VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 6B_1335/2019  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 08.07.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 6B_1335/2019 vom 29.06.2020
 
 
6B_1335/2019
 
 
Urteil vom 29. Juni 2020
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, Präsident,
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
 
Bundesrichter Muschietti,
 
Bundesrichterinnen van de Graaf, Koch,
 
Gerichtsschreiber Held.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Diego Reto Gfeller,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
 
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau,
 
2. B.________,
 
handelnd durch Ba.________,
 
3. C.________,
 
handelnd durch Ca.________,
 
4. D.________,
 
handelnd durch Ca.________,
 
Beschwerdegegnerinnen.
 
Gegenstand
 
Kantonale Rückweisung zur ergänzenden Beweiserhebung (sexuelle Handlungen mit Kindern),
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, vom 13. November 2019 (SST.2019.268).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Das Bezirksgericht Baden verurteilte A.________ am 12. Juli 2019 antragsgemäss wegen mehrfacher, zum Teil versuchter sexueller Handlungen mit Kindern zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von neun Monaten, deren Vollzug es zugunsten einer (vom Bezirksgericht Zürich) angeordneten ambulanten Massnahme aufschob.
1
A.________ legte gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung ein. Mit Beschluss vom 13. November 2019 hob das Obergericht des Kantons Aargau das Urteil des Bezirksgerichts ohne Durchführung eines Schriftenwechsels auf und wies die Sache zur neuen Entscheidung im Sinne der Erwägungen an dieses zurück.
2
B. A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben und den Parteien das rechtliche Gehör zu gewähren. Er ersucht um aufschiebende Wirkung seiner Beschwerde.
3
Das Obergericht lässt sich vernehmen, stellt jedoch keinen Antrag. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau verzichtet unter Verweis auf den angefochten Beschluss auf eine Stellungnahme. Die Privatklägerinnen haben sich nicht vernehmen lassen.
4
 
Erwägungen:
 
 
1.
 
1.1. In prozessualer Hinsicht macht der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend. Die Vorinstanz habe nach Eingang der Berufungserklärung die Sache ohne Durchführung eines Schriftenwechsels und Gewährung des rechtlichen Gehörs zur Neubeurteilung an das Bezirksgericht zurückgewiesen. Der Beschluss sei ohne Rechtsmittelbelehrung ergangen. Das prozessuale Vorgehen der Vorinstanz greife in den geordneten Ablauf des Berufungsverfahrens ein. Dem Beschwerdeführer sei die Möglichkeit genommen worden, die Berufung zurückzuziehen und damit die Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils herbeizuführen sowie dessen allfällige Verschlechterung im Berufungsverfahren zu verhindern. Dies stelle einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil i.S.v. Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG dar. Daneben wirft der Beschwerdeführer die Fage auf, ob zusätzliche Beweisabnahmen von der Vorinstanz gemäss Art. 389 Abs. 3 StPO zu erheben sind oder eine Rückweisung an das erstinstanzliche Gericht gemäss Art. 409 Abs. 1 StPO erfordern.
5
1.2. Die Vorinstanz erwägt zusammengefasst, wenn es entscheidend auf belastende Aussagen von Zeugen oder Auskunftspersonen ankomme, sei die unmittelbare Wahrnehmung der aussagenden Person durch das Sachgericht grundsätzlich unverzichtbar, andernfalls die Aussagewürdigung auf einer unvollständigen Grundlage beruhe. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit mache die persönliche Einvernahme durch das Gericht erforderlich und könne im Berufungsverfahren nicht nachgeholt werden, weshalb die Sache gemäss Art. 409 Abs. 1 StPO an das Bezirksgericht zurückzuweisen sei. Der Rückweisungsbeschluss könne unmittelbar nach Eingang der Berufungserklärung ergehen und unterliege als Zwischenentscheid nicht der Beschwerde in Strafsachen. Fraglich erscheine zudem, ob der Fall in die Kompetenz des Einzelrichters falle (§ 11 EG StPO/AG). Sofern sich Tatsachen ergäben, die dem Bezirksgericht mangels Einvernahme der Zeugen und Auskunftspersonen nicht bekannt gewesen seien, gelange das Verschlechterungsgebot im zu wiederholenden erstinstanzlichen Verfahren nicht zur Anwendung.
6
 
2.
 
