VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 1B_344/2020  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 04.08.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 1B_344/2020 vom 16.07.2020
 
 
1B_344/2020
 
 
Urteil vom 16. Juli 2020
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Chaix, Präsident,
 
Gerichtsschreiber Störi.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Bürgi,
 
gegen
 
1. Person 1,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Peter Jäger,
 
2. Person 3,
 
handelnd durch Kantonsspital Aarau AG,
 
3. Personen 2, 4, 5, 7, 9,
 
Beschwerdegegnerinnen,
 
Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm.
 
Gegenstand
 
Strafverfahren; Zusicherung der Anonymität,
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Aargau vom 2. Juni 2020 (ZM.2019.258).
 
 
Erwägungen:
 
 
1.
 
Die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm führt gegen A.________eine Strafuntersuchung wegen Drohung gegenüber Familienangehörigen und versuchter Tötung zum Nachteil seiner damaligen Freundin; er soll diese im Oktober 2016 im Kantonsspital Aarau im Wahn angegriffen und erst nach der Intervention des Personals von ihr abgelassen haben.
 
Auf Ersuchen verschiedener von der Kantonspolizei befragter Personen ordnete die Staatsanwaltschaft am 29. November 2019 die Anonymisierung des Vollzugsberichts vom 7. November 2019 und der zugehörigen Befragungsprotokolle an. Am 20. Dezember 2019 beantragte sie dem Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau, die zugesicherte Anonymität zu genehmigen.
 
Am 2. Juni 2020 genehmigte das Zwangsmassnahmengericht die zugesicherte Anonymität für die Personen 1, 2, 3, 4, 5, 7 und 9 (Dispositiv-Ziffer 1). Für die Personen 6, 8, 10, 11 und 12 genehmigte es diese nicht (Dispositiv-Ziffer 2).
 
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 3. Juli 2020 beantragt A.________, Dispositiv-Ziffer 1 dieses Entscheids aufzuheben und den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Genehmigung der Anonymisierung abzuweisen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbei ständung.
 
Vernehmlassungen wurden keine eingeholt.
 
 
2.
 
2.1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid, mit dem das Zwangsmassnahmengericht die Beschwerde gegen die Anonymisierung von Verfahrensbeteiligten abgewiesen hat; dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen zulässig (Art. 78 Abs. 1, Art. 80 BGG). Er schliesst das Verfahren indessen nicht ab; es handelt sich mithin um einen Zwischenentscheid, gegen den die Beschwerde zulässig ist, wenn er einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur (BGE 133 IV 139 E. 4) bewirken könnte (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG). Die zweite Voraussetzung fällt vorliegend ausser Betracht. Nach Art. 42 Abs. 2 BGG hat der Beschwerdeführer darzulegen, dass die Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind; bei der Anfechtung von Zwischenentscheiden hat er die Tatsachen anzuführen, aus denen sich der nicht wiedergutzumachende Nachteil ergeben soll, sofern dies nicht offensichtlich ist (BGE 138 III 46 E. 1.2 S. 47; zum Ganzen: BGE 141 IV 284 E. 2.3 S. 287, 289 E. 1.3 S. 292).
 
2.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Zusicherung der Anonymität gelte nicht nur bis zum Abschluss des Strafverfahrens, sondern darüber hinaus; sie sei wesensmässig nicht nur vorläufiger Natur. Sie erschwere die Verteidigung, da insbesondere die Möglichkeit zur wirksamen Überprüfung der anonym aussagenden Personen stark eingeschränkt sei. Dadurch sinke generell die Möglichkeit, ein günstiges Endurteil zu erlangen. Da er nicht wisse, wer gegen ihn ausgesagt habe, könne er diese Personen gegebenenfalls auch nicht ins Recht fassen, um sie z.B. wegen falscher Anschuldigung zu belangen. Dazu komme, dass das psychiatrische Vollgutachten, das auf den anonymisierten Aussagen beruhe, überarbeitet werden müsse, wenn der Sachrichter dereinst zum Schluss kommen sollte, dass die Anonymisierung ungesetzmässig gewesen sei. Das würde erfahrungsgemäss Monate dauern, was für ihn nicht zumutbar sei, da sich die Untersuchungshaft entsprechend verlängern würde.
 
2.3. Es trifft zwar in gewissem Sinn zu, dass die Zusicherung der Anonymität in der Regel über den Abschluss des Verfahrens hinaus andauert und daher nicht nur vorläufigen Charakter hat. Das ändert allerdings nichts daran, dass es sich um einen Zwischenentscheid handelt, der jederzeit noch - vom Verfahrensleiter des Strafgerichts - aufgehoben bzw. widerrufen werden kann, wenn die Voraussetzungen dafür nicht mehr gegeben sind (Art. 150 Abs. 4 StPO).
 
Es ist indessen nicht ersichtlich, inwiefern dem Beschwerdeführer durch die Anonymisierung überhaupt ein Nachteil erwächst, geschweige denn ein nicht wiedergutzumachender, weil die Verfahrensleitung bei allen Schutzmassnahmen verpflichtet ist, die Verteidigungsrechte des Beschuldigten - insbesondere auch dessen rechtliches Gehör - zu wahren (Art. 149 Abs. 5 StPO). Sollte sie dies nach der Auffassung des Beschwerdeführers nicht oder nur ungenügend tun, kann er dies beim Sachgericht rügen.
 
Im Übrigen ergibt sich aus dem angefochtenen Entscheid (E. 1 S. 2), dass die Akten mit den Namen der in den Vorfall involvierten Spitalmitarbeiter, deren Anonymisierung zugesichert wurde, dem Beschwerdeführer bzw. dessen Verteidiger herausgegeben wurden, bevor diese die Anonymisierung verlangt hatten. Deren Namen sind damit dem Beschwerdeführer bekannt, er kennt nur die Kontaktdaten wie Adressen und Telefonnummern nicht; inwiefern durch diesen Umstand die Ver teidigung erheblich beeinträchtigt würde, ist weder ersichtlich noch dargetan.
 
 
3.
 
Der angefochtene Entscheid bewirkt somit keinen nicht wiedergutzumachenden Nachteil im Sinn von Art. 93 Abs. 2 BGG, weshalb auf die Beschwerde nicht einzutreten ist, und zwar, weil das offenkundig ist, im vereinfachten Verfahren. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist abzuweisen, da die Beschwerde aussichtslos war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG), wobei auf die Erhebung von Kosten ausnahmsweise verzichtet werden kann.
 
 
 Demnach erkennt der Präsident:
 
 
1.
 
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
 
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.
 
 
3.
 
Es werden keine Kosten erhoben.
 
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm und dem Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 16. Juli 2020
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Chaix
 
Der Gerichtsschreiber: Störi
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).