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Informationen zum Dokument  BGer 6B_865/2019  Materielle Begründung
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BGer 6B_865/2019 vom 04.06.2020
 
 
6B_865/2019
 
 
Urteil vom 4. Juni 2020
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, Präsident,
 
Bundesrichter Muschietti,
 
Bundesrichterin Koch,
 
Gerichtsschreiber Held.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Gewerbs- und bandenmässiger Diebstahl,
 
ungenügende Verteidigung, Verfahrensgarantien, Beweisverwertung etc.,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
 
des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer,
 
vom 19. Juni 2019 (SST.2018.306).
 
 
Erwägungen:
 
1. Das Bezirksgericht Baden verurteilte den Beschwerdeführer am 8. August 2018 wegen gewerbs- und bandenmässigen Diebstahls, mehrfacher Sachbeschädigung und mehrfachen Hausfriedensbruchs zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren. Gleichzeitig sprach es eine 15-jährige Landesverweisung aus.
 
Der Beschwerdeführer erhob gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung und beantragte, er sei wegen geringfügigen Diebstahls zu einer Busse von Fr. 500.- zu verurteilen und im Übrigen freizusprechen.
 
Mit Verfügung vom 27. November 2018 stellte die Verfahrensleitung der Vorinstanz den Parteien die Berufungserklärung zu und setzte diesen eine Frist, um eine allfällige Anschlussberufung zu erklären. Gleichzeitig forderte sie die Parteien auf, der Vorinstanz innert gleicher Frist mitzuteilen, ob sie - unter Vorbehalt einer allfälligen Anschlussberufung - mit der Durchführung des schriftlichen Verfahrens gemäss Art. 406 Abs. 2 StPO einverstanden seien. Stillschweigen gelte als Zustimmung zum schriftlichen Verfahren. Am 6. Dezember 2018 erklärte die Staatsanwaltschaft eine auf die Strafzumessung beschränkte Anschlussberufung und beantragte eine fünfjährige Freiheitsstrafe.
 
Die Vorinstanz verurteilte den Beschwerdeführer am 19. Juni 2019 im schriftlichen Berufungsverfahren in Bestätigung der erstinstanzlichen Schuldsprüche zu einer Freiheitsstrafe von 55 Monaten und sprach ebenfalls eine Landesverweisung von 15 Jahren aus.
 
2. Der Beschwerdeführer beantragt mit Beschwerde in Strafsachen zusammengefasst, das Urteil der Vorinstanz sei aufzuheben und die Sache zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung an diese zurückzuweisen. Eventualiter sei er wegen geringfügigen Diebstahls mit einer Busse von Fr. 500.- zu bestrafen; vom Vorwurf des gewerbs- und bandenmässigen Diebstahls, mehrfacher Sachbeschädigung und mehrfachen Hausfriedensbruchs sei er freizusprechen und umgehend aus der Haft zu entlassen. Die Zivilforderungen der Privatkläger seien auf den Zivilweg zu verweisen. Der Beschwerdeführer ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
 
Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe gegen eine Vielzahlelementarer prozessualer Grundsätze verstossen. Sie habe namentlich seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, gegen das Verbot der "reformatio in peius" verstossen, ihre Prüfungskognition verkannt und sei ihrer Untersuchungspflicht nicht nachgekommen. Zudem sei er im Berufungsverfahren nicht hinreichend verteidigt gewesen.
 
 
3.
 
3.1. Die Beschwerde erweist sich als begründet. Der angefochtene Entscheid verletzt in mehrfacher Hinsicht Bundesrecht. In prozessualer Hinsicht entspricht die vorliegend zu beurteilende Sach- und Rechtslage praktisch vollumfänglich derjenigen im Urteil 6B_606/2018 vom 12. Juli 2019, auf das umfassend verwiesen werden kann, auch wenn es erst nach dem angefochtenen Entscheid ergangen ist und die Vorinstanz von diesem keine Kenntnis hatte (vgl. auch Urteile 6B_1189/2018 vom 12. September 2019, 6B_582/2018 vom 12. Juli 2019).
 
