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Informationen zum Dokument  BGer 9C_631/2019  Materielle Begründung
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BGer 9C_631/2019 vom 19.06.2020
 
 
9C_631/2019
 
 
Urteil vom 19. Juni 2020
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann,
 
Gerichtsschreiber Grünenfelder.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Ausgleichskasse Luzern, Würzenbachstrasse 8, 6006 Luzern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Alters- und Hinterlassenenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom 26. August 2019 (5V 19 76).
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.A.________ bezieht eine ordentliche Altersrente der AHV sowie eine Kinderrente für seinen Sohn B.A.________ (geboren am 2. Juni 1999). B.A.________ ist Violinist und besuchte seit August 2016 die Schule B.________. Diese brach er am 26. September 2017 ab, um sich auf die Aufnahmeprüfung für das Pre-College der Schule C.________ vorzubereiten. Die Ausgleichskasse Luzern verneinte einen Anspruch auf eine Kinderrente für die Zeit vom 1. Oktober 2017 bis 31. Juli 2018, da B.A.________ seit dem Austritt aus der Schule B.________ bis zum Beginn des Pre-Colleges im August 2018 keiner Ausbildung nachgegangen sei. Gestützt darauf forderte sie bereits ausgerichtete Kinderrenten von insgesamt Fr. 9400.- (zehn Monate à Fr. 940.-) zurück (Verfügung vom 18. September 2018; Einspracheentscheid vom 21. Februar 2019).
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde des A.A.________ wies das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 26. August 2019 ab.
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C. A.A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sowie des Einspracheentscheides vom 21. Februar 2019 seien ihm die an die Ausgleichskasse zurückbezahlten Kinderrenten von Fr. 9400.- wieder zu erstatten.
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Während die Ausgleichskasse auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.
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A.A.________ reicht am 7. Mai 2020 unaufgefordert eine weitere Eingabe ein.
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Erwägungen:
 
