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Informationen zum Dokument  BGer 6B_390/2020  Materielle Begründung
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BGer 6B_390/2020 vom 23.07.2020
 
 
6B_390/2020
 
 
Urteil vom 23. Juli 2020
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, Präsident,
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
 
Bundesrichterin van de Graaf,
 
Gerichtsschreiberin Schär.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Oliver Jucker,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Einsprache gegen Strafbefehl, Wiederherstellung der Einsprachefrist (Diebstahl); Willkür,
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 13. Februar 2020 (UH190205-O/U/HEI).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Am 15. Mai 2019 wurde A.________ auf frischer Tat bei einem Ladendiebstahl erwischt. Mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland vom 17. Mai 2019 wurde er wegen Diebstahls mit einer vollziehbaren Freiheitsstrafe von sechs Monaten bestraft.
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B. Gegen den Strafbefehl liess A.________, verbunden mit einem Gesuch um Wiederherstellung der Einsprachefrist, am 20. Juni 2019 durch seinen Rechtsvertreter, Einsprache bei der Staatsanwaltschaft erheben. Mit Entscheid vom 1. Juli 2019 verfügte die Staatsanwaltschaft die Abweisung des Fristwiederherstellungsgesuchs.
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C. Gegen die Abweisung des Fristwiederherstellungsgesuchs erhob A.________ Beschwerde beim Obergericht des Kantons Zürich. Mit Beschluss vom 13. Februar 2020 wies das Obergericht die Beschwerde ab.
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D. A.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, der Beschluss des Obergerichts vom 13. Februar 2020 sei aufzuheben und das Gesuch um Wiederherstellung der Einsprachefrist sei gutzuheissen. Eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zur Neuentscheidung zurückzuweisen. In prozessualer Hinsicht beantragt A.________, der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht er zudem um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
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Mit Schreiben vom 31. März 2020 wurde A.________ mitgeteilt, dass der Beschwerde in Strafsachen gestützt auf Art. 103 Abs. 2 lit. b BGG vorliegend von Gesetzes wegen die aufschiebende Wirkung zukomme, weshalb sich sein Gesuch um aufschiebende Wirkung als gegenstandslos erweise.
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Erwägungen:
 
 
1.
 