Die Voraussetzungen zur Durchführung eines schriftlichen Berufungsverfahrens sind nicht gegeben. Ob aufgrund des Wortlauts der verfahrensleitenden Verfügung vom 27. November 2018 von einem Einverständnis der Staatsanwaltschaft zur Durchführung des schriftlichen Verfahrens ausgegangen werden kann, erscheint fraglich (vgl. Urteil 6B_606/2018 vom 12. Juli 2019 E. 3.5.1 und E. 3.5.3), kann aber offenbleiben, da die weiteren gesetzlichen Voraussetzungen gemäss Art. 406 Abs. 2 StPO nicht vorliegen. Der Beschwerdeführer bestreitet die Anklagevorwürfe - mit Ausnahme des geringfügigen "Ladendiebstahls" - vollumfänglich. Die Einwendungen betreffen sowohl seine objektive Tatbeteiligung respektive deren Umfang als auch sein Wissen und Wollen. Der Beschwerdeführer wurde erstinstanzlich vom Bezirksgericht in 5er-Besetzung zu einer Freiheitsstrafe von 48 Monaten verurteilt und die Staatsanwaltschaft beantragte mit Anschlussberufung sogar eine Freiheitsstrafe von 55 Monaten. Weder in tatsächlicher noch in sanktionsrechtlicher Hinsicht kann von einem einfachen Fall i.S.v. Art. 406 Abs. 2 lit. a StPO gesprochen werden, der die Anwesenheit und persönliche Befragung des Beschwerdeführers entbehrlich gemacht hätte (Urteile 6B_1189/2018 vom 12. September 2019 E. 2.1.1). Darüber hinaus trifft die Staatsanwaltschaft aufgrund ihrer Anschlussberufung eine (zwingende) Teilnahmepflicht, die nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers - ebenso wie das selbstständig verankerte Verschlechterungsverbot (Verbot der "reformatio in peius") - verhindern soll, dass die beschuldigte Person von der Ergreifung der Berufung abgehalten wird. Die Vorinstanz durfte die Anschlussberufung mithin nicht im schriftlichen Berufungsverfahren behandeln (vgl. Urteil 6B_606/2018 vom 12. Juli 2018 E. 3.2). Soweit der Beschwerdeführer seine Berufung nicht zurückzieht, womit auch die Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft dahinfallen würde (vgl. Art. 401 Abs. 3 StPO), wird die Vorinstanz mangels Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen von Art. 406 StPO eine mündliche Hauptverhandlung durchführen müssen, um die Berufung und Anschlussberufung behandeln zu können.
 
3.2. Da die Beschwerde sich als begründet erweist, erübrigt es sich grundsätzlich, auf die weiteren Rügen einzugehen; dies gilt auch für das ausschliesslich inzident mit den Freisprüchen beantragte "Haftentlassungsgesuch" aus dem vorzeitigen Strafvollzug. Aus prozessökonomischen Gründen ist darauf hinzuweisen, dass die Vorinstanz nach Rückweisung der Sache zu prüfen haben wird, ob ein wirksamer Hafttitel vorliegt. Ein Verzicht auf Einvernahme des in Bezug auf die ihn betreffenden Tatvorwürfe "geständigen", aber eine Beteiligung des Beschwerdeführers konsequent bestreitenden Mittäters erscheint begründungsbedürftig (vgl. Art. 6, Art. 343 Abs. 2 i.V.m. Art. 405 Abs. StPO; BGE 144 I 234 E. 5.6.2; 143 IV 288 E. 1.4.1; Urteil 6B_1189/2018 vom 12. September 2019 E. 2.1.1; je mit Hinweisen). Im Hinblick auf die vom Beschwerdeführer geltend gemachte allfällige Schlechtverteidigung respektive die Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses zum (damaligen) amtlichen Verteidiger wird die Vorinstanz berücksichtigen müssen, dass die Beschwerde nicht vom Verteidiger erhoben wurde und dieser sich im Berufungsverfahren zum beantragten, aber abgelehnten Wechsel der amtlichen Verteidigung inhaltlich umfassend geäussert hat.
 
4. Die Beschwerde ist im Verfahren gemäss Art. 109 BGG gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG), womit das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos wird.
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit auf sie einzutreten ist. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 19. Juni 2019 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 4. Juni 2020
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Denys
 
Der Gerichtsschreiber: Held
 
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