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Informationen zum Dokument  BGer 8C_565/2019  Materielle Begründung
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BGer 8C_565/2019 vom 07.05.2020
 
 
8C_565/2019
 
 
Urteil vom 7. Mai 2020
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin,
 
Gerichtsschreiberin Berger Götz.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Advokatin Monica Armesto,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle Basel-Stadt,
 
Lange Gasse 7, 4052 Basel,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt
 
vom 20. Mai 2019 (IV.2018.201).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Der 1974 geborene A.________ hat eine Lehre als Detailhandelsangestellter absolviert. Zuletzt war er seit 4. Juli 2001 als Bankangestellter für die Bank B.________ AG tätig. Nach einer missglückten Devisenoption löste die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis per Ende Januar 2012 auf. In der Folge war A.________ bis zu seiner Aussteuerung im Oktober 2013 arbeitslos. Seither wird er von der Sozialhilfe unterstützt. Am 9. November 2015 meldete er sich unter Hinweis auf eine Diskushernie und Hodenkrebs bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Basel-Stadt nahm erwerbliche und medizinische Abklärungen vor. In diesem Rahmen holte sie unter anderem ein polydisziplinäres Gutachten beim Begutachtungszentrum BL, Binningen (nachfolgend: BEGAZ), vom 18. Januar 2018 ein. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach sie A.________ rückwirkend ab 1. Mai 2016 eine Viertelsrente, basierend auf einem Invaliditätsgrad von 40 %, zu (Verfügung vom 26. Oktober 2018).
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B. Das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt wies die dagegen erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 20. Mai 2019).
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C. A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des kantonalgerichtlichen Entscheids vom 26. Oktober 2018 und der Verfügung der IV-Stelle vom 26. Oktober 2018 sei ihm mit Wirkung ab 1. Mai 2016 eine halbe Invalidenrente nach Massgabe eines Invaliditätsgrades von mindestens 56 % zuzusprechen. Ferner ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung.
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Ein Schriftenwechsel findet nicht statt.
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Erwägungen:
 
