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Informationen zum Dokument  BGer 9C_329/2020  Materielle Begründung
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BGer 9C_329/2020 vom 06.08.2020
 
 
9C_329/2020
 
 
Urteil vom 6. August 2020
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Meyer, Stadelmann,
 
Gerichtsschreiberin Oswald.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Advokat Nicolai Fullin,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,
 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (berufliche Massnahmen),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
 
vom 16. April 2020 (VBE.2019.410).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Der 1972 geborene, zuletzt als Bauarbeiter tätige A.________ meldete sich nach einem Unfall am 15. September 2017 im Januar 2018 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau (fortan: IV-Stelle) zog die Akten der Suva bei und traf erwerbliche und medizinische Abklärungen. Mit Mitteilung vom 26. Januar 2018 gewährte sie Frühinterventionsmassnahmen in Form von Beratung und Unterstützung bei der beruflichen Integration. Mit Verfügung vom 30. April 2019 verneinte sie einen Anspruch auf berufliche Massnahmen.
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B. Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 16. April 2020 ab.
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C. Der Versicherte führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, es sei der Entscheid der Vorinstanz vom 16. April 2020 abzuändern, die Verfügung der IV-Stelle vom 30. April 2019 aufzuheben und diese zu verpflichten, ihm berufliche Massnahmen (Berufsberatung und Arbeitsvermittlung) zu gewähren.
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Erwägungen:
 
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; zum Ganzen vgl. BGE 145 V 57 E. 4 S. 61 f.).
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2. Strittig ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf Berufsberatung (Art. 15 IVG) und auf Arbeitsvermittlung (Art. 18 Abs. 1 lit. a IVG).
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Der Versicherte verfügt unbestritten über eine volle Arbeitsfähigkeit in angepasster, wechselbelastender, körperlich leichter bis mittelschwerer Tätigkeit mit folgenden Voraussetzungen: Keine Tätigkeiten in unebenem Gelände oder mit repetitivem Treppensteigen insbesondere unter Gewichtsbelastung; keine knienden und/oder kauernden Tätigkeiten, keine Tätigkeiten die mit Schlägen für das linke Bein verbunden sind oder mit längerem durchgehendem Gehen von mehr als 30 Minuten.
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3.
 
 
3.1.
 
3.1.1. Das kantonale Gericht erwog, Anspruch auf eine Berufsberatung bestehe grundsätzlich, wenn Versicherte infolge Invalidität in der Berufswahl oder in der Ausübung ihrer bisherigen Tätigkeit behindert seien. Der Anspruch entfalle, wenn für eine notwendige berufliche Neuorientierung keine besonderen Kenntnisse über die Möglichkeiten behinderungsangepasster Tätigkeiten erforderlich seien, weil der betroffenen Person eine Vielzahl solcher Beschäftigungen offen stünden, bzw. wenn die versicherte Person ohne Massnahmen in der Lage sei, einen ihren Verhältnissen angepassten Beruf zu wählen. Dem Belastungsprofil des Versicherten (soeben E. 2) entsprechende Tätigkeiten seien auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt zahlreich vorhanden. Darunter fielen etwa Überwachungs-, Bedienungs- und Kontrollarbeiten, leichte Montagearbeiten, sowie industrielle Fertigungs- oder Abpackarbeiten. Bei diesem breiten Angebot an behinderungsangepassten Tätigkeiten seien für eine berufliche Neuorientierung keine besonderen Kenntnisse notwendig; ein Anspruch auf Berufsberatung sei zu verneinen.
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3.1.2. Der Beschwerdeführer verweist darauf, es genüge für die Begründung eines Anspruchs auf Berufsberatung bereits ein geringes Mass an gesundheitlich bedingten Schwierigkeiten bei der Berufswahl oder in der Ausübung der bisherigen Tätigkeit (Urteil 9C_534/2010 vom 10. Februar 2011 E. 3.2 mit Verweis auf BGE 114 V 29 E. 1a S. 29), wobei er unbestritten die bisherige Tätigkeit auf dem Bau aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen nicht mehr ausüben könne.
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3.1.3. Dabei übersieht er, dass auch berufliche Massnahmen den allgemeinen Leistungsanforderungen gemäss Art. 8 Abs. 1 IVG unterliegen (Verhältnismässigkeit; vgl. MEYER/REICHMUTH, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, 3. Aufl. 2014, N. 5 zu Art. 15 IVG). In diesem Sinne können gegebenenfalls niederschwellige Massnahmen wie etwa Orientierungsgespräche ausreichend sein (vgl. zit. Urteil 9C_534/2010 E. 3.2 i.f.).
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Die Vorinstanz hat hinsichtlich der bereits erfolgten berufsberaterischen Massnahmen keine Feststellungen getroffen. Der insoweit unvollständige Sachverhalt kann indes aufgrund der liquiden Aktenlage ergänzt werden (oben E. 1; BGE 143 V 177 E. 4.3 S. 188; 140 V 22 E. 5.4.5 S. 31 f.). Dieser ist zu entnehmen, dass dem Versicherten durch die Invalidenversicherung Frühinterventionsmassnahmen in Form von Beratung und Unterstützung bei der beruflichen Integration gewährt wurden (Art. 7d Abs. 2 IVG; Mitteilung vom 26. Februar 2018) und in diesem Zusammenhang ein Beratungsgespräch stattfand. Sodann veranlasste die Suva eine berufliche Standortbestimmung, die am 25. Mai 2018 in der Klinik B.________ durchgeführt wurde. Die angebotene berufliche Grundabklärung lehnte der Versicherte ab (Bericht vom 1. Juni 2018). Demnach steht fest, dass der Beschwerdeführer in den Genuss von Berufsberatung gekommen ist (Standortbestimmungs- und Orientierungsgespräche), wobei nicht ausschlaggebend ist, dass diese bereits im Stadium der Frühintervention und teilweise durch die Suva erfolgte. Welche weiteren berufsberaterischen Hilfestellungen zur Wiedereingliederung notwendig und geeignet (Art. 8 Abs. 1 lit. a IVG) sein sollten, legt er weder dar noch ist es ersichtlich, zumal die Verwaltung ihm aufzeigte, welche Art von leidensangepassten Stellen für ihn auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt in Frage kommen (etwa: Kontroll- oder Sortierarbeiten am Fliessband oder leichte Verpackungsarbeiten). Aktenkundig hat der Beschwerdeführer in der Schweiz bereits als Mitarbeiter in einem Logistikcenter in der Verpackung/Fertigung gearbeitet, weshalb ihm solche Tätigkeiten jedenfalls nicht vollkommen fremd sind. Im Ergebnis hat die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzt, indem sie einen Anspruch auf (weitere) Berufsberatung verneint hat.
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3.2.
 
