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Informationen zum Dokument  BGer 9C_778/2019  Materielle Begründung
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BGer 9C_778/2019 vom 26.06.2020
 
 
9C_778/2019
 
 
Urteil vom 26. Juni 2020
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Meyer, Stadelmann,
 
Gerichtsschreiberin Huber.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Michael Bütikofer,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich,
 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 3. Oktober 2019 (IV.2018.00628).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Mit Gesuch vom 14. Januar 2014 meldete sich die 1970 geborene A.________ zum dritten Mal bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich veranlasste eine polydisziplinäre Begutachtung bei der medexperts AG (Expertise vom 8. Juni 2015). Am 1. September 2015 fand ausserdem eine Haushaltsabklärung statt. Die Verwaltung ordnete eine weitere polydisziplinäre Exploration bei der Begutachtungsstelle Ärztliches Begutachtungsinstitut GmbH (ABI) an (Expertise vom 26. April 2016 und Stellungnahme vom 21. August 2017) und sprach der Versicherten mit Verfügung vom 11. Juni 2018 rückwirkend vom 1. Februar bis 30. September 2015 eine ganze Rente sowie ab 1. Oktober 2015 bis 30. Juni 2016 eine halbe Rente der Invalidenversicherung zu.
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 3. Oktober 2019 ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________ insofern die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sowie der Verfügung vom 11. Juni 2018, als ihr ab dem 1. Oktober 2015 keine ganze Invalidenrente mehr zugesprochen werde und verlangt rückwirkend ab diesem Zeitpunkt eine ganze Invalidenrente. Eventualiter beantragt A.________ ebenfalls insofern die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sowie der Verfügung vom 11. Juni 2018, als ihr ab dem 1. Oktober 2015 keine ganze Invalidenrente mehr zugesprochen werde und verlangt die Rückweisung an das kantonale Gericht verbunden mit der Anordnung, "einen neuen Entscheid im Sinne der Beschwerderügen zu erlassen."
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Erwägungen:
 
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. Letztinstanzlich unangefochten ist der Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine ganze Rente ab dem 1. Februar 2015. Zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzte, als es in Bestätigung der Verfügung vom 11. Juni 2018 die ganze Rente auf den 1. Oktober 2015 hin auf eine halbe Rente herabsetzte und ab dem 1. Juli 2016 einen Rentenanspruch verneinte.
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3. 
6
3.1. Die Vorinstanz mass dem polydisziplinären ABI-Gutachten vom 26. April 2016 Beweiswert zu (vgl. BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352) und stellte für die Beurteilung des Gesundheitszustands darauf ab.
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3.2. Die Beschwerdeführerin rügt mit Verweis auf die Einschätzung ihres behandelnden Arztes Prof. Dr. med. B.________, Chefarzt und Direktor Zentrum für Paraplegie, Klinik C.________, vom 13. Dezember 2016 eine unvollständige Berücksichtigung ihrer neurologischen Beschwerden und damit eine unrichtige Feststellung des entscheidrelevanten Sachverhalts durch die Vorinstanz.
8
 
4.
 