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren beanstandeten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht zu Recht in Bestätigung der Verfügung der IV-Stelle vom 26. Oktober 2018 erkannt hat, der Beschwerdeführer habe Anspruch auf eine Viertelsrente.
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3. Die für die Beurteilung des streitigen Rentenanspruches massgebenden gesetzlichen Bestimmungen und die von der Rechtsprechung dazu weiter konkretisierten Grundlagen hat das kantonale Gericht im angefochtenen Entscheid zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
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4. Aufgrund der Vorbringen in der Beschwerdeschrift ist einzig der für den Einkommensvergleich nach Art. 16 ATSG angenommene Verdienst zu prüfen, der ohne Gesundheitsschädigung mutmasslich realisiert werden könnte (Valideneinkommen), und das ebenfalls hypothetische Jahresgehalt, das der Beschwerdeführer trotz seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung zumutbarerweise noch zu erzielen in der Lage wäre (Invalideneinkommen). Unbestrittenermassen nicht mehr zur Diskussion steht, dass der Versicherte - ausgehend von den beweiskräftigen medizinischen Unterlagen - ab Mai 2016 noch eine körperlich leichte bis manchmal mittelschwere Tätigkeit ohne längerdauernde und wiederholte Arbeitshaltungen vornüber geneigt sowie ohne sich wiederholende Bück- und Drehbewegungen in einem 60%-Pensum ausüben kann. Dazu gehört auch die letzte, langjährige Beschäftigung im Bankensektor.
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4.1. Mit Hinweis darauf, dass der Beschwerdeführer bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit arbeitslos war und bisher keine neue Anstellung gefunden hatte, bestätigte das kantonale Gericht den Beizug der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (LSE) zur Ermittlung beider Vergleichseinkommen. Es gelangte zum Schluss, dass offen bleiben könne, ob der im Kündigungsschreiben der letzten Arbeitgeberin genannte Grund für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses (Verstoss gegen interne Weisungen) zutreffe. Aufgrund der Umstände sei jedenfalls nicht darauf zu schliessen, dass der Versicherte nur aufgrund dieses Vorkommnisses nie wieder eine Stelle im Finanzsektor finden würde. Entscheidend sei die Tatsache, dass sich die Berufserfahrung und die Fähigkeit, sich ungelernt durch entsprechendes Geschick intern hochzuarbeiten, gleichermassen auf Validen- und Invalideneinkommen auswirke. Der Beschwerdeführer sei gestützt auf das BEGAZ-Gutachten lediglich in seiner quantitativen Leistungsfähigkeit eingeschränkt, so dass er aufgrund der chronischen Fatigue nur noch in einem Teilzeitpensum arbeiten könne. Seine fachlichen Kompetenzen könne er aber gleichermassen verwerten, was sich auch daran zeige, dass er nach der Chemotherapie weiterhin Stellen im Finanzsektor gesucht habe. Folglich sei im Ergebnis das Abstellen auf identische statistische Grundlagen sowohl beim Validen- als auch beim Invalideneinkommen korrekt, womit die Ermittlung eines Invaliditätsgrades von 40 % bei einer Arbeitsunfähigkeit von 40 % nicht zu beanstanden sei. Demnach bestehe Anspruch auf eine Viertelsrente.
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4.2. Der Beschwerdeführer lässt einwenden, da die Vorinstanz davon ausgehe, dass ihm trotz seines Arbeitsplatzverlustes nach wie vor Anstellungen im Bankensektor offen stehen würden, verbleibe kein Spielraum für die Bestimmung des Valideneinkommens gestützt auf andere Positionen als auf den Wirtschaftszweig 64-66, Finanz- und Versicherungsdienstleistungen, Kompetenzniveau 1, woraus ein Jahresverdienst von Fr. 95'051.- resultiere. Für das Invalideneinkommen dürfe hingegen nicht auf diese Zahlen abgestellt werden, da ihm die stressbelastete und anspruchsvolle Arbeit im Banken- und Finanzsektor aufgrund des im BEGAZ-Gutachten attestierten Cancer-related Fatigue-Syndroms nicht mehr zumutbar sei. Zudem seien in diesem Sektor kaum Teilzeitanstellungen möglich. Auf der Basis der in der Verfügung vom 26. Oktober 2018 beigezogenen Zahlen (LSE 2014, Tabelle TA 1, Total Dienstleistungen, Männer, Kompetenzniveau 2) ergebe sich bei einer 40%igen Arbeitsunfähigkeit ein Invalideneinkommen von Fr. 42'379.-. Verglichen mit dem berichtigten Valideneinkommen von Fr. 95'051.- resultiere ein Invaliditätsgrad von 56 %, was zu einer halben Invalidenrente berechtige. Falls hingegen - mit dem kantonalen Gericht - sowohl Validen- als auch Invalideneinkommen gestützt auf die gleiche statistische Grundlage bestimmt würden, müsse ein grosszügiger leidensbedingter Abzug gewährt werden. Gerade im Banken- und Finanzsektor wirke sich Teilzeitarbeit äusserst negativ aus, indem einerseits kaum Stellen vorhanden seien und andererseits, wenn solche Stellen vorhanden seien, diese viel schlechter entlöhnt würden als Vollzeitstellen. Dies zeige sich sehr deutlich im in dieser Position ausgewiesenen Unterschied zwischen den Löhnen der Frauen, die häufig Teilzeit arbeiten würden, und jenen von Männern. Die Frauenlöhne würden rund 22 % unter jenen von Männern liegen. Deshalb sei dem Beschwerdeführer ein leidensbedingter Abzug von 20 % zu gewähren. Das Invalideneinkommen wäre diesfalls auf Fr. 45'624.- festzulegen. Im Vergleich zum Valideneinkommen von  Fr. 95'051.- würde daraus ein Invaliditätsgrad von 52 % resultieren.
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5.
 