1.1. Die Vorinstanz ist der Ansicht, es sei erstellt, dass die Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers für das Verständnis des Strafbefehls ausreichend seien und er somit keinen Anspruch auf Wiederherstellung der Einsprachefrist habe. Der Beschwerdeführer sei auf frischer Tat bei einem Diebstahl ertappt worden und habe den klar definierten Vorwurf noch vor Ort eingestanden. Besondere tatsächliche oder rechtliche Probleme hätten nicht bestanden. Zudem habe der Beschwerdeführer, der explizit verneint habe, eine Übersetzung zu benötigen, die ihm anlässlich der polizeilichen Einvernahme vom 15. Mai 2019 gestellten Fragen schlüssig und konzis beantwortet. Er habe sich auch nicht dazu veranlasst gesehen, das Informationsblatt für festgenommene Personen anstatt in deutscher in serbischer Sprache zu verlangen. Es sei sodann aktenkundig, dass der Beschwerdeführer nicht nur Serbisch, sondern auch Deutsch und Russisch spreche. Inwiefern die Polizei unter diesen Umständen gehalten gewesen sein soll, eine Übersetzung beizuziehen, sei nicht ersichtlich. Daran ändere der Verweis des Beschwerdeführers auf die in früheren Strafverfahren erforderliche Übersetzung nichts. Weder seien die Sachverhalte identisch noch sei sicher, ob damals eine Übersetzung wirklich notwendig gewesen sei. Ausserdem dürfte der Beschwerdeführer in der Zwischenzeit sprachliche Fortschritte gemacht haben. Weiter wisse der Beschwerdeführer aufgrund verschiedener Vorstrafen, dass der Schuld- und Strafpunkt im Dispositiv eines Entscheids vor und nicht nach den Kostenfolgen aufgeführt sei. Der Schuldspruch und die Bestrafung seien für den Beschwerdeführer damit ohne Weiteres erkennbar gewesen. Schliesslich wäre der Beschwerdeführer verpflichtet gewesen, sich nach dem Inhalt und der Tragweite des Entscheids zu erkundigen. Dies wäre für ihn ohne Weiteres möglich gewesen, denn der Beschwerdeführer lebe seit über zehn Jahren mit seiner (Ex-) Frau und vier Kindern (unter anderem einer 18-jährigen Tochter) in der Schweiz. Zudem habe zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Vertreter bereits zum Zeitpunkt der Eröffnung des Strafbefehls ein Mandatsverhältnis bestanden, weshalb er auch diesen hätte kontaktieren können. Objektive oder subjektive Gründe, die es dem Beschwerdeführer unmöglich gemacht hätten, die Einsprachefrist zu wahren, bestünden folglich nicht. Das Gesuch des Beschwerdeführers um Wiederherstellung der Einsprachefrist gegen den Strafbefehl erweise sich damit als unbegründet.
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1.2. Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen geltend, obwohl seine Deutschkenntnisse offensichtlich mangelhaft seien, habe die Staatsanwaltschaft auf eine Übersetzung verzichtet. Unter diesen Umständen treffe ihn kein Verschulden an der verpassten Einsprachefrist. Die Vorinstanz habe zudem eine Vielzahl von willkürlichen Annahmen getroffen und sei so fälschlicherweise zum Ergebnis gelangt, dass seine Deutschkenntnisse für das Verständnis des Strafbefehls ausgereicht hätten. Ihm könne nicht vorgeworfen werden, er hätte bei der polizeilichen Einvernahme vom 15. Mai 2019 selbst auf die Idee kommen müssen, ein in serbischer Sprache verfasstes Informationsblatt für Festgenommene zu verlangen. Vielmehr wäre es am einvernehmenden Polizisten gelegen, ihn darauf hinzuweisen, dass ein entsprechendes Informationsblatt existiere. Weiter macht der Beschwerdeführer geltend, in früheren Strafverfahren sei eine Übersetzung jeweils als erforderlich erachtet worden. Die Vorinstanz gehe ohne weitere Begründung davon aus, dass er seither sprachliche Fortschritte gemacht habe. Diese Annahme sei willkürlich, insbesondere, da das Bundesgericht in seinem Entscheid vom 3. Februar 2020 die Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung unter anderem mit einer mangelhaften sprachlichen Integration des Beschwerdeführers begründet habe. Weiter begründe die Vorinstanz ihren Entscheid damit, das Dispositiv des Strafbefehls sei logisch aufgebaut, weshalb sich der Beschwerdeführer nicht darauf berufen könne, die Verfahrenskosten mit einer monetären Sanktion verwechselt zu haben. Diese Begründung ziele derart eklatant an der gelebten Realität des nicht ausgebildeten fremdsprachigen Bauarbeiters vorbei, dass sie schlicht willkürlich sei. Auch in Bezug auf die familiären Verhältnisse gehe die Vorinstanz von falschen Annahmen aus. So lebe seine 18 Jahre alte, aus erster Ehe stammende Tochter in Serbien und spreche kein Deutsch. Seine drei anderen Kinder lebten von ihm getrennt und seien noch sehr klein. Es könne ihm daher nicht vorgeworfen werden, diese nicht um eine Übersetzung gebeten zu haben.
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1.3.
 
