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Informationen zum Dokument  BGer 6B_165/2020  Materielle Begründung
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BGer 6B_165/2020 vom 20.05.2020
 
 
6B_165/2020
 
 
Urteil vom 20. Mai 2020
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, Präsident,
 
Bundesrichterin van de Graaf,
 
Bundesrichterin Koch,
 
Gerichtsschreiber Boog.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Pascal Veuve,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
 
2. B.________,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Versuchter Mord, Drohung, Verteidigungsrechte,
 
Willkür, rechtliches Gehör, Strafzumessung,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
 
des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer,
 
vom 19. Dezember 2019 (SST.2017.74).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Am 21. Dezember 2015 erhob die Staatsanwaltschaft Baden gegen A.________ Anklage wegen versuchten Mordes, qualifizierten Raubes, Diebstahls, Drohung, mehrfacher Sachbeschädigung und Beschimpfung. Ferner erhob sie gegen die Mitbeschuldigten C.________ und D.________ Anklage wegen qualifizierten Raubes, Sachbeschädigung und weiteren Delikten. Den Beschuldigten wird vorgeworfen, sie hätten gestützt auf einen gemeinsam gefassten Tatplan in der Nacht auf den 1. Juni 2014 einen Raubüberfall auf B.________ (nachfolgend: Privatkläger) an dessen Wohnort verübt, um Drogen zu erbeuten. Nachdem sie sich gewaltsam Zugang zur Wohnung des Privatklägers verschafft hatten, soll A.________ dem auf einem Sofa liegenden Privatkläger mindestens zwei Stromstösse mit einem Elektroschockgerät versetzt, ihn bedroht und nach Drogen gefragt haben. Bei der nachfolgenden Auseinandersetzung erlitt der sich heftig zur Wehr setzende Privatkläger am Oberkörper mehrere tiefe Stichverletzungen durch einen unbekannten, spitzen und geschliffenen Gegenstand, welche umgehend operativ versorgt werden mussten.
1
 
B.
 