2.1. Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition seine Zuständigkeit und ob ein Rechtsmittel zulässig ist (vgl. BGE 143 IV 357 E. 1; 140 IV 57 E. 2 mit Hinweisen). Es wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG).
7
2.2. Die Beschwerde in Strafsachen ist zulässig gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen (Art. 90 BGG), sowie gegen selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über die Zuständigkeit und über Ausstandsbegehren (Art. 92 Abs. 1 BGG). Gegen andere selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide ist die Beschwerde hingegen gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG nur zulässig, wenn diese einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können. Ein solcher liegt vor, wenn er auch durch einen für den Beschwerdeführer günstigen späteren Entscheid nicht mehr oder nicht vollständig behoben werden kann. Die Möglichkeit eines Nachteils genügt, jedoch muss dieser rechtlicher Natur sein. Rein tatsächliche Nachteile wie eine Verfahrensverlängerung oder -verteuerung reichen nicht aus (BGE 144 IV 321 E. 2.3, 90 E. 1.1.3; 143 IV 175 E. 2.3; 143 III 416 E. 1.3). Der Beschwerdeführer hat bei der Anfechtung von Zwischenentscheiden die Tatsachen anzuführen, aus denen sich der nicht wieder gutzumachende Nachteil ergeben soll, sofern dies nicht offensichtlich ist (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG; BGE 141 IV 284 E. 2.3; 289 E. 1.3; je mit Hinweisen).
8
2.3. Die Zulässigkeit der Beschwerde ist nach den konkreten Umständen und nicht nach bloss abstrakten Gesichtspunkten zu beurteilen. Das Bundesgericht erachtet die Beschwerde gegen Rückweisungsbeschlüsse des Berufungsgerichts gemäss Art. 409 Abs. 1 StPO als zulässig, wenn nicht evident ist, dass das erstinstanzliche Verfahren an einem schwerwiegenden, im Berufungsverfahren nicht heilbaren Mangel leidet oder mit hinreichender Begründung eine Rechtsverweigerung/-verzögerung als Folge der Rückweisung gerügt wird (Urteile 6B_1014/2019 vom 22. Juni 2020 E. 1.3; 6B_32/2017 vom 29. September 2017 E. 4, nicht publ. in: BGE 143 IV 408; 6B_1302/2015 vom 28. Dezember 2016 E. 4.1; Beispiele anfechtbarer strafprozessualer Zwischenentscheide: Urteile 1B_230/2019 vom 8. Oktober 2019 E. 1.5.2; 1B_520/2017 vom 4. Juli 2018 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 144 I 253; 6B_845/2015 vom 1. Februar 2016 E. 1.2. f., nicht publ. in: BGE 142 IV 70; je mit Hinweisen).
9
Die von der Rechtsmittelinstanz im vorliegenden Fall vorzunehmenden Beweisergänzungen stellen grundsätzlich keinen evidenten schwerwiegenden Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens i.S.v. Art. 409 Abs. 1 StPO dar, der im Berufungsverfahren nicht beseitigt werden könnte ( 6B_1014/2019 vom 22. Juni 2020 E. 1.3; 6B_32/2017 vom 29. September 2017 E. 4, nicht publ. in: BGE 143 IV 408; 6B_1302/2015 vom 28. Dezember 2016 E. 4.1). Zudem könnte der Beschwerdeführer im Falle des Nichteintretens auf die Beschwerde seine Berufung nicht mehr zurückzuziehen. Auf die Beschwerde ist demnach einzutreten.
10
 
3.
 