3.2.1. Hinsichtlich des Anspruchs auf Arbeitsvermittlung stellte das Versicherungsgericht fest, der Beschwerdeführer sei aufgrund von Beinbeschwerden in seiner Arbeitsfähigkeit (qualitativ) eingeschränkt. Diese würden sich indes bei der Stellensuche nicht negativ auswirken und es seien die dadurch verursachten Einschränkungen nicht derart aussergewöhnlich, dass einem potenziellen Arbeitgeber die Möglichkeiten und Grenzen des Versicherten erläutert werden müssten. Lägen demnach keine spezifischen Einschränkungen gesundheitlicher Art vor, sei davon auszugehen, dass der Versicherte eine angepasste Arbeitsstelle auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt ohne Vermittlung der IV-Stelle finden könne. Ein Anspruch auf Arbeitsvermittlung sei zu verneinen.
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3.2.2. Der Beschwerdeführer rügt, das kantonale Gericht stütze sich auf veraltete rechtliche Grundlagen. Seit der 5. IV-Revision seien spezifische gesundheitsbedingte Einschränkungen nicht mehr Voraussetzung für einen Anspruch auf Arbeitsvermittlung, sondern es hätten nunmehr alle eingliederungsfähigen, in der bisherigen Tätigkeit arbeitsunfähigen Versicherten Anspruch auf Arbeitsvermittlung durch die Invalidenversicherung, mithin auch Hilfsarbeiter, die in einer angepassten Tätigkeit noch voll arbeitsfähig seien (Botschaft zur 5. IV-Revision Ziff. 1.6.1.3.2 S. 4524). Der Versicherte könne seine angestammte Tätigkeit als Bauarbeiter nicht mehr ausüben und sei in einer Verweistätigkeit ebenfalls eingeschränkt. Bei im Übrigen unbestrittener Vermittlungsfähigkeit bestehe Anspruch auf Arbeitsvermittlung.
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3.2.3. Art. 18 Abs. 1 IVG setzt als Anspruchsvoraussetzung eine Arbeitsunfähigkeit im Sinne von Art. 6 ATSG voraus. Damit ist nicht nur dessen erster Satz gemeint, sondern ist auch auf den zweiten verwiesen: "Bei langer Dauer wird auch die zumutbare Tätigkeit in einem anderen Beruf oder Aufgabenbereich berücksichtigt." Bei - qualitativ und quantitativ - voller Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit besteht mit Blick auf Art. 6 zweiter Satz ATSG keine Arbeitsunfähigkeit und mithin auch kein Anspruch auf Arbeitsvermittlung (Urteil 9C_236/2012 vom 15. Februar 2013 E. 3.7 mit Hinweisen). Ein solcher setzt auch nach Inkrafttreten der 5. IV-Revision (am 1. Januar 2008, AS 2007 5147) bei voller Zumutbarkeit leichter Tätigkeiten zusätzlich eine spezifische Einschränkung gesundheitlicher Art voraus. Ist die fehlende berufliche Eingliederung nicht auf gesundheitlich bedingte Schwierigkeiten bei der Stellensuche zurückzuführen, sondern auf invaliditätsfremde Probleme, sind die Voraussetzungen für Arbeitsvermittlung durch die Invalidenversicherung nicht erfüllt (SVR 2010 IV Nr. 48 S. 149, 9C_416/2009 vom 1. März 2010. E. 2.2 und 5.2; Urteile 9C_142/2015 vom 5. Juni 2015 E. 4.3; 9C_966/2011 vom 4. Mai 2012 E. 3.2; MEYER/REICHMUTH, a.a.O., N. 6 zu Art. 18 IVG).
13
Der am Recht stehende Versicherte verfügt über eine volle Arbeitsfähigkeit in angepasster Tätigkeit (vgl. dazu oben E. 3.1.1; zum Belastungsprofil oben E. 2). Inwiefern sich in einer solchen seine gesundheitlichen Einschränkungen auswirken sollten, zeigt er weder auf noch ist es ersichtlich. Vielmehr beschränkt er sich darauf, auf die - invaliditätsfremden - Schwierigkeiten aufgrund seiner fehlenden Bildung und Sprachkenntnisse sowie seines kulturellen Hintergrunds zu verweisen. Damit dringt er nicht durch. Ein Anspruch auf Arbeitsvermittlung besteht nicht.
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4. Die Beschwerde ist nach dem Gesagten unbegründet.
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5. Dem Verfahrensausgang entsprechend trägt der Beschwerdeführer die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
16
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 6. August 2020
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Die Gerichtsschreiberin: Oswald
 
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