1.3.1. Hat eine Partei eine Frist versäumt und würde ihr daraus ein erheblicher und unersetzlicher Rechtsverlust erwachsen, so kann sie gemäss Art. 94 Abs. 1 StPO die Wiederherstellung der Frist verlangen. Das Gesuch ist innert 30 Tagen nach Wegfall des Säumnisgrundes schriftlich und begründet bei der Behörde zu stellen, bei welcher die versäumte Verfahrenshandlung hätte vorgenommen werden sollen. Innert der gleichen Frist muss die versäumte Verfahrenshandlung nachgeholt werden (Art. 94 Abs. 2 StPO).
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Die gesuchstellende Partei hat glaubhaft zu machen, dass sie an der Säumnis kein Verschulden trifft. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts kann die Wiederherstellung nur bei klarer Schuldlosigkeit gewährt werden. Jedes Verschulden einer Partei, ihres Vertreters oder beigezogener Hilfspersonen, so geringfügig es sein mag, schliesst die Wiederherstellung aus. Unverschuldet ist die Säumnis nur, wenn sie durch einen Umstand eingetreten ist, der nach den Regeln vernünftiger Interessenwahrung auch von einer sorgsamen Person nicht befürchtet werden muss oder dessen Abwendung übermässige Anforderungen gestellt hätte. Allgemein wird vorausgesetzt, dass es in der konkreten Situation unmöglich war, die Frist zu wahren oder jemanden damit zu betrauen (Urteil 6B_1167/2019 vom 16. April 2020 E. 2.4.2 mit Hinweisen). Die Rechtsprechung ist darin begründet, dass die Rechtskraft eines strafrechtlichen Urteils nicht leicht durchbrochen werden darf. Bei der Versäumnis gesetzlicher Fristen sind strengere Anforderungen zu stellen (Urteil 6B_968/2014 vom 24. Dezember 2014 E. 1.3 mit Hinweis).
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1.3.2. Versteht eine am Verfahren beteiligte Person die Verfahrenssprache nicht oder kann sie sich darin nicht genügend ausdrücken, so zieht die Verfahrensleitung eine Übersetzerin oder einen Übersetzer bei (Art. 68 Abs. 1 Satz 1 StPO). Der beschuldigten Person wird, auch wenn sie verteidigt wird, in einer ihr verständlichen Sprache mindestens der wesentliche Inhalt der wichtigsten Verfahrenshandlungen mündlich oder schriftlich zur Kenntnis gebracht. Ein Anspruch auf vollständige Übersetzung aller Verfahrenshandlungen sowie der Akten besteht nicht (Art. 68 Abs. 2 StPO). Die beschuldigte Person ist grundsätzlich nicht davon entbunden, ihren Übersetzungsbedarf anlässlich nicht übersetzter Verfahrenshandlungen zu signalisieren, resp. gehalten, sich über den Inhalt einer Verfügung zu erkundigen (BGE 145 IV 197 E. 1.3.3 S. 202 mit Hinweisen).
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1.4. Gemäss den vorinstanzlichen Feststellungen ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in der Lage war, den Strafbefehl zu verstehen, dessen Tragweite zu erfassen und die Notwendigkeit einer Einsprache abzuschätzen. Bereits die Staatsanwaltschaft hielt in ihrer Verfügung vom 1. Juli 2019 fest, der Beschwerdeführer sei der deutschen Sprache mächtig, weshalb er auf Deutsch habe einvernommen werden können. Seine Aussagen würden aufgrund des Inhalts, der Logik und der entsprechenden Antworten auf die gestellten Fragen davon zeugen, dass er genügend Deutsch verstehe. Auch die Vorinstanz weist darauf hin, dass der Beschwerdeführer in deutscher Sprache einvernommen werden konnte. Aus dem Einvernahmeprotokoll vom 15. Mai 2019 ergibt sich denn auch, dass der Beschwerdeführer in der Lage war, die gestellten Fragen adäquat zu beantworten. Wie die Vorinstanz zu Recht feststellt, gab er dabei ausdrücklich an, keine Übersetzung zu benötigen. Der Beschwerdeführer macht vorliegend nicht geltend, er habe der Einvernahme vom 15. Mai 2019 nicht folgen können. Es ist gestützt auf diese Umstände nicht willkürlich, wenn die Vorinstanz davon ausgeht, dass der Beschwerdeführer in der Lage war, den Inhalt des Strafbefehls zu verstehen. Aus dem Umstand, dass in früheren Verfahren eine Übersetzung erforderlich war und dem Beschwerdeführer in einem ausländerrechtlichen Verfahren mit Blick auf die Integration ungenügende sprachliche Fähigkeiten attestiert wurden, lässt sich nicht ableiten, dass er auch im vorliegenden, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht komplexen Verfahren, auf eine Übersetzung angewiesen war.
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Schliesslich durfte die Vorinstanz davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer, welcher seit über zehn Jahren in der Schweiz lebt, mit der Zeit gewisse sprachliche Fortschritte erzielt und ausserdem Personen in seinem Umfeld hat, die ihm bei der Übersetzung des Strafbefehls hätten behilflich sein können. Der Beschwerdeführer hätte zudem gegenüber den Behörden signalisieren können, dass er eine Übersetzung benötigt hätte. Er blieb in dieser Hinsicht jedoch untätig. Somit kann sich der Beschwerdeführer vorliegend nicht darauf berufen, ihn treffe keinerlei Verschulden in Bezug auf die verpasste Einsprachefrist. Der vorinstanzliche Entscheid verletzt daher kein Bundesrecht.
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2. Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, die Staatsanwaltschaft habe es unterlassen, eine notwendige Verteidigung zu bestellen, kann auf die Beschwerde mangels Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs (Art. 80 BGG) nicht eingetreten werden (zum Erfordernis der Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs BGE 143 III 290 E. 1.1 S. 292 f.; 134 III 524 E. 1.3 S. 527; Urteile 4A_554/2013 vom 6. November 2019 E. 6.2.4, nicht publiziert in: BGE 146 III 25; 6B_444/2020 vom 1. Juli 2020 E. 3.4; 6B_1186/2019 vom 9. April 2020 E. 1.4). Inwiefern ein Fall von notwendiger Verteidigung im Sinne von Art. 130 StPO vorliegen sollte, ist überdies nicht ersichtlich.
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3. Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Der Beschwerdeführer wird kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist infolge Aussichtslosigkeit abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 BGG e contrario). Seinen angespannten finanziellen Verhältnissen ist mit reduzierten Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 23. Juli 2020
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Denys
 
Die Gerichtsschreiberin: Schär
 
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