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).
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2. Streitig und zu prüfen ist, ob die mit Abbruch der Schule B.________ Ende September 2017 begonnene Prüfungsvorbereitung als Ausbildung anzusehen ist, womit (auch) vom 1. Oktober 2017 bis 31. Juli 2018 Anspruch auf eine Kinderrente bestünde.
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2.1. Der Begriff der Ausbildung ist umfassend und weit zu verstehen (BGE 143 V 305 E. 3.3 S. 309 mit weiteren Hinweisen). Nach Art. 25 Abs. 5 Satz 2 AHVG und Art. 49bis und 49ter AHVV fallen darunter ordentliche Lehrverhältnisse sowie Tätigkeiten zum Erwerb von Vorkenntnissen für ein Lehrverhältnis, aber auch Kurs- und Schulbesuche, wenn sie der berufsbezogenen Vorbereitung auf eine Ausbildung oder späteren Berufsausübung dienen. Bei Kurs- und Schulbesuchen sind die Art der Lehranstalt und das Ausbildungsziel unerheblich, soweit diese im Rahmen eines ordnungsgemässen, (faktisch oder rechtlich) anerkannten Lehrganges eine systematische Vorbereitung auf das jeweilige Ziel bieten. Danach gilt nur als Bestandteil der Ausbildung, wenn zwischen diesem und dem Berufsziel ein Zusammenhang besteht (BGE 140 V 314 E. 3.2 S. 316).
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2.2. Rz. 3359 und 3360 der Wegleitung des Bundesamtes für Sozialversicherungen über die Renten in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (Stand: 1. Januar 2019 [identisch mit den Formulierungen der ab 1. Januar 2017 gültigen Fassungen]; nachfolgend: RWL) bestimmen dazu was folgt:
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"Die systematische Vorbereitung erfordert, dass das Kind die Ausbildung mit dem objektiv zumutbaren Einsatz betreibt, um sie innert nützlicher Frist abschliessen zu können. Während der Ausbildung muss sich das Kind zeitlich überwiegend dem Ausbildungsziel widmen. Dies gilt nur dann als erfüllt, wenn der gesamte Ausbildungsaufwand (Lehre im Betrieb, Schulunterricht, Vorlesungen, Kurse, Vor- und Nachbereitung, Prüfungsvorbereitung, Selbststudium, Verfassen einer Diplomarbeit, Fernstudium etc.) mindestens 20 Stunden pro Woche ausmacht."
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"Der effektive Ausbildungsaufwand kann teilweise nur mittels Indizien, mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit, eruiert werden. Dabei ist insbesondere auch auf Auskünfte des Ausbildungsanbieters über die durchschnittlich aufzuwendende Zeit für die jeweilige Ausbildung abzustellen. Wer wöchentlich nur eine geringe Anzahl Kurslektionen besucht (z.B. 4 Lektionen abends) und daneben zur Hauptsache arbeitet (ohne Ausbildungscharakter) oder auch gar keinem Erwerb nachgeht, vermag den erforderlichen überwiegenden Ausbildungsaufwand nur schwer nachzuweisen. Beispiel: Eine bei der Abschlussprüfung gescheiterte Lehrabgängerin, die im anschliessenden Jahr lediglich ein paar wenige Repetitionskurse belegt, befindet sich nicht mehr in Ausbildung, wenn es ihr nicht gelingt, einen überwiegenden Ausbildungsaufwand nachzuweisen."
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2.3. Verwaltungsweisungen richten sich an die Durchführungsstellen und sind für das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich. Dieses soll sie bei seiner Entscheidung aber berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Das Gericht weicht ohne - hier nicht vorliegenden - triftigen Grund nicht von Verwaltungsweisungen ab, wenn diese eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben darstellen (BGE 140 V 299 E. 3 S. 303 mit Hinweis).
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3. Die Vorinstanz hat erwogen, der Besuch des Förderprogramms der Schule C.________ und der dort angebotenen Fächer im Bereich Klassik erfüllten das Ausbildungserfordernis nach Art. 49bis Abs. 1 AHVV nicht. B.A.________ habe die Schule B.________ abgebrochen, welche grundsätzlich Voraussetzung für ein Studium an der Schule C.________ bilde. Damit habe er nicht den ordentlichen Ausbildungsweg beschritten, sondern seine Chancen auf eine professionelle Karriere als Musiker vermindert. Da lediglich einzelne Fächer des Pre-Colleges zwecks Abdeckung des bestehenden Nachholbedarfs absolviert worden seien, könne ausserdem von keinem systematischen Lehrgang gesprochen werden. Die individuell zusammengestellten Kurse seien vielmehr eine Zwischenlösung gewesen, um die zehnmonatige Pause bis zum Beginn des Pre-Colleges im August 2018 zu überbrücken. Für solche weder ordnungsgemässen noch systematisch auf ein Berufsziel vorbereitenden Zwischenlösungen gelange Art. 49bis Abs. 2 AHVV nicht zur Anwendung. Der Ausbildungsbestätigung vom 15. August 2018 sei überdies ein Schulanteil von bloss fünfeinhalb Stunden zu entnehmen, was unter dem für Brückenangebote geforderten Minimum von acht Schulstunden liege (vgl. Rz. 3363 RWL).
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4. 