4.1. Das kantonale Gericht setzte sich mit der Rüge der Beschwerdeführerin, sie leide gemäss Prof. Dr. med. B.________ an Myoklonien, was der Neurologe bei der Begutachtungsstelle ABI verkannt habe, bereits ausführlich auseinander. So hielt die Vorinstanz fest, der ABI-Gutachter Dr. med. D.________, Facharzt für Neurologie, habe während seiner Untersuchung zwei Episoden von Zuckungen mitverfolgen und diese exakt dokumentieren können. Er sei als Facharzt genügend kompetent um einschätzen zu können, ob es sich bei den besagten Zuckungen um Myoklonien handle oder nicht. Prof. Dr. med. B.________ habe am 13. Dezember 2016 zwar unter anderem "Rezidivierende Episoden mit Myoklonien des rechten Beins, teilweise übergreifend auf die Gegenseite und die Arme, ohne Bewusstseinsalteration" festgehalten. Es sei jedoch nicht nachvollziehbar, aufgrund welcher Befunde er zu dieser Diagnose gelangt sei. Hinsichtlich der Krallenzehbildung habe Prof. Dr. med. B.________ weder Bezug auf die Ursache dafür genommen noch dargelegt, inwiefern die Versicherte deshalb in einer vorwiegend sitzenden Tätigkeit beeinträchtigt sein solle. Die Vorinstanz kam zum Schluss, aus den genannten Gründen vermöge der Bericht des Prof. Dr. med. B.________ die Einschätzung des neurologischen ABI-Gutachters nicht in Frage zu stellen.
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4.2. Soweit die Beschwerdeführerin auch letztinstanzlich den Standpunkt vertritt, der Bericht des Prof. Dr. med. B.________ vom 13. Dezember 2016 weiche von der Einschätzung des ABI-Gutachtens vom 26. April 2016 ab, weshalb auf die Expertise nicht abgestellt werden könne, vermag sie nichts zu ihren Gunsten abzuleiten. Wie bereits die Vorinstanz erkannte (vgl. E. 4.1 oben), beschäftigte sich Dr. med. D.________ in seinem Teilgutachten umfassend mit der Frage, ob die Versicherte an Myoklonien leidet und verneinte diese nachvollziehbar. Indem Prof. Dr. med. B.________ in seinem Bericht Myoklonien aufführte, ging er von einer von Dr. med. D.________ abweichenden Diagnose aus, die der Gutachter jedoch bereits widerlegte. Dr. med. D.________ hielt auch nach Kenntnisnahme des Berichtes des behandelnden Arztes an seiner Auffassung fest (Stellungnahme vom 21. August 2017). Hinzu kommt, dass Prof. Dr. med. B.________ auf die ausführliche Einschätzung des Gutachters Dr. med. D.________ keinen Bezug nahm und somit auch nicht aufzeigte, inwiefern er dessen Einschätzung nicht teilt. Im Weiteren sind im Bericht des Prof. Dr. med. B.________ keine Angaben zur Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin vorhanden.
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4.3. Die Versicherte bringt ausserdem vor, es sei nicht Aufgabe ihres behandelnden Arztes gewesen, sich kritisch mit ihrer klinischen Situation auseinanderzusetzen. Vielmehr hätten sich die ABI-Gutachter mit der Stellungnahme des Prof. Dr. med. B.________ befassen müssen.
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Die Rechtsprechung anerkennt die unterschiedlichen Aufgaben von behandelnden Ärzten und Gutachtern, weshalb die Versicherte zu Recht geltend macht, dass es nicht die Pflicht ihres behandelnden Arztes ist, einen Bericht nach den Vorgaben und Kriterien zu verfassen, die für Gutachter gelten (vgl. hierzu BGE 135 V 465 E. 4.5 S. 470 f.). Dennoch muss eine ärztliche Stellungnahme, mit der die Beschwerdeführerin aufzeigen will, dass auf die Expertise nicht abgestellt werden kann, Anhaltspunkte enthalten, die das Gutachten in Zweifel zu ziehen vermögen, was im vorliegenden Fall im Lichte des Gesagten auf den Bericht des Prof. Dr. med. B.________ nicht zutrifft. Die ABI-Experten kamen in der Stellungnahme vom 21. August 2017 zum Schluss, dass sich aus dem Bericht des Prof. Dr. med. B.________ keine neuen Aspekte in diagnostischer Hinsicht und infolge dessen auch keine Argumente ergäben, die der Einschätzung im Gutachten vom 26. April 2016 widersprechen würden. Dass sich die Experten nicht, wie von der Versicherten gewünscht, ausführlicher mit dem Bericht des behandelnden Arztes auseinandergesetzt haben, vermag den Beweiswert der insgesamt umfassenden neurologischen Teilexpertise nicht zu schmälern.
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4.4. Nach dem Gesagten ist die Vorinstanz zu Recht davon ausgegangen, dass der Bericht des Prof. Dr. med. B.________ nicht geeignet ist, die gutachterliche Einschätzung des Dr. med. D.________ in Zweifel zu ziehen. Von einer unvollständigen Sachverhaltserhebung durch das kantonale Gericht kann keine Rede sein.
13
 
5.
 
