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Informationen zum Dokument  BGer 1B_323/2020  Materielle Begründung
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BGer 1B_323/2020 vom 08.07.2020
 
 
1B_323/2020
 
 
Urteil vom 8. Juli 2020
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Kneubühler, präsidierendes Mitglied, Bundesrichterin Jametti, Bundesrichter Müller,
 
Gerichtsschreiber Härri.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Nicolas Facincani,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich.
 
Gegenstand
 
Sicherheitshaft,
 
Beschwerde gegen die Präsidialverfügung
 
des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 3. Juni 2020 (SB180404-O/Z4/cwo).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Am 5. März 2019 erkannte das Kreisgericht St. Gallen A.________ der qualifizierten Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz und weiterer Delikte schuldig. Es auferlegt ihm eine Freiheitsstrafe von 3 ˝ Jahren, unter Anrechnung der Untersuchungshaft und des vorzeitigen Strafvollzugs, sowie eine Geldstrafe. Überdies verwies es ihn für 5 Jahre des Landes. Dieses Urteil erwuchs in Rechtskraft.
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B. Am 3. Juni 2019 verurteilte das Obergericht des Kantons Zürich (I. Strafkammer) A.________ auf Berufung gegen ein Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 19. Juli 2018 hin wegen mehrfacher qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz und mehrfacher Übertretung desselben Gesetzes zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 8 Monaten sowie einer Busse; dies als Zusatzstrafe zum Urteil des Kreisgerichts St. Gallen. Die Untersuchungshaft von 169 Tagen rechnete es auf die Freiheitsstrafe an. Es verwies ihn für 6 Jahre des Landes.
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Dagegen erhob A.________ Beschwerde in Strafsachen. Die Angelegenheit ist bei der strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts hängig (Verfahren 6B_1031/2019).
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C. Am 30. April 2020 teilte das Amt für Justizvollzug des Kantons St. Gallen dem Obergericht des Kantons Zürich mit, es würde A.________ unter der Voraussetzung des Vollzugs der Landesverweisung nach Verbüssung von zwei Dritteln der vom Kreisgericht St. Gallen ausgesprochenen Freiheitsstrafe am 18. Juli 2020 bedingt aus dem Strafvollzug entlassen, sofern im nunmehr beim Bundesgericht hängigen Verfahren zur Sicherung des Strafverfahrens bzw. -vollzugs keine Sicherheitshaft angeordnet werde.
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Mit Verfügung vom 3. Juni 2020 versetzte der Präsident der I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich A.________ nach dem Vollzug der mit Urteil des Kreisgerichts St. Gallen ausgefällten Strafe in Sicherheitshaft. Der Kammerpräsident bejahte den dringenden Tatverdacht und Fluchtgefahr. Ob weitere Haftgründe gegeben seien, liess er offen. Mildere Ersatzmassnahmen anstelle der Sicherheitshaft erachtete er als untauglich.
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D. A.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, die Verfügung des Kammerpräsidenten vom 3. Juni 2020 aufzuheben. Es sei keine Sicherheitshaft anzuordnen.
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E. Die Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich und der Kammerpräsident haben auf Vernehmlassung verzichtet.
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Erwägungen:
 
1. Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die Beschwerde in Strafsachen gegeben. Die Vorinstanz war für die Anordnung der Sicherheitshaft weiterhin zuständig, auch wenn die Sache inzwischen bei der strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts anhängig gemacht worden war (Urteil 1B_136/2013 vom 22. April 2013 E. 2 mit Hinweisen). Die Vorinstanz entschied als einzige kantonale Instanz (Art. 232 Abs. 2 i.V.m. 380 StPO). Die Beschwerde ist daher nach Art. 80 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Die angefochtene Verfügung stellt einen Zwischenentscheid dar, der dem Beschwerdeführer einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken kann. Die Beschwerde ist somit auch insoweit zulässig. Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen sind ebenfalls erfüllt und geben zu keinen Bemerkungen Anlass.
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2. Das Bundesgericht hat die vorinstanzlichen Akten beigezogen. Dem entsprechenden Antrag (Beschwerde S. 6 Ziff. 7) ist damit Genüge getan.
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3.
 