B.a. Das Bezirksgericht Baden erklärte A.________ mit Urteil vom 22. September 2016 des Raubes, der Drohung, der Sachbeschädigung sowie der Beschimpfung schuldig, ordnete die Rückversetzung in den Strafvollzug für die Reststrafe von 699 Tagen gemäss Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 1. Februar 2006 (bedingte Entlassung am 22. September 2013) an und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 6 1/2 Jahren sowie zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu Fr. 30.-- als Gesamtstrafe im Sinne von Art. 89 Abs. 6 i.V.m. Art. 49 StGB. Die ausgestandene Untersuchungshaft von 680 Tagen rechnete es auf den Vollzug der Freiheitsstrafe an. Von der Anklage des versuchten Mordes und des Diebstahls sprach es ihn frei. In einem Punkt stellte es das Verfahren infolge Rückzugs des Strafantrags ein. Ferner verpflichtete es A.________ zur Bezahlung von Schadenersatz in der Höhe von Fr. 572.80 sowie zur Leistung einer Genugtuung von Fr. 10'000.--, nebst Zins zu 5% seit dem 1. Juni 2014, an den Privatkläger, unter solidarischer Haftbarkeit mit den beiden Mitbeschuldigten. Im Mehrbetrag wies es die Zivilansprüche des Privatklägers auf den Zivilweg. Schliesslich entschied es über die Einziehung der beschlagnahmten Gegenstände.  Mit Urteilen vom selben Datum erklärte das Bezirksgericht Baden die Mitbeschuldigten C.________ und D.________ unter anderem des einfachen Raubes schuldig und verurteilte sie zu mehrjährigen Freiheitsstrafen.
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B.b. Gegen den Entscheid des Bezirksgerichts Baden vom 22. September 2016 erhoben der Beurteilte und die Staatsanwaltschaft je selbstständig Berufung. Die Mitbeschuldigten C.________ und D.________ erhoben ebenfalls Berufung, der sich die Staatsanwaltschaft anschloss. Der Privatkläger zog seine ebenfalls angemeldete Berufung wieder zurück. Mit Beschluss vom 6. März 2018 hob das Obergericht des Kantons Aargau die erstinstanzlichen Urteile gegen alle drei Beurteilten ohne Vorankündigung auf und wies die Angelegenheit im Sinne der Erwägungen zur Neubeurteilung an das Bezirksgericht zurück. In der Folge zogen die Mitbeschuldigten C.________ und D.________ ihre Berufungen zurück. Aufgrunddessen erachtete der Verfahrensleiter des Obergerichts des Kantons Aargau mit Verfügung vom 12. März 2019 den Rückweisungsbeschluss vom 6. März 2018 im Verfahren gegen A.________ als hinfällig und ordnete an, dass das ihn betreffende Berufungsverfahren im schriftlichen Verfahren weitergeführt werde. Am 29. Juli 2019 ordnete der Verfahrensleiter des Obergerichts sodann die Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung an. Mit Verfügung vom 26. August 2019 setzte er der Staatsanwaltschaft Frist zur Ergänzung der Anklage um eine Eventualanklage auf versuchten Mord und qualifizierten Raub. Am 10. September 2019 reichte die Staatsanwaltschaft die ergänzte Anklageschrift ein.
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B.c. Am 19. Dezember 2019 erklärte das Obergericht des Kantons Aargau A.________ des versuchten Mordes, des Raubes sowie der Beschimpfung schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren, unter Anrechnung der ausgestandenen Untersuchungs- und Sicherheitshaft sowie des vorzeitigen Strafvollzuges von insgesamt 1'863 Tagen (13. November 2014 bis 19. Dezember 2019), sowie zu einer unbedingten Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu Fr. 10.--. Hinsichtlich der Verpflichtung zur Leistung von Schadenersatz und Genugtuung bestätigte es das erstinstanzliche Urteil. Ferner stellte es eine Verletzung des Beschleunigungsgebots sowie die Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils hinsichtlich der Einstellung des Verfahrens, des Freispruchs, der Einziehung sowie der Verweisung der Mehrforderung auf den Zivilweg fest.
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C. A.________ führt Beschwerde in Strafsachen, mit der er beantragt, das angefochtene Urteil sei vollumfänglich aufzuheben und das Verfahren an die Vorinstanz zurückzuweisen, verbunden mit der Weisung, die Verfahrensakten zur Weiterführung des erstinstanzlichen Verfahrens im Sinne der Erwägungen des Rückweisungsbeschlusses des Obergerichts vom 6. März 2018 an das Bezirksgericht Baden zu übermitteln. Eventualiter stellt er den Antrag, die Sache sei zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ferner ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Erteilung der aufschiebenden Wirkung für seine Beschwerde.
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D. Das Obergericht des Kantons Aargau hat auf Stellungnahme verzichtet. Die Oberstaatsanwaltschaft beantragt in ihrer Vernehmlassung die Abweisung der Beschwerde. Der Privatkläger hat sich innert Frist nicht vernehmen lassen. Die Vernehmlassung wurde A.________ zur Kenntnisnahme und eventuellen Stellungnahme zugestellt.
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Erwägungen:
 
 
1.
 