5.1. In psychiatrischer Hinsicht erkannte das Sozialversicherungsgericht, der Experte Dr. med. E.________, Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie, habe im ABI-Gutachten überzeugend dargelegt, dass sich die leichtgradige depressive Episode nicht auf die Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin auswirken würde. Die Vorinstanz stellte fest, dass sich die Versicherte nicht in psychiatrischer Behandlung befinde. Die Beschwerdeführerin mache denn auch nicht geltend, aus psychischen Gründen in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt zu sein. In Nachachtung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung könne daher auf eine Prüfung nach dem strukturierten Beweisverfahren verzichtet werden.
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5.2. Die Versicherte wirft dem kantonalen Gericht vor, es habe entgegen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kein strukturiertes Beweisverfahren durchgeführt. Eine Gesamtbetrachtung der Wechselwirkungen im Sinne der definierten Standardindikatoren sei nie erfolgt und daher nachzuholen.
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5.3. Dr. med. E.________ diagnostizierte eine leichte depressive Episode, eine Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung sowie psychologische Faktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten. Er diskutierte Befunde, Funktionseinbussen und Ressourcen und legte unter Einbezug einer Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung dar, dass die Beschwerdeführerin in ihrer Arbeitsfähigkeit nicht eingeschränkt sei. Ausserdem ging er auf mögliche Ausschlussgründe ein und konstatierte, es lägen keine Hinweise auf eine Aggravation vor. Mit Blick auf die vom Gutachter sehr wohl berücksichtigten normativen Vorgaben (BGE 145 V 361 E. 3.2.2 S. 364 mit Hinweisen) verletzte das kantonale Gericht kein Bundesrecht, indem es auf eine - unzulässige (BGE 144 V 50 E. 4.3 S. 54) - juristische Parallelüberprüfung verzichtete. Im Übrigen wird die von der Vorinstanz in Anlehnung an das Gutachten getroffene Feststellung, wonach die Versicherte in psychiatrischer Hinsicht in ihrer Arbeitsfähigkeit nicht eingeschränkt sei, von der Beschwerdeführerin nicht bestritten, weshalb sie für das Bundesgericht verbindlich ist (E. 1).
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6. Das kantonale Gericht kam insgesamt zum Schluss, die Beschwerdeführerin sei von Februar 2014 bis Mai 2015 sowohl in angestammter wie auch in einer angepassten Tätigkeit 100 % arbeitsunfähig gewesen. Im Juni 2015 sei eine Gesundheitsverbesserung eingetreten, weshalb die ABI-Gutachter ab diesem Zeitpunkt eine Arbeitsfähigkeit von 60 % in einer angepassten Tätigkeit attestiert hätten. Im März 2016 habe sich der Gesundheitszustand erneut und somit auch die Arbeitsfähigkeit in einer adaptierten Tätigkeit auf 80 % verbessert. Mit dem Hinweis auf den Bericht des Prof. Dr. med. B.________ vom 13. Dezember 2016, der sich nicht im Ansatz über einen Verlauf der Arbeitsfähigkeit der Versicherten äussert, vermag die Beschwerdeführerin nicht darzutun, dass die sich auf das ABI-Gutachten stützenden Feststellungen der Vorinstanz in Bezug auf die Gesundheitsverbesserungen im Juni 2015 und März 2016 offensichtlich unrichtig oder sonstwie bundesrechtswidrig sein sollen (E. 1), weshalb sie für das Bundesgericht verbindlich sind.
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7. Die Beschwerde ist unbegründet und der vorinstanzliche Entscheid zu bestätigen.
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8. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 26. Juni 2020
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber
 
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