5.1. Gemäss BEGAZ-Gutachten besteht aufgrund des Fatigue-Syndroms eine Arbeitsunfähigkeit von 40 %. Weitere Einschränkungen in zeitlicher und qualitativer Hinsicht werden für eine der vor Eintritt der Arbeitslosigkeit ausgeübten Tätigkeit im Bankensektor entsprechende Stelle nicht angegeben. Auch sonst liegen keine Hinweise für die Behauptung des Versicherten vor, dass ihm die anspruchsvolle Tätigkeit im Banken- und Finanzsektor nicht mehr zumutbar wäre. Es lässt sich daher nicht beanstanden, dass die Vorinstanz letztlich einen Prozentvergleich bei identischen statistischen Ausgangswerten vorgenommen hat.
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5.2. Eventualiter verlangt der Beschwerdeführer einen zusätzlichen leidensbedingten Abzug vom Invalideneinkommen in der Höhe von 20 %. Mit dem Abzug vom Tabellenlohn nach BGE 126 V 75 soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben können und je nach Ausprägung die versicherte Person deswegen die verbliebene Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann (BGE 135 V 297 E. 5.2 S. 301; Urteil 8C_114/2017 vom 11. Juli 2017 E. 3.1). Der Abzug soll aber nicht automatisch erfolgen. Er ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen und darf 25 % nicht übersteigen (BGE 135 V 297 E. 5.2 S. 301; 134 V 322 E. 5.2 S. 327 f.; 126 V 75 E. 5b/bb-cc S. 80). Bei der hier strittigen Frage, ob ein Abzug vom Tabellenlohn zu gewähren ist, handelt es sich um eine vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage (BGE 137 V 71 E. 5.1 S. 72).
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Aus dem BEGAZ-Gutachten ergeben sich - abgesehen von der 40%igen Arbeitsunfähigkeit - weder in qualitativer noch in quantitativer Sicht zusätzliche Leistungsdefizite in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit. Einzig der Faktor "Teilzeitarbeit" wäre unter den vorliegenden Umständen grundsätzlich geeignet, einen Leidensabzug zu begründen. Allerdings kann dem Versicherten nicht gefolgt werden, soweit er zur Prüfung eines allfälligen Minderverdienstes bei Teilzeit statistische Vollzeit-Frauenlöhne in diesem Sektor beiziehen will. Denn mit seiner zeitlichen Leistungseinschränkung hat der Versicherte seinen Lohnvorteil als Mann, wie er statistisch gegenüber den Erwerbseinkommen von Frauen ausgewiesen ist, nicht eingebüsst. Gemäss Tabelle T18 der LSE 2014, Monatlicher Bruttolohn nach Beschäftigungsgrad, beruflicher Stellung und Geschlecht, wird Teilzeitarbeit (50 % bis 74 %: Fr. 10'245.-) bei Männern im obersten, oberen und mittleren Kader zu 5,7 % niedriger entlöhnt als Vollzeitarbeit (90 % oder mehr: Fr. 10'865.-). Im unteren Kader beträgt der Unterschied 7 % (Fr. 8072.- bei Teilzeit [50 bis 74 %]; Fr. 8675.- bei Vollzeit [90 % oder mehr]). Es ist nicht belegt, dass sich Teilzeitarbeit im Banken- und Finanzsektor im Vergleich zum Total der Teilzeitlöhne gestützt auf die Zahlen der LSE-Tabelle T18 überproportional negativ auswirken würde. Da bei der Beurteilung der Frage, ob und allenfalls in welcher Höhe ein Leidensabzug vorzunehmen ist, die gesamten Umstände in die Würdigung einzubeziehen sind, verletzt die vom kantonalen Gericht vertretene Auffassung, wonach zusätzlich zum 40%igen Abzug für eine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit kein leidensbedingter Abzug beim Invalideneinkommen vorzunehmen sei, kein Bundesrecht.
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6. Die Gerichtskosten sind dem Ausgang des Verfahrens gemäss dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Seinem Gesuch um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren ist stattzugeben, da die Bedürftigkeit aktenkundig, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Verbeiständung durch eine Anwältin geboten war (Art. 64 Abs. 1 bis 3 BGG). Er wird indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach er der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er später dazu in der Lage ist.
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Advokatin Monica Armesto wird als unentgeltliche Anwältin bestellt.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
 
4. Der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 7. Mai 2020
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz
 
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