1.1. Der Beschwerdeführer rügt in Bezug auf die Präsidialverfügung vom 12. März 2019 ein Anmassung der Entscheidkompetenz durch die Verfahrensleitung der Vorinstanz, eine Verletzung des Anspruchs auf Beurteilung durch ein gesetzmässiges Gericht sowie eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Die Vorinstanz habe mit Beschluss vom 6. März 2018 die gegen ihn und die Mitbeschuldigten ergangenen erstinstanzlichen Urteile ohne Vorankündigung und ohne Gewährung des rechtlichen Gehörs gestützt auf Art. 409 Abs. 1 StPO aufgehoben und die Verfahren zur Neubeurteilung an das Bezirksgericht Baden zurückgewiesen. Zudem habe sie das Bezirksgericht angewiesen zu prüfen, ob der Staatsanwaltschaft vorgängig die Gelegenheit zur Anklageergänzung in Bezug auf den Anklagevorwurf des qualifizierten Raubes eingeräumt werden müsse. Dieser Beschluss sei in Rechtskraft erwachsen. Damit sei das von ihm angestrengte Berufungsverfahren erledigt und die Strafsache demnach wieder beim Bezirksgericht Baden rechtshängig gewesen. Es verletze daher Bundesrecht, wenn der Verfahrensleiter der Vorinstanz mit Präsidialverfügung vom 12. März 2019 das Verfahren wieder an sich gezogen habe. Ein in Rechtskraft erwachsener Beschluss, mit dem die Berufungsinstanz gestützt auf Art. 409 Abs. 1 StPO das erstinstanzliche Urteil aufhebe und das Verfahren zur Neubeurteilung an die erste Instanz zurückweise, könne von der Berufungsinstanz nicht mehr rückgängig gemacht werden, weil die Entscheidkompetenz nunmehr bei der ersten Instanz liege. Mit Sicherheit läge ein derartiger Wiedererwägungsentscheid nicht in der Entscheidkompetenz des Verfahrensleiters. Mit der Anmassung einer Entscheidkompetenz habe der Verfahrensleiter den Anspruch auf Beurteilung durch ein gesetzmässig besetztes Gericht verletzt. Mit der von ihm (sc. dem Beschwerdeführer) vorgetragenen Rüge der fehlenden Entscheidkompetenz habe sich die Vorinstanz anlässlich der Berufungsverhandlung nicht auseinandergesetzt. Damit habe sie auch seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Insgesamt seien somit sowohl die Präsidialverfügung vom 12. März 2019 als auch die seither ergangenen verfahrensleitenden Verfügungen sowie letztlich auch das angefochtenes Urteil nichtig. Daraus folge, dass die Rechtshängigkeit des Strafverfahrens nach wie vor beim Bezirksgericht Baden liege. Das Verfahren müsse daher an dieses zurückgewiesen werden (Beschwerde S. 7 ff.).
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Dieselben Rügen erhebt der Beschwerdeführer gegen die Präsidialverfügung vom 26. August 2019, mit welcher der Staatsanwaltschaft eine Frist zur Ergänzung der Anklage bzw. zur Erhebung einer Eventualanklage auf mittäterschaftliche Begehung des versuchten Mordes und des qualifizierten Raubes angesetzt worden sei. Die Einräumung der Gelegenheit zur Ergänzung der Anklage im Berufungsverfahren gemäss Art. 379 i.V.m. Art. 329 Abs. 2 StPO liege nicht in der Verfügungskompetenz der Verfahrensleitung, sondern müsse zwingend vom urteilenden Kollegialgericht geprüft und mit einem Beschluss im Sinne von Art. 80 Abs. 1 StPO angeordnet werden. Die Vorgehensweise des Verfahrensleiters sei auch deshalb unhaltbar, weil dieser die Staatsanwaltschaft autoritativ dazu aufgefordert habe, die Anklage um eine Eventualanklage auf Mittäterschaft zu ergänzen. Die Präsidialverfügung vom 26. August 2019 sei daher ebenfalls nichtig, so dass die Vorinstanz nicht auf die von der Staatsanwaltschaft nachgereichte Anklageergänzung hätte eintreten dürfen (Beschwerde S. 9 ff.).