3.1. Gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO ist Sicherheitshaft zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht.
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Der Beschwerdeführer anerkennt den dringenden Tatverdacht. Er macht geltend, es fehle an der Fluchtgefahr.
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3.2. Der Haftgrund der Fluchtgefahr bezweckt die Sicherung der Anwesenheit der beschuldigten Person im Verfahren. Ob Fluchtgefahr besteht, ist nach der Rechtsprechung aufgrund einer Gesamtwürdigung aller wesentlichen Umstände zu beurteilen. Zu berücksichtigen sind insbesondere der Charakter des Beschuldigten, seine moralische Integrität, seine finanziellen Mittel, seine Verbindungen zur Schweiz, seine Beziehungen zum Ausland und die Höhe der ihm drohenden Strafe. Die Umstände müssen die Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Dass der Beschuldigte in einen Staat fliehen könnte, welcher ihn an die Schweiz ausliefern könnte, steht der Annahme von Fluchtgefahr nicht entgegen (BGE 145 IV 503 E. 2.2 S. 507 mit Hinweisen).
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Wer im Falle einer Haftentlassung aus der Schweiz ausgewiesen wird, dürfte kaum mehr einen Anlass sehen, sich dem hiesigen Verfahren zu stellen (HUG/SCHEIDEGGER, in: Donatsch und andere [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 17 zu Art. 221 StPO).
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3.3. Würde von der Sicherheitshaft abgesehen, würde der Beschwerdeführer - wie er selber darlegt (Beschwerde S. 11 Ziff. 22) - gestützt auf das rechtskräftige Urteil des Kreisgerichts St. Gallen nach Vollzug von zwei Dritteln der von diesem ausgesprochenen Freiheitsstrafe des Landes verwiesen. Aufgrund des obergerichtlichen Urteils vom 3. Juni 2019 droht ihm eine neuerliche mehrjährige Freiheitsstrafe. Dass er sich - einmal des Landes verwiesen - dem Vollzug einer derartigen Strafe stellen würde, erscheint wenig wahrscheinlich. Er wurde 1969 in Mazedonien geboren. Dort besuchte er die Schule und machte er die Ausbildung. Er ist mazedonischer Staatsangehöriger. In seinem Heimatland leben nach wie vor seine Eltern, die er während den Ferien jeweils besuchte. Er hat somit in Mazedonien immer noch nahe Angehörige. Aufgrund seiner Heirat mit einer Italienerin besitzt er überdies die italienische Staatsbürgerschaft. Nach seinen eigenen Angaben spricht er sehr gut italienisch. Er hat eine solide Berufsausbildung (Hotelfachmann) und lebt in vergleichsweise stabilen finanziellen Verhältnissen, was sich auch daran zeigt, dass er im vorliegenden bundesgerichtlichen Verfahren kein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt und den Kostenvorschuss anstandslos bezahlt hat. Dies alles spricht dafür, dass es ihm ohne Weiteres gelingen würde, im Ausland (wieder) Fuss zu fassen. Seine Auslieferung an die Schweiz hätte er als entsprechender Staatsbürger wohl weder aus Mazedonien noch Italien zu befürchten. Seine beiden Kinder sind erwachsen und damit auf seine Betreuung nicht mehr angewiesen. Den Kontakt mit ihnen kann er auch aufrechterhalten, wenn er im Ausland bleibt. Das Kreisgericht St. Gallen erachtete es als erwiesen, dass er mit grossen Mengen harter Drogen handelte. Bei der Strafzumessung warf es ihm einen hohen Grad an krimineller Energie vor. Dies erweckt Zweifel an seiner charakterlichen Integrität.
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Zwar begab sich der Beschwerdeführer während der Strafuntersuchung verschiedentlich nach Mazedonien und kehrte er danach jeweils wieder in die Schweiz zurück. Mit seiner Verurteilung durch das Obergericht - vor dem er praktisch vollumfänglich auf Freispruch plädierte - hat sich für ihn jedoch inzwischen die Aussicht, dass er eine neuerliche mehrjährige Freiheitsstrafe verbüssen muss, erheblich konkretisiert. Denn die strafrechtliche Abteilung kann die für den Schuldspruch entscheidende obergerichtliche Beweiswürdigung nicht mehr frei, sondern nur noch auf Willkür hin prüfen (Art. 97 Abs. 1 BGG; BGE 146 IV 88 E. 1.3.1 S. 91 f. mit Hinweisen).
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Es bestehen demnach gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass sich der Beschwerdeführer dem Vollzug der ihm im neuen Verfahren drohenden Freiheitsstrafe entziehen würde. Wenn die Vorinstanz Fluchtgefahr bejaht hat, hält das daher vor Bundesrecht stand. Dies gilt auch, wenn man berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer lange in der Schweiz wohnte.
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4. Der Beschwerdeführer macht geltend, eine Meldepflicht und eine elektronische Überwachung genügten zur Bannung der Fluchtgefahr.
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Diese Ersatzmassnahmen sind untauglich, da der Beschwerdeführer, wie dargelegt, bei einem Verzicht auf die Sicherheitshaft des Landes verwiesen würde. Dass andere Ersatzmassnahmen infrage kämen, um seine Anwesenheit für den Vollzug der ihm im neuen Verfahren drohenden Freiheitsstrafe sicherzustellen, macht er nicht geltend und ist nicht erkennbar.
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5. Da der Beschwerdeführer eine weitere mehrjährige Freiheitsstrafe zu gewärtigen hat, ist die Anordnung der Sicherheitshaft entgegen seiner Auffassung (Beschwerde S. 12 Ziff. 26) verhältnismässig.
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6. Die Beschwerde ist deshalb abzuweisen.
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Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 8. Juli 2020
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Kneubühler
 
Der Gerichtsschreiber: Härri
 
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