VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 6B_185/2020  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 18.07.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 6B_185/2020 vom 11.05.2020
 
 
6B_185/2020
 
 
Urteil vom 11. Mai 2020
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, Präsident,
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
 
Bundesrichterin Koch,
 
Gerichtsschreiberin Arquint Hill.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A._________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Zustellung (Art. 85 Abs. 2 StPO); Rückzug der Berufung,
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern, 2. Strafkammer, vom 21. Januar 2020
 
(SK 19 392).
 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1. Die erste Instanz verurteilte den Beschwerdeführer am 23. Juli 2019 wegen Betrugs zu einer unbedingten Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je Fr. 30.--. Dagegen meldete der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer am 31. Juli 2019 fristgerecht Berufung an. Die Berufungserklärung reichte er innert Frist am 28. Oktober 2019 ein. Am 21. November 2019 legte der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers das Mandat nieder. Auf Anfrage erklärte sich Letzterer am 6. Dezember 2019 mit der Durchführung des schriftlichen Verfahrens einverstanden. Entsprechend wurde mit Verfügung vom 13. Dezember 2019 das schriftliche Berufungsverfahren angeordnet und der Beschwerdeführer unter Androhung der Säumnisfolgen von Art. 407 Abs. 1 lit. b StPO aufgefordert, innert 30 Tagen ab Erhalt der Verfügung eine schriftliche Berufungsbegründung einzureichen. Weil eine solche Begründung innert Frist nicht einging, schrieb die Vorinstanz das Verfahren am 21. Januar 2020 als durch Rückzug der Berufung erledigt ab.
 
Dagegen reicht der Beschwerdeführer Beschwerde ein. Er macht geltend, die Verfügung vom 13. Dezember 2019 nicht erhalten zu haben. Auf seine telefonischen Nachfragen bei der Vorinstanz sei jeweils auf die Zustellung der fraglichen Verfügung verwiesen und ihm mitgeteilt worden, dass der Fall abgeschlossen sei und er Beschwerde an das Bundesgericht erheben könne.
 
Die Vorinstanz verzichtete am 9. März 2020 auf eine Stellungnahme zur Beschwerde. Die Beschwerdegegnerin hat sich nicht vernehmen lassen.
 
2. Die Formen der Zustellung im Strafverfahren sind in Art. 85 StPO geregelt. Danach bedienen sich die Strafbehörden für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt (Abs. 1). Die Zustellung erfolgt durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung, insbesondere durch die Polizei (Art. 85 Abs. 2 StPO). Sie ist erfolgt, wenn die Sendung von der Adressatin oder dem Adressaten oder einer angestellten oder im gleichen Haushalt lebenden, mindestens 16 Jahre alten Person entgegengenommen wurde (Art. 85 Abs. 3 StPO). Die gesetzlich vorgeschriebenen Zustellungsformen tragen dem Umstand Rechnung, dass Verfügungen oder Entscheide, die der betroffenen Person nicht eröffnet worden sind, grundsätzlich keine Rechtswirkungen entfalten (BGE 122 I 97 E. 3a/bb). Der Beweis ordnungsgemässer Zustellung bzw. Eröffnung sowie deren Datums obliegt der Behörde, die daraus rechtliche Konsequenzen ableiten will (BGE 144 IV 57 E. 2.3; BGE 142 IV 125 E. 4; je mit Hinweisen).
 
3. Der Beschwerdeführer lebt in Deutschland. Gestützt auf Art. 16 Abs. 2 des zweiten Zusatzprotokolls zum Rechtshilfeübereinkommen (2. ZP zum EUeR; SR 0.351.12) durfte die Vorinstanz die Verfügung vom 13. Dezember 2019 direkt an den Beschwerdeführer schicken, ohne dass ein Zustelldomizil in der Schweiz zu bezeichnen war (Art. 87 Abs. 2 StPO).
 
Die Vorinstanz versandte die Verfügung vom 13. Dezember 2019 mit eingeschriebener Briefpost an die Wohnadresse des Beschwerdeführers. In den kantonalen Akten findet sich in Bezug auf die Zustellung einzig ein "Track & Trace"-Auszug der Post (act. 229). Daraus geht hervor, dass das fragliche Einschreiben am 13. Dezember 2019 in Bern zum Versand aufgegeben, es am 14. Dezember 2019 an den Grenzstellen sowohl des Aufgabe- als auch des Bestimmungslands registriert und am 16. Dezember 2019 (nach erfolgter Übergabe an die Inlandsortierung) als "zugestellt" erfasst wurde. Der Weg der Sendung scheint damit elektronisch lückenlos dokumentiert zu sein. Die Vorinstanz schliesst im angefochtenen Beschluss denn auch daraus, die Verfügung sei dem Beschwerdeführer am 16. Dezember 2019 zugestellt worden.
 
Indessen ergibt sich aus dem "Track & Trace"-Auszug trotz des Eintrags "zugestellt" nicht, dass der Beschwerdeführer oder eine allenfalls andere empfangsberechtigte Person in seinem Haushalt (Art. 85 Abs. 3 StPO) die eingeschrieben versandte Sendung tatsächlich entgegengenommen hat, zumal eine unterschriftliche Quitterung des Einschreibens fehlt und von der Vorinstanz auf Nachfrage auch nicht erhältlich gemacht werden konnte. Mangels Quittierung lässt sich dem "Track & Trace"-Auszug aber nicht entnehmen, ob tatsächlich jemand die Sendung behändigt hat und um wen es sich dabei allenfalls handelt, geschweige denn, dass sie tatsächlich zur Kenntnis genommen worden ist (BGE 144 IV 57 E. 2.3.1).
 
Die blosse Erfassung einer eingeschrieben versandten Sendung im "Track & Trace"-Auszug als "zugestellt" genügt der in Art. 85 Abs. 2 StPO vorgesehenen qualifizierten Zustellungsform nicht. Massgebend ist insoweit vielmehr die tatsächliche Kenntnisnahme durch den Empfänger (BGE 145 IV 252 E. 1.3.2; 144 IV 57 E. 2.3.2). Eine solche lässt sich vorliegend mangels Empfangsbestätigung nicht nachweisen (BGE 144 IV 57 E. 2.3.1). Von einer rechtswirksamen Zustellung und Eröffnung der Verfügung vom 13. Dezember 2019 im Sinne von Art. 85 Abs. 2 StPO kann folglich nicht ausgegangen werden. Indem die beweisbelastete Vorinstanz den blossen "Track & Trace"-Auszug der Post als Nachweis der Zustellung genügen lässt und daran nachteilige Rechtswirkungen für den Beschwerdeführer knüpft (Abschreibung des Berufungsverfahrens), verletzt sie Bundesrecht.
 
4. Die Beschwerde in Strafsachen ist damit im Verfahren nach Art. 109 BGG gutzuheissen, der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 BGG). Eine Parteientschädigung ist dem Beschwerdeführer nicht zuzusprechen, da er sich nicht anwaltlich vertreten liess. Eine Umtriebsentschädigung wird nur bei "besonderen Verhältnissen" ausgerichtet, die hier nicht gegeben sind.
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde in Strafsachen wird gutgeheissen, der angefochtene Beschluss vom 21. Januar 2020 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2. Es werden keine Kosten erhoben und keine Entschädigungen ausgerichtet.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 11. Mai 2020
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Denys
 
Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).