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Eventualiter macht der Beschwerdeführer im Weiteren geltend, die gestützt auf die von der Staatsanwaltschaft nachgereichte Eventualanklage erfolgte Verurteilung sei auch deshalb unhaltbar, weil sich die Vorinstanz als erste und einzige kantonale Instanz mit den entsprechenden Tatumständen befasst habe. Dies bewirke für ihn einen Instanzenverlust und verletze das Double-Instance-Prinzip (Beschwerde S. 11 ff.). Überdies verletze die Vorgehensweise der Vorinstanz den Grundsatz der Einheit des Verfahrens gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b StPO und das durch Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO und Art. 8 BV garantierte Gleichbehandlungs- und Gleichheitsgebot. Nachdem die beiden Mitbeschuldigten ihre Berufungen zurückgezogen hätten und die Anschlussberufungen der Staatsanwaltschaft dahingefallen seien, sei die Vorinstanz nicht mehr befugt gewesen, bei der Staatsanwaltschaft eine Eventualanklage auf mittäterschaftliche Begehung des versuchten Mordes und qualifizierten Raubes einzuverlangen. Es sei der Vorinstanz mithin verwehrt gewesen, ihn in diesem Stadium des Verfahrens als einzigen noch im Verfahren verbliebenen Tatbeteiligten wegen Mittäterschaft zur Verantwortung zu ziehen. Das von der Vorinstanz gesprochene Urteil stehe in unverträglichem Widerspruch zu den im gleichen Verfahren ergangenen rechtskräftigen Entscheiden gegen die Mitbeschuldigten (Beschwerde S. 14 ff.).
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Schliesslich beanstandet der Beschwerdeführer eine Verletzung des Anklagegrundsatzes und seines Rechts auf eine wirksame Verteidigung. Haupt- und Eventualanklage stünden zueinander im Verhältnis der Subsidiarität. Die Vorinstanz hätte ihn daher nicht teilweise gestützt auf die Hauptanklage und teilweise gestützt auf die Eventualanklage wegen allein- bzw. mittäterschaftlich begangenem Mord schuldig erklären dürfen (Beschwerde S. 14 f.).
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1.2. Das Bezirksgericht Baden sprach den Beschwerdeführer vom Vorwurf des versuchten Mordes frei. Es nahm an, es bestünden verschiedene Hinweise dafür, dass die Tat nicht vom Beschwerdeführer in Alleintäterschaft, sondern unter Mitwirkung der eines oder beider am Raub beteiligten Täter ausgeführt worden sei. Eine mittäterschaftliche Begehung sei in der damals vorliegenden Hauptanklage nicht angeklagt gewesen (angefochtenes Urteil S. 14; erstinstanzliches Urteil S. 40).
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Nachdem die Staatsanwaltschaft die Anklage im Berufungsverfahren dahin ergänzt hatte, dass der Beschwerdeführer den versuchten Mord eventualiter gemeinsam mit den Tatbeteiligten C.________ und D.________ in Mittäterschaft begangen habe, prüfte die Vorinstanz den Anklagevorwurf sowohl unter dem Gesichtspunkt der Alleintäterschaft als auch unter demjenigen der Mittäterschaft. Dabei nimmt sie an, ein Anlass für die Rückweisung an die erste Instanz habe nicht bestanden. Die Staatsanwaltschaft sei zur Ergänzung der Anklageschrift lediglich eingeladen worden. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern eine solche Einladung nicht durch die Verfahrensleitung habe erfolgen können. Im Übrigen habe sich das Berufungsgericht die verfahrensleitende Verfügung spätestens an der Berufungsverhandlung zu eigen gemacht, sodass ein allfälliger Mangel geheilt wäre (angefochtenes Urteil S. 15).
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2.
 