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4.1. In tatsächlicher Hinsicht steht mit Blick auf die Ausbildungsbestätigung der Schule C.________ vom 15. August 2018 - auf welche das kantonale Gericht abgestellt hat - fest, dass B.A.________ nach dem Abbruch der Schule B.________ Ende September 2017 folgendes Programm in Angriff nahm: Besuch des Hauptfachs Violine (anderthalb Stunden wöchentlich), des Vorkurses Klassik (vier Stunden wöchentlich) sowie weiterer individueller Kurse; obligatorische Proben mit dem Sinfonie-Orchester, dem Kammermusik-Trio (ca. eine Stunde wöchentlich) und dem Orchester D.________ (zwei Stunden wöchentlich); diverse Konzertauftritte und Auftrittsproben; Üben im Selbststudium (vier bis sechs Stunden täglich).
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4.2. Bereits daraus ergibt sich ohne Weiteres, dass der Sohn des Beschwerdeführers sein Berufsziel als professioneller Violinist mit der erforderlichen Systematik verfolgte. Zwischen diesem und dem Vorbereitungsprogramm bestand ohne Frage ein Zusammenhang. Zudem wurde der objektiv zumutbare Einsatz geleistet (vgl. E. 2.1 und 2.2). Der Ausbildungsbestätigung vom 15. August 2018 ist denn auch explizit zu entnehmen, B.A.________ habe sich nach dem Verlassen der Schule B.________ "intensiv" auf die Aufnahme in das Pre-College der Schule C.________ 2018/19 vorbereitet und die Prüfung schliesslich erfolgreich bestanden. Sodann ist der gemäss Rz. 3359 RWL erforderliche effektive Ausbildungsaufwand von mindestens zwanzig Wochenstunden nur schon anhand der in der Ausbildungsbestätigung ausgewiesenen Übungszeit (vier bis sechs Stunden täglich à fünf Tagen) belegt. Abgesehen davon lässt das umfangreiche Vorbereitungsprogramm an sich den Schluss zu, dass sich B.A.________ - abgesehen von notwendigen Erholungsphasen - in den fraglichen rund zehn Monaten nicht nur "zeitlich überwiegend" (vgl. E. 2.2), sondern
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4.3. Dass der Unterrichtsplan spezifisch für B.A.________ entworfen und in dieser Form nicht für jedermann öffentlich zugänglich war, vermag am Ausbildungscharakter nichts zu ändern. Denn entscheidend für die Qualifikation als Ausbildung sind die von Anfang an mit aller Konsequenz verfolgte Absicht, Berufsmusiker zu werden (vgl. Urteil 8C_177/2015 vom 14. Oktober 2015 E. 5.1.2), sowie der Umstand, dass die Prüfungsvorbereitung mit dem Violinlehrer und der Prorektorin der Schule C.________ abgesprochen und geplant war (vgl. E-Mail des Beschwerdeführers vom 26. September 2017). Durch diese fachliche Begleitung ist den Anforderungen bezüglich Lerninhalt, Lernkontrolle und Zielerreichung Genüge getan (vgl. Urteil 8C_404/2015 vom 22. Dezember 2015 E. 4.3.1). Damit kann nicht ernsthaft in Abrede gestellt werden, dass es als konsequentes und sinnvolles Ziel anzusehen ist, sämtliche Ressourcen für das Erreichen des Pre-Colleges einzusetzen, das die Voraussetzung für die spätere Berufstätigkeit als Musiker bildet. Mithin bestand nach willkürfreier (E. 1) Sachverhaltsfeststellung des kantonalen Gerichts im Zeitpunkt des Abbruchs der Schule B.________ ein starker Nachholbedarf im musikalischen Bereich. Dieser hätte bei Weiterführung der Doppelbelastung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht kompensiert werden können, hielt doch der zuständige Lehrgangsleiter zu Handen des Beschwerdeführers fest, man habe den grossen Druck, der auf B.A.________ gelastet habe, aus schulischer Sicht mit Sorge verfolgt (E-Mail vom 27. September 2017). Die vertiefte Beschäftigung mit den am Pre-College geprüften Fächern war demnach für eine sorgfältige Prüfungsvorbereitung mit nachweislich guten Erfolgsaussichten - faktisch - geboten (betreffend Praktika vgl. BGE 139 V 209 E. 5.1 S. 210 f. mit Hinweis auf BGE 139 V 122). Ein Brückenangebot oder eine andere unter Art. 49bis Abs. 2 AHVV fallende Ausbildungsvariante liegt, wie die Vorinstanz selber eingeräumt hat (E. 3), nicht vor. Weiterungen dazu erübrigen sich.
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5. Nach dem Gesagten verletzt der angefochtene Entscheid Bundesrecht. Die Beschwerde ist begründet.
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6. Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der obsiegende Beschwerdeführer hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG), da er nicht anwaltlich vertreten ist und keine besonderen Verhältnisse vorliegen, die eine Entschädigung für weitere Umtriebe rechtfertigen (Urteil 9C_103/2016 vom 23. August 2016 E. 8 mit Hinweis).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom 26. August 2019 und der Einspracheentscheid der Ausgleichskasse Luzern vom 21. Februar 2019 werden aufgehoben.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 19. Juni 2020
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder
 
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