutter der Mitbeschuldigten keine Kollusionsgefahr mehr zu bestehen scheint. Bezüglich der weiteren von der Staatsanwaltschaft und der Vorinstanz genannten Personen, namentlich der restlichen Elternteilen des Beschwerdeführers und der Mitbeschuldigten, sowie der Nachbarinnen und Nachbarn, überzeugen die Einwendungen des Beschwerdeführers jedoch nicht. Die Vorinstanz hat schlüssig dargelegt, dass den Aussagen der genannten Personen im persönlichen Umfeld des Beschwerdeführers im vorliegenden Verfahren grosses Gewicht zukommt. Dies ist einerseits darauf zurückzuführen, dass sowohl der Beschwerdeführer wie auch die Mitbeschuldigte bis jetzt von ihren Aussageverweigerungsrechten Gebrauch gemacht haben. Andererseits gibt es gemäss der Vorinstanz Hinweise darauf, dass das bei B.________ festgestellte Schütteltrauma nicht die einzige physische Einwirkung auf die Kinder gewesen ist und somit nicht von einem einmaligen Vorfall auszugehen ist. Die genannten Personen können gegebenenfalls auch über andere allfällige Vorfälle Aussagen machen. Es spielt somit auch keine Rolle, ob der Beschwerdeführer die genannten Personen seit der Geburt der Zwillinge persönlich getroffen hat oder - wie der Beschwerdeführer behauptet - nicht. Die Bedeutung der von einer Beeinflussung bedrohten Aussagen ist somit sehr hoch.
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Die Vorinstanz hat ausserdem aufgezeigt, dass aufgrund der persönlichen Beziehungen zwischen dem Beschwerdeführer und der Mitbeschuldigten einerseits und den genannten zu befragenden Personen andererseits Kollusionsgefahr besteht. Zurecht führt sie aus, es entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, dass "frischgebackene" Eltern sich Personen in ihrem Umfeld anvertrauen. Die Vorinstanz zählt unter anderem die Eltern der beiden Beschuldigten zum persönlichen Umfeld; dies ist naheliegend und bedarf keiner weiteren Ausführungen. Die persönliche Beziehung zu den Nachbarinnen und Nachbarn ergibt sich ohne Weiteres aus deren unmittelbarer Nähe zur Wohnung der Beschuldigten.
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Schliesslich stützt sich die Vorinstanz entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers weder auf den Umstand, dass noch keine Konfrontationseinvernahme durchgeführt wurde, noch auf das hängige Siegelungsverfahren, um die Kollusionsgefahr zu begründen.
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2.6. Auch aus dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit vermag der Beschwerdeführer kein Hafthindernis abzuleiten. Er beschränkt seine Vorbringen zur Verhältnismässigkeit auf die bereits widerlegte Argumentation, es bestehe keine Kollusionsgefahr. Auch sonst erweist sich die Untersuchungshaft derzeit noch nicht als unverhältnismässig.
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3. Die Beschwerde ist abzuweisen.
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Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, ist das Gesuch zu bewilligen (Art. 64 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
 
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
2.2. Rechtsanwalt Diego Gfeller wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- (pauschal, inkl. MWST) entschädigt.
 
3. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 11. August 2020
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Chaix
 
Die Gerichtsschreiberin: Hänni
 
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