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Informationen zum Dokument  BGer 8C_2/2020  Materielle Begründung
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BGer 8C_2/2020 vom 17.03.2020
 
 
8C_2/2020
 
 
Urteil vom 17. März 2020
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
 
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________, vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Buff,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich,
 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Umschulung),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
 
vom 8. November 2019 (IV.2019.00618).
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________, geboren 1993, absolvierte in den Jahren 2010 bis 2012 mit Unterstützung der Invalidenversicherung eine erstmalige berufliche Ausbildung als Gärtnereimitarbeiter (Anlehre; heute: Eidg. Berufsattest, EBA). In der Folge war er als Greenkeeper und anschliessend als Gärtner bei verschiedenen Arbeitgebern tätig. Ein Verkehrsunfall vom 29. September 2014, bei dem er sich am linken Knie verletzt hatte, erforderte am 14. September 2016 die arthroskopische Sanierung des Knorpelschadens. Nach erneuter Anmeldung bei der IV-Stelle des Kantons Zürich beantragte A.________ anlässlich eines persönlichen Gesprächs die Umschulung zum Fachmann Betreuung EFZ. Mit Schreiben vom 14. Januar 2019 gewährte ihm die IV-Stelle als Frühinterventionsmassnahme Förderkurse vom Dezember 2018 bis Ende Juli 2019. Nach Einholung der neuropsychologischen Abklärung vom 26. Februar 2019 der Psychiatrie B.________, und der Beurteilung durch Dr. med. C.________, Facharzt für Chirurgie, Regionaler Ärztlicher Dienst (RAD) verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 30. Juli 2019 einen Anspruch auf Umschulung zum Fachmann Betreuung EFZ.
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B. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 8. November 2019 ab.
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C. A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die IV-Stelle zu verpflichten, ihm die geschuldete Unterstützung für die Lehre zum Fachmann Betreuung EFZ zu gewähren. Zudem habe die IV-Stelle die Kosten für den "Förderkurs Deutsch" als Frühinterventionsmassnahme zu übernehmen und es sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
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Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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D. Mit Eingabe vom 3. Februar 2020 liess A.________ das Zeugnis des 1. Semesters/HE 19 nachreichen.
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Erwägungen:
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1.
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).
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1.2. Das Bundesgericht kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Überdies muss die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1 BGG). Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG).
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Die beschwerdeführende Partei, welche die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz anfechten will, muss substanziiert darlegen, inwiefern die Voraussetzungen einer Ausnahme gemäss Art. 105 Abs. 2 BGG gegeben sind und das Verfahren bei rechtskonformer Ermittlung des Sachverhalts anders ausgegangen wäre; andernfalls kann ein Sachverhalt, der vom im angefochtenen Entscheid festgestellten abweicht, nicht berücksichtigt werden (BGE 140 III 16 E. 1.3.1 S. 18 mit Hinweisen).
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1.3. Hinsichtlich des Antrags auf Weiterausrichtung des Förderkurses ist mit der Vorinstanz darauf hinzuweisen, dass Frühinterventionsmassnahmen nicht Gegenstand der Verfügung vom 30. Juli 2019 sind. Daran vermag auch der Hinweis vor Bundesgericht, die IV-Stelle habe in ihrer Email vom 19. August 2019 geschrieben, dass er bei der Lehre zum Fachmann Betreuung EFZ nicht unterstützt werde, auch nicht in Form von Deutschkursen, nichts zu ändern. Denn der Umfang des möglichen Anfechtungsgegenstandes definiert sich nach der ursprünglichen Verfügung (BGE 131 V 164 E. 2.1 S. 164; 125 V 413 E. 1a  S. 414) und in dieser ist keine Rede von Frühinterventionsmassnahmen oder Deutschkursen.
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1.4. Soweit der Versicherte vor Bundesgericht neue Unterlagen auflegt, namentlich den ärztlichen Bericht vom 13. Dezember 2019, die Notenübersicht für die Zeit vom August bis Dezember 2019, den Verlaufsbericht des Ausbildungsbetriebs vom 9. Dezember 2019 sowie das Zeugnis des 1. Semesters, handelt es sich dabei um unzulässige Noven nach Art. 99 Abs. 1 BGG, auf die im Folgenden nicht weiter einzugehen ist.