2.1. Gemäss Art. 328 StPO wird das Verfahren mit dem Eingang der Anklageschrift beim Gericht rechtshängig (Abs. 1). Mit der Rechtshängigkeit gehen die Befugnisse im Verfahren auf das Gericht über (Abs. 2). Die Verfahrensleitung prüft in der Folge, ob die Anklageschrift und die Akten ordnungsgemäss erstellt sind, ob die Prozessvoraussetzungen erfüllt sind und ob Verfahrenshindernisse bestehen (Art. 329 Abs. 1 StPO). Ist auf die Anklage einzutreten, trifft die Verfahrensleitung unverzüglich die zur Durchführung der Hauptverhandlung notwendigen Anordnungen (Art. 330 Abs. 1 StPO). Nach Durchführung der Hauptverhandlung fällt das Gericht, soweit es materiell über die Anklage entscheiden kann, ein Urteil über die Schuld, die Sanktionen und die weiteren Folgen (Art. 351 Abs. 1 StPO).
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Das Rechtsmittelverfahren richtet sich gemäss Art. 379 StPO, unter Vorbehalt besonderer Bestimmungen, sinngemäss nach den allgemeinen Bestimmungen der Strafprozessordnung. Gemäss Art. 398 Abs. 1 StPO ist die Berufung zulässig gegen Urteile erstinstanzlicher Gerichte, mit denen das Verfahren ganz oder teilweise abgeschlossen worden ist. Die Verfahrensleitung trifft, soweit auf die Berufung einzutreten ist, die notwendigen Anordnungen zur Durchführung des weiteren Berufungsverfahrens (Art. 403 Abs. 4 StPO). Tritt das Berufungsgericht auf die Berufung ein, fällt es ein neues Urteil, welches das erstinstanzliche Urteil ersetzt (Art. 408 StPO).
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Nach Art. 409 Abs. 1 StPO hebt das Berufungsgericht bei wesentlichen, im Berufungsverfahren nicht heilbaren Mängeln das angefochtene Urteil ausnahmsweise auf und weist die Sache zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung und Fällung eines neuen Urteils an die Vorinstanz zurück. Dabei bestimmt das Berufungsgericht, welche Verfahrenshandlungen zu wiederholen oder nachzuholen sind (Abs. 2). Die kassatorische Erledigung durch Rückweisung ist aufgrund des reformatorischen Charakters des Berufungsverfahrens die Ausnahme und kommt nur bei derart schwerwiegenden, nicht heilbaren Mängeln des erstinstanzlichen Verfahrens in Betracht, in denen die Rückweisung zur Wahrung der Parteirechte, in erster Linie zur Vermeidung eines Instanzenverlusts, unumgänglich ist. Dies ist etwa der Fall bei Verweigerung von Teilnahmerechten oder nicht gehöriger Verteidigung, bei nicht richtiger Besetzung des Gerichts oder bei unvollständiger Behandlung sämtlicher Anklage- oder Zivilpunkte (BGE 143 IV 408 E. 6.1 mit Hinweisen; 6B_904/2018 vom 8. Februar 2019 E. 2.4; vgl. auch SCHMID/JOSITSCH, Praxiskommentar, Art. 409 N 1 ff.; Luzius Eugster, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N 1 zu Art. 409). Das erstinstanzliche Gericht ist an die vom Berufungsgericht im Rückweisungsentscheid vertretenen Rechtsauffassungen und an die Weisungen in Bezug auf die Wiederholung oder Nachholung von Verfahrenshandlungen gebunden (Art. 409 Abs. 3 StPO).
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Die Rückweisung der Sache und die Aufhebung des erstinstanzlichen Entscheids bezieht sich auf das Urteil in seiner Gesamtheit (Moreillon/Parein-Reymond; CPP, 2. Aufl., 2016, Art. 409 Rz. 4). Der Rückweisungsentscheid ergeht in Form eines Beschlusses. Soweit sich die Notwendigkeit der Rückweisung bereits aufgrund der Berufungserklärung ergibt, kann diese bereits vor der Ansetzung der mündlichen Berufungsverhandlung angeordnet werden. Den Verfahrensparteien ist in jedem Fall Gelegenheit einzuräumen, sich vorgängig zur Frage eines allfälligen Rückweisungsentscheids zu äussern (BGE 143 IV 408 E. 6.1; Niklaus Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Aufl. 2020, N 2144; Marlène Kistler Vianin, in: CR CPP, 2. Aufl., 2019, N 7 zu Art. 409; Eugster, a.a.O., N 2 zu Art. 409).
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2.2.
 
