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Informationen zum Dokument  BGer 1B_234/2020  Materielle Begründung
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BGer 1B_234/2020 vom 05.06.2020
 
 
1B_234/2020
 
 
Urteil vom 5. Juni 2020
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Chaix, Präsident,
 
Bundesrichter Kneubühler, Müller,
 
Gerichtsschreiberin Sauthier.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Simone Gasser,
 
gegen
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern.
 
Gegenstand
 
Strafverfahren; Haftentlassung / Verlängerung Untersuchungshaft,
 
Beschwerde gegen den Beschluss
 
des Obergerichts des Kantons Bern,
 
Beschwerdekammer in Strafsachen,
 
vom 14. April 2020 (BK 20 142).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, Region Oberland, führt eine Strafuntersuchung gegen A.________ wegen versuchter vorsätzlicher Tötung. Sie wirft ihm vor, am 25. Januar 2020 mehrere Schüsse auf seine Ex-Partnerin in deren Wohnung abgefeuert zu haben. Mit Verfügung des regionalen Zwangsmassnahmengerichts Oberland des Kantons Bern vom 28. Januar 2020 wurde A.________ für die Dauer von drei Monaten in Untersuchungshaft versetzt. Am 9. März 2020 stellte A.________ ein Haftentlassungsgesuch. Die Staatsanwaltschaft beantragte mit Schreiben vom 12. März 2020 die Ablehnung des Gesuchs und ersuchte um Verlängerung der bis zum 24. April 2020 angeordneten Untersuchungshaft um weitere sechs Monate.
1
Mit Entscheid vom 23. März 2020 lehnte das Zwangsmassnahmengericht das Haftentlassungsgesuch von A.________ ab und verlängerte die Untersuchungshaft um drei Monate bis zum 23. Juni 2020. Gegen diese Verfügung gelangte A.________ an das Obergericht des Kantons Bern. Dieses wies seine Beschwerde mit Beschluss vom 14. April 2020 ab.
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B. Mit Eingabe vom 14. Mai 2020 führt A.________ Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Er beantragt, der Beschluss des Obergerichts vom 14. April 2020 sei aufzuheben und er sei umgehend, eventualiter unter Anordnung geeigneter Ersatzmassnahmen, aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
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Das Obergericht verzichtet auf eine Vernehmlassung. Die Staatsanwaltschaft liess sich nicht vernehmen.
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Erwägungen:
 
1. Angefochten ist der kantonal letztinstanzliche Haftentscheid des Obergerichts. Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach den Art. 78 ff. BGG gegeben. Der Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Haftentlassung ist zulässig (BGE 132 I 21 E. 1). Der Beschwerdeführer ist durch die Verweigerung der Haftentlassung in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen und damit zur Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 BGG). Er macht die Verletzung von Bundesrecht geltend, was zulässig ist (Art. 95 lit. a BGG). Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde eingetreten werden kann.
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2. Der Beschwerdeführer stellt den dringenden Tatverdacht nicht in Abrede. Er macht aber geltend, es fehle an der von der Vorinstanz angenommenen Kollusionsgefahr.
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Gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO ist Untersuchungshaft zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen (Kollusionsgefahr).
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Nach der Rechtsprechung genügt die theoretische Möglichkeit, dass der Angeschuldigte in Freiheit kolludieren könnte, nicht, um die Fortsetzung der Haft unter diesem Titel zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Indizien für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sprechen. Das Vorliegen des Haftgrundes ist nach Massgabe der Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen. Konkrete Anhaltspunkte für Kollusionsgefahr können sich namentlich ergeben aus dem bisherigen Verhalten des Beschuldigten im Strafprozess, aus seinen persönlichen Merkmalen, aus seiner Stellung und seinen Tatbeiträgen im Rahmen des untersuchten Sachverhaltes sowie aus den persönlichen Beziehungen zwischen ihm und den ihn belastenden Personen. Bei der Frage, ob im konkreten Fall eine massgebliche Beeinträchtigung des Strafverfahrens wegen Verdunkelung droht, ist auch der Art und Bedeutung der von Beeinflussung bedrohten Aussagen bzw. Beweismittel, der Schwere der untersuchten Straftaten sowie dem Stand des Verfahrens Rechnung zu tragen. Je weiter das Strafverfahren fortgeschritten ist und je präziser der Sachverhalt bereits abgeklärt werden konnte, desto höhere Anforderungen sind an den Nachweis von Verdunkelungsgefahr zu stellen (BGE 137 IV 122 E. 4.2 S. 127 f.; 132 I 21 E. 3.2 S. 23 f. mit Hinweisen).
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3.
 