3.1. Die Rüge der Gehörsverletzung ist begründet. Das prozessuale Vorgehen der Vorinstanz entspricht weder den Vorschriften des mündlichen (Art. 405 StPO) noch des schriftlichen Berufungsverfahrens (Art. 406 i.v.m. Art. 390 Abs. 2-4 StPO). Indem die Vorinstanz das erstinstanzliche Urteil unmittelbar nach Eingang der Berufungserklärung ohne Schriftenwechsel aufgehoben und die Sache zur neuen Beurteilung (im Sinne der Erwägungen) an das Bezirksgericht zurückgewiesen hat, konnten die Parteien die ihnen zustehenden Parteirechte nicht wahrnehmen. Dem Beschwerdeführer wurde, wie von ihm gerügt, die Möglichkeit genommen, seine Berufung zurückzuziehen und damit das erstinstanzliche Urteil in Rechtskraft erwachsen zu lassen, um eine Abänderung des Entscheids zu seinen Ungunsten zu verhindern (vgl. Art. 386 Abs. 2 lit. a und b, Art. 391 Abs. 2, Art. 401 Abs. 3 StPO). Dies kann im jetzigen Verfahrensstand entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht nachgeholt und geheilt werden. Das rechtliche Gehör dient der Sachaufklärung. Es stellt ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheides dar und beinhaltet insbesondere das Recht der betroffenen Person, sich vor Erlass eines solchen Entscheids zur Sache zu äussern und ihren Standpunkt wirksam zur Geltung zu bringen, um den Entscheid beeinflussen zu können (BGE 135 II 286 E. 5.1; Urteil 6B_1247/2015 vom 15. April 2016 E. 2.2). Die Einhaltung der gesetzlichen Verfahrensvorschriften steht nicht zur Disposition der Strafbehörden. Strafverfahren können nur in den vom Gesetz vorgesehenen Formen durchgeführt und abgeschlossen werden (Art. 2 Abs. 2 StPO).
11
Die Vorinstanz konnte zudem nicht auf eine Rechtsmittelbelehrung im angefochtenen Rückweisungbeschluss verzichten. Ob die gesetzlichen Voraussetzungen eines anfechtbaren Zwischenentscheids im Sinne von Art. 92 und Art. 93 BGG vorliegen, hat das Bundesgericht als Rechtsmittelinstanz zu entscheiden. Dem Versäumnis kommt vorliegend jedoch keine weitere rechtliche Bedeutung zu, da der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer auch ohne Rechtsmittelbelehrung Beschwerde ans Bundesgericht erhoben hat und ihm somit aus dem rechtswidrigen Vorgehen der Vorinstanz kein Nachteil entstanden ist.
12
3.2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur, weshalb seine Verletzung ungeachtet der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids führt (BGE 144 I 11 E. 5.3; 137 I 195 E. 2.2 mit Hinweis). Da die Rückweisung der Sache an die erste Instanz zu ergänzender Beweiswürdigung gemäss Vorinstanz kantonale Praxis ist, erscheint es aus prozessökonomischen Gründen angebracht, auf die gefestigte bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Natur der Berufung als vollumfängliches reformatorisches Rechtsmittel (vgl. Art. 408, Art. 389 Abs. 3 StPO; Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1130 Ziff. 2.12, 1182 Ziff. 2.4.1.1, 1318 Ziff. 2.9.3.3; BGE 143 IV 408 E. 6.1; 141 IV 244 E. 1.3.3; Urteil 6B_1014/2019 vom 22. Juni 2020 E. 2.4; je mit Hinweisen) sowie zu den engen Voraussetzungen, unter denen eine kassatorische Erledigung durch Rückweisung an das erstinstanzliche Gericht ausnahmsweise zulässig ist, hinzuweisen (BGE 143 IV 408 E. 6.1; 6B_1014/2019 vom 22. Juni 2020 E. 2.4; ständige Rspr. seit 6B_662/2011 vom 19. Juli 2012 E. 2.1; je mit Hinweisen). Erforderliche zusätzliche Beweiserhebungen sind im Berufungsverfahren vom Berufungsgericht vorzunehmen (vgl. Art. 389 Abs. 3 StPO) und stellen keinen schwerwiegenden Mangel im Sinne von Art. 409 Abs. 1 StPO dar, der eine Rückweisung an die erste Instanz rechtfertigt.
13
Offenbleiben kann, ob die Rückweisung der Sache zur ergänzenden Befragung der Privatklägerinnen, die als Kinder während des Strafverfahrens in der Regel nur zweimal einvernommen werden dürfen (vgl. Art. 154 Abs. 4 lit. d StPO) und im Berufungsverfahren ohnehin erneut einzuvernehmen sind, wenn gemäss den vorinstanzlichen Erwägungen deren unmittelbarer Eindruck für die Urteilsfällung notwendig ist (vgl. Art. 343 Abs. 3 i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO; BGE 144 I 234 E. 5.6.2; 143 IV 288 E.1.4.1; Urteile 6B_1265/2019 vom 9. April 2020 E. 1.2; 6B_389/2019 vom 28. Oktober 2019, nicht publ. in: BGE 146 IV 59; 6B_1189/2018 vom 12. September 2019 E. 2.1.1; je mit Hinweisen), prozessual zielführend ist.
14
3.3. Die Sache ist zur Durchführung des Berufungsverfahrens nebst Erhebung allfälliger zusätzlicher Beweise gemäss Art. 389 Abs. 3 StPO an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Sache wird, falls der Beschwerdeführer seine Berufung nicht zurückzieht, durch eine andere Kammer des Strafgerichts der Vorinstanz zu beurteilen sein. Die erkennende Kammer äussert im Rückweisungsbeschluss Bedenken an der Zuständigkeit des Einzelrichters, obwohl für die von der Staatsanwaltschaft beantragte (und vom Bezirksgericht ausgesprochene) Strafe von neun Monaten gemäss § 11 EG StPO, auf den die Vorinstanz verweist, der Einzelrichter zuständig ist. Damit hat die Vorinstanz vor abschliessender Kenntnis aller entscheidrelevanten Umstände zum Ausdruck gebracht, dass sie die erstinstanzliche Strafe als zu niedrig erachtet, was den Anschein einer möglichen Voreingenommenheit begründet.
15
4. Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG), obwohl vorliegend auch eine Kostenauflage gemäss Art. 66 Abs. 3 BGG an den Kanton denkbar wäre. Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Mit diesem Entscheid wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegenstandslos.
16
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Beschluss des Obergerichts des Kantons Aargau vom 13. November 2019 aufgehoben und die Sache zur Durchführung des Berufungsverfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3. Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.- zu entschädigen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 29. Juni 2020
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Denys
 
Der Gerichtsschreiber: Held
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).