2.2.1. Nach dem Anklagegrundsatz bestimmt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion; Art. 9 und Art. 325 StPO; Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. a und b EMRK). Die Anklage hat die der beschuldigten Person zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise zu umschreiben, dass die Vorwürfe in objektiver und subjektiver Hinsicht genügend konkretisiert sind. Zugleich bezweckt das Anklageprinzip den Schutz der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person und garantiert den Anspruch auf rechtliches Gehör (Informationsfunktion; BGE 143 IV 63 E. 2.2; 141 IV 132 E. 3.4.1 S. 142 f.; je mit Hinweisen). Diese muss aus der Anklage ersehen können, was ihr konkret vorgeworfen wird, damit sie ihre Verteidigungsrechte angemessen ausüben kann. Dies bedingt eine zureichende, d.h. möglichst kurze, aber genaue (Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO) Umschreibung der Sachverhaltselemente, die für eine Subsumtion unter die anwendbaren Straftatbestände erforderlich sind. Entscheidend ist, dass die betroffene Person genau weiss, welcher konkreter Handlungen sie beschuldigt und wie ihr Verhalten rechtlich qualifiziert wird, damit sie sich in ihrer Verteidigung richtig vorbereiten kann (BGE 143 IV 63 E. 2.2).
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Gemäss Art. 325 Abs. 2 StPO kann die Staatsanwaltschaft eine Alternativanklage oder für den Fall der Verwerfung ihrer Hauptanklage eine Eventualanklage erheben, wenn eindeutige tatsächliche Feststellungen zwar nicht möglich sind, aber doch feststeht, dass die beschuldigte Person sich in jeder der in Betracht fallenden Sachverhaltsalternativen schuldig gemacht haben könnte (Urteil 6B_879/2018 vom 26. April 2019 E. 1.1 mit Hinweis; zum Begriff der Eventualanklage vgl. FABBRI/NOTO, Die Eventual- und Alternativanklage im Lichte des Akkusationsprinzips, AJP 2012 S. 899).
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2.2.2. Das Gericht weist gemäss Art. 329 Abs. 2 StPO falls erforderlich, die Anklage zur Ergänzung oder Berichtigung an die Staatsanwaltschaft zurück. Nach Art. 333 Abs. 1 StPO gibt das Gericht der Staatsanwaltschaft Gelegenheit, die Anklage zu ändern, wenn nach seiner Auffassung der in der Anklageschrift umschriebene Sachverhalt einen andern Straftatbestand erfüllen könnte, die Anklageschrift aber den gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht.
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3.
 