3.1. Der Beschwerdeführer ist geständig, am 25. Januar 2020 absichtlich sechs Schüsse auf seine Ex-Partnerin in deren Wohnung abgegeben zu haben. In diesem Umfang ist der Sachverhalt grundsätzlich erstellt. Insofern trifft es zu, wenn der Beschwerdeführer einwendet, zumindest diesbezüglich wären allfällige Einwirkungsversuche seinerseits untauglicher Natur. Soweit er aber aus dem Umstand, dass inzwischen umfangreiche und tatnahe parteiöffentliche Einvernahmen durchgeführt und sämtliche Spuren gesichert worden seien, ableiten will, er könne, selbst wenn er tatsächlich Verdunkelungshandlungen vornehmen wollte, keinen Einfluss mehr auf das Ergebnis der Strafuntersuchung nehmen, kann ihm nicht gefolgt werden. Wie die Vorinstanz ausführte, bestehen nach wie vor Unklarheiten in Bezug auf die Zielrichtung seiner Schussabgabe und damit die Frage, ob er mit Tötungs- oder Verletzungsabsicht gehandelt hat. In diesem Punkt widersprechen sich nämlich die Aussagen des Opfers sowie der Augenzeugin und des Beschwerdeführers grundlegend. Während Letzterer auf den Boden bzw. unterhalb der Knien des Opfers gezielt haben will, hat das Opfer ausgesagt, der Beschwerdeführer habe auf ihr Gesicht bzw. ihren Kopf gezielt und die Augenzeugin gab zu Protokoll, der Beschwerdeführer habe geradeaus gezielt.
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In diesem Zusammenhang weisen die kantonalen Behörden berechtigterweise auf die zentrale Bedeutung der Aussagen bei Beziehungsdelikten hin. Es ist nicht zu beanstanden, wenn sie ausführten, die Aussagen seien vor einer Beeinflussung zu schützen, auch wenn es sich vorliegend aufgrund diverser vorhandener objektiver Beweismittel nicht um eine klassische Aussage-gegen-Aussage-Konstellation handle und sich die Aussagen des Opfers mehrheitlich mit denjenigen der Augenzeugin decken würden. Die Annahme, wonach es aufgrund der Relevanz dieser Aussagen und dem Grundsatz der Unmittelbarkeit (vgl. Art. 343 Abs. 3 StPO) höchst wahrscheinlich sei, dass das Opfer und die Zeugin an der Hauptverhandlung erneut befragt würden, damit das Gericht einen persönlichen Eindruck gewinnen könne, ist folglich nachvollziehbar. Diese Beweisabnahme vor dem Gericht ist vor Kollusionshandlungen zu schützen (BGE 132 I 21 E. 3.2.2 S. 24 mit Hinweisen). Daran ändert auch nichts, dass eine allfällige Beeinflussung des Opfers und der Augenzeugin durch den Beschwerdeführer aufgrund deren klaren und detaillierten Erstaussagen möglicherweise für das Sachgericht erkennbar wäre. Die Wahrheitsfindung würde dennoch erschwert. Die Aussagen stellen in Bezug auf die Zielrichtung der Schussabgabe grundsätzlich das einzige Beweismittel dar. Die Spuren- und Verletzungsbilder der Schüsse lassen hingegen nur bedingt Rückschlüsse auf die eigentlich vom Beschwerdeführer beabsichtigte Zielrichtung zu.
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Sodann ist im Besonderen zu berücksichtigen, dass die gemeinsame siebenjährige Tochter des Beschwerdeführers und des Opfers bisher nicht einvernommen werden konnte. Obschon unklar ist, ob sie weiterhin von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen wird bzw. inwiefern sie überhaupt urteilsrelevante Aussagen zum Vorfall machen kann, ist die Befürchtung der Vorinstanz, wonach der Beschwerdeführer unter den gegebenen Umständen Druck auf seine Tochter ausüben könnte, nicht von der Hand zu weisen. Der Beschwerdeführer wendet zwar zu Recht ein, seine Tochter habe sich zum Tatzeitpunkt im Nebenzimmer befunden. Dennoch könnte sie mit allfälligen Aussagen zur Beziehung ihrer Eltern bzw. zu möglicherweise bereits früher ausgesprochenen (Todes-) Drohungen des Vaters gegenüber der Mutter wesentlich zur Aufklärung dazu beitragen, welche Absicht dem Beschwerdeführer letztlich unterstellt werden muss. Die Tochter ist folglich vor einer vorgängigen Einwirkung durch den Beschwerdeführer zu schützen.
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Dasselbe gilt auch für den Waffenlieferanten des Beschwerdeführers, welcher bisher noch nicht ausfindig gemacht werden konnte und zu welchem der Beschwerdeführer keine Angaben machen will. Die Annahme der Vorinstanz, dass auch in Bezug auf diesen die Gefahr einer Beeinflussung durch den Beschwerdeführer gegeben sei, leuchtet ein. Es besteht durchaus die konkrete Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer den Lieferanten über seine Absichten informiert haben könnte, zumal er selbst ausgesagt hat, er habe die Waffe extra "für Das" gekauft. Es kann folglich nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer nach seiner Haftentlassung den Lieferanten der Tatwaffe aufsucht, um ihn zu einer für ihn günstigen Aussage zu bewegen, wodurch die materielle Wahrheitsfindung beeinträchtigt würde.
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Schliesslich wiegt der gegen den Beschwerdeführer erhobene Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung schwer. Ihm wird damit ein Verbrechen vorgeworfen, welches gemäss Art. 111 StGB mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft wird. Entsprechend besteht an einer von Verdunkelungshandlungen freien Sachverhaltsermittlung ein erhöhtes öffentliches Interesse. Der Beschwerdeführer hat mit einer einschneidenden Strafe zu rechnen, auch wenn für den Fall der (lediglich) versuchten Begehung das Gericht die Strafe mildern kann (Art. 22Abs. 1 StGB). Zwar stellt die vom Beschwerdeführer grundsätzlich eingestandene schwere Körperverletzung ebenfalls ein Verbrechen dar, für das abstrakt eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren angedroht ist (vgl. Art. 122 StGB). Zudem droht bei beiden Delikten eine obligatorische Landesverweisung (vgl. Art. 66a Abs. 1 lit. a und b StGB). Indessen scheint wahrscheinlich, dass dem Beschwerdeführer bei einem Tötungsvorsatz eine erheblich empfindlichere Strafe droht als bei einem Verletzungsvorsatz. Die Auffassung der Vorinstanz, wonach der Beschwerdeführer einen nicht nur geringfügigen Anreiz habe, zu kolludieren bzw. das Opfer und die Augenzeugin zu einer Abschwächung ihrer Aussagen im Zusammenhang mit der Schussrichtung bzw. der Absicht seiner Handlung zu veranlassen, verstösst folglich nicht gegen Bundesrecht.
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Ebenfalls nicht zu beanstanden ist weiter, dass die Vorinstanz auch die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers, insbesondere dessen Strafregistereinträge bei der Beurteilung seiner Kollusionsbereitschaft mitberücksichtigt hat. Auch wenn der Beschwerdeführer berechtigterweise einwendet, die angezeigten Drohungen hätten nicht seiner Ex-Partnerin gegolten, so hat die Vorinstanz dennoch zu Recht ausgeführt, die Verurteilungen würden aufzeigen, dass der Beschwerdeführer nicht davor zurückschrecke, in strafrechtlich relevanter Weise auf Personen einzuwirken und sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen. Dafür spricht insbesondere auch seine Vorbestrafung wegen mehrfach begangener Irreführung der Rechtspflege.
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3.2. Bei gesamthafter Betrachtung legen die kantonalen Instanzen im gegenwärtigen Verfahrensstadium hinreichend konkrete Anhaltspunkte für die Annahme von Verdunkelungsgefahr dar.
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4. Die bisherige Haftdauer erscheint zudem noch nicht als unverhältnismässig. Der Beschwerdeführer befindet sich seit etwas mehr als vier Monaten in Untersuchungshaft. Beim jetzigen Stand der Untersuchung droht ihm im Falle einer Verurteilung wegen versuchter vorsätzlicher Tötung bzw. vorsätzlicher schwerer Körperverletzung eine deutlich längere Freiheitsstrafe, weshalb noch keine Überhaft droht.
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Sodann ist entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers auch nicht ersichtlich, inwiefern sich die Kollusionsgefahr beim jetzigen Verfahrensstand durch Ersatzmassnahmen nach Art. 237 StPO hinreichend reduzieren liesse. Es kann nicht angenommen werden, dass ein persönliches Kontaktverbot den Beschwerdeführer wirksam davon abhalten könnte, bei einer Haftentlassung insbesondere mit den Personen aus seinem familiären Umfeld, mithin der besonders schutzbedürftigen Tochter sowie seiner Ex-Partnerin, und den nahen Bekannten wie z.B. der Augenzeugin Kontakt aufzunehmen. Die Vorinstanz legte das zutreffend dar.
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Dass andere Ersatzmassnahmen geeignet wären, der Kollusionsgefahr wirksam zu begegnen, ist nicht ersichtlich. Dies gilt insbesondere auch betreffend die vom Beschwerdeführer vorgebrachte erneute staatsanwaltschaftliche Befragung mittels Ton- und Videoaufzeichnung. Eine solche stellt ebenfalls keine taugliche Ersatzmassnahme dar, zumal insbesondere von einer Kollusionsgefahr in Bezug auf seine Tochter, welche bislang keine Aussagen machen wollte, und den unbekannten Waffenlieferanten auszugehen ist, welcher ebenfalls nicht einvernommen werden kann. Die Fortführung der Untersuchungshaft ist daher gegenwärtig auch unter Verhältnismässigkeitsgesichtspunkten nicht zu beanstanden.
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5. Demnach ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern und dem Obergericht des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 5. Juni 2020
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Chaix
 
Die Gerichtsschreiberin: Sauthier
 
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