3.1. Die Vorinstanz hat mit Beschluss vom 6. März 2018 das erstinstanzliche Urteil ohne Vorankündigung und ohne Gewährung des rechtlichen Gehörs aufgehoben und die Angelegenheit zur Neubeurteilung an das Bezirksgericht zurückgewiesen. Sie nahm an, der Umstand, dass das Bezirksgericht es unterlassen habe, die Staatsanwaltschaft zur Ergänzung der Anklage gegen die beiden Mitbeschuldigten des Beschwerdeführers aufzufordern, stelle einen wesentlichen Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens dar. Ferner seien die Parteirechte der Beschuldigten, das Recht auf Wahrung des Instanzenzuges und der Grundsatz der Verfahrenseinheit zu beachten. Es sei daher notwendig, die erstinstanzlichen Urteile im Sinne von Art. 409 StPO aufzuheben und die Angelegenheiten zur inhaltlichen Vervollständigung der in den Anklageschriften vom 21. Dezember 2015 enthaltenen Sachverhalte und zur gemeinsamen Neubeurteilung an das Bezirksgericht zurückzuweisen (Beschluss vom 6. März 2018 S. 15 f., Akten des Obergerichts act. 137 f.).
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3.2.
 
3.2.1. Im vorliegenden Strafverfahren konnte mangels Anfechtung durch den Beschwerdeführer nicht überprüft werden, ob der ohne Rechtsmittelbelehrung erlassene Rückweisungsbeschluss der Vorinstanz vom 6. März 2018 vor Bundesrecht standhält. Desgleichen konnte nicht beurteilt werden, ob der fragliche Beschluss nicht schon wegen der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör hätte aufgehoben werden müssen. Auf eine von einem der beiden Mitbeschuldigten des Beschwerdeführers gegen diesen Beschluss geführte Beschwerde ist die I. Öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts in einem Präsidialentscheid nicht eingetreten mit der Begründung, das nach der angeordneten Neubeurteilung ergangene neue erstinstanzliche Urteil könne mit Berufung angefochten und die Angelegenheit hernach an das Bundesgericht weitergezogen werden (Urteil 1B_225/2018 vom 15. Mai 2018 E. 4.3.
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3.2.2. Mangels Anfechtung durch den Beschwerdeführer ist der Beschluss des Obergerichts vom 6. März 2018, mit dem die Angelegenheit zur Neubeurteilung an das Bezirksgericht zurückgewiesen worden ist, mithin in Rechtskraft erwachsen. Das Bezirksgericht ist nach der Rückweisung der Sache indes offenbar nicht tätig geworden, sodass die Angelegenheit geruht hat. Sie hat namentlich weder die Staatsanwaltschaft eingeladen, die Anklageschrift zu ergänzen, noch selber ein Urteil gefällt. Wie sich aus den Verfahrensakten, nicht aber aus der verkürzten Darstellung des Verfahrensgangs im angefochtenen Urteil ergibt, hat der Verfahrensleiter der Vorinstanz das Verfahren mit Verfügung vom 12. März 2019 (Akten des Obergerichts act. 150 f.; vgl. auch act. 147) wieder an das Obergericht gezogen, wobei die Weiterführung des Berufungsverfahrens lediglich in den Erwägungen thematisiert wird und sich das Dispositiv der Verfügung lediglich auf die Anordnung des schriftlichen Verfahrens bezieht. Für ein derartiges Vorgehen, sowohl des Verfahrensleiters als auch des Berufungsgerichts, fehlt indes jegliche gesetzliche Grundlage. Mit der Rückweisung der Sache zur Neubeurteilung und zur Einladung an die Staatsanwaltschaft zu einer Anklageergänzung an das Bezirksgericht hat die Vorinstanz die Verfahrensleitung an die erste Instanz zurückübertragen und wurde diese zur Beurteilung der Sache funktional zuständig. Solange die erste Instanz kein Urteil gefällt hat bzw. gegen ein solches keine Berufung angemeldet worden ist, kommt dem Obergericht keine Verfahrensleitung zu. Dieses wird erst mit der Übermittlung der (erneuten) Berufungsanmeldung und des schriftlich begründeten Urteils der Vorinstanz samt Akten beim Berufungsgericht für die Verfahrensleitung zuständig (SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N 7 zu Art. 61; dies., Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl., 2017, N 1545; Adrian Jent, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N 14 zu Art. 61). Die Vorinstanz bzw. deren Verfahrensleiter waren mithin nicht befugt, das Verfahren aus eigener Initiative wieder an sich zu ziehen. Das angefochtene Urteil ist daher aufgrund der funktionalen Unzuständigkeit der entscheidenden Behörde nichtig (BGE 144 IV 362 E. 1.4.3). Die Nichtigkeit ist in jedem Verfahrensstadium zu beachten. Es ist daher ohne Bedeutung, dass die Verfügung des Verfahrensleiters nicht angefochten wurde. Aus diesem Grund ist auch unbeachtlich, dass sich der Beschwerdeführer vor Erlass der fraglichen Verfügung unter Bezugnahme auf eine telefonische Besprechung mit dem Verfahrensleiter mit der Durchführung des schriftlichen Berufungsverfahrens einverstanden erklärt hat (Akten des Obergerichts act. 148).
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Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als begründet. Das Verfahren ist daher zu seiner Weiterführung an die erste Instanz zurückzuweisen. Bei diesem Ergebnis muss auf die weiteren erhobenen Verfahrensrügen, die Willkürrügen sowie die Rügen zur Strafzumessung nicht eingetreten werden.
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4. Aus diesen Gründen ist die Beschwerde gutzuheissen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das Bezirksgericht Baden zurückzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 BGG). Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. Die zugesprochene Parteientschädigung ist praxisgemäss jedoch dem Vertreter des Beschwerdeführers auszurichten. Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos.
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Es wird festgestellt, dass das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 19. Dezember 2019 nichtig ist und die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Bezirksgericht Baden zurückgewiesen.
 
2. Es werden keine Kosten erhoben.
 
3. Der Kanton Aargau hat dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von CHF 3'000.-- auszurichten.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 20. Mai 2020
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Denys
 
Der Gerichtsschreiber: Boog
 
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