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2. Streitig ist, ob die Vorinstanz die Ablehnung des Anspruchs auf Umschulung zu Recht bestätigt hat.
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3. Die Vorinstanz hat die massgebenden Bestimmungen und Grundsätze über die Begriffe der Invalidität (Art. 8 ATSG [SR 830.1] in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG [SR 831.20]) und der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), den Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen (Art. 8 Abs. 1 IVG) und auf Umschulung (Art. 17 Abs. 1 IVG; Art. 6 Abs. 1 IVV  [SR 831.201]; BGE 130 V 488 E. 4.2 S. 489 mit Hinweisen; 124 V 108 E. 3b S. 111; AHI 1997 S. 79 E 2b/aa; ZAK 1992 S. 364 E. 2b) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
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4. Die Vorinstanz hat erwogen, der Kreisarzt, der RAD-Arzt sowie die behandelnden Ärzte würden übereinstimmend davon ausgehen, dass dem Versicherten infolge der Kniebeschwerden die Tätigkeit als Gärtner nicht mehr zumutbar sei. Sowohl der Kreisarzt als auch der RAD-Arzt würden leichte bis höchstens mittelschwere, wechselbelastende Tätigkeiten mit sitzenden Anteilen von 1/3 für voll zumutbar halten. Somit stehe fest, dass die Arbeitsfähigkeit unter Einhaltung des Belastungsprofils nicht eingeschränkt sei. Die Tätigkeit als Fachperson Betreuung EFZ erfordere gerade bei Kleinkindern nebst einer hohen Belastbarkeit und Verantwortungsbewusstsein auch die Fähigkeit zur Teilnahme an Aktivitäten wie Spielen, Basteln und ähnlichem, welche vermehrt hockend und knieend ausgeführt und häufiges Bücken, Heben, Tragen und Gehen bedingen würden. Bei den ärztlich geschilderten Einschränkungen seien aber gerade diejenigen Tätigkeiten und Bewegungsabläufe betroffen, die für die Ausübung des Berufes Fachmann Betreuung EFZ täglich notwendig seien. Auch mit Blick auf das Belastbarkeitsprofil und gestützt auf die überaus deutliche medizinische Einschätzung sei erstellt, dass die Einschränkungen am Bewegungsapparat - ungeachtet des geschilderten gegenwärtig problemlosen Verlaufs - einer Ausbildung zum Fachmann Betreuung EFZ mit langfristiger Tätigkeit in diesem Beruf entgegenstehen und somit nicht als erfolgsversprechend erscheinen würden. Damit fehle eine wesentliche Voraussetzung für die beantragte Umschulung. Daran vermöchten auch die vorgebrachten kognitiven Ressourcen und die schulischen Resultate nichts zu ändern, zumal diese angesichts der benötigten Unterstützungsmassnahmen und der neuropsychologischen Abklärung vom 26. Februar 2019 ebenfalls fraglich erschienen.
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5. Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, vermag kein anderes Ergebnis zu begründen.
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5.1. Der Versicherte macht insbesondere geltend, der bisherige problemlose Verlauf zeige, dass die Tätigkeit als Fachmann Betreuung EFZ den von den Ärzten geschilderten Einschränkungen am Bewegungsapparat genüge.
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Zweck der Umschulung nach Art. 17 IVG ist der Erhalt oder die Verbesserung der Erwerbsfähigkeit (Silvia Bucher, Eingliederungsrecht der Invalidenversicherung, 2011, Rz. 700 mit Verweis auf Urteil 9C_644/2008 vom 12. Dezember 2008 E. 6.1). Entgegen der Ansicht des Versicherten erfolgt die Beurteilung, ob eine Umschulung in die gewünschte Tätigkeit angebracht ist, nicht allein auf Grund der aktuellen Umstände, sondern massgeblich ist insbesondere auch, ob die Ausübung der neuen Tätigkeit längerfristig möglich, zumutbar und erfolgsversprechend ist (zeitliche und persönliche Angemessenheit im Sinne der Verhältnismässigkeit als Grundvoraussetzung jeglicher Eingliederungsmassnahme; BGE 132 V 215 E. 3.2.2 S. 221; 130 V 488 E. 4.3.2 S. 491). Denn nur wenn von einer gewissen Dauerhaftigkeit der Verbesserung oder des Erhalts der Erwerbsfähigkeit resp. der Verhinderung oder Reduzierung der Invalidität ausgegangen werden kann, wird das Ziel einer Umschulung erreicht. So haben die Ärzte im Rahmen der Abklärung des umschulungsrelevanten Gesundheitsschadens auch dazu Stellung zu nehmen, wie sich das medizinische Element voraussichtlich auf die Ausübung der anvisierten neuen Tätigkeit auswirken wird (Erwin Murer, Invalidenversicherungsgesetz [Art. 1-27 bis IVG], 2014, N. 53 zu Art. 17 IVG; Meyer/Reichmuth, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 3. Aufl. 2014, N. 6 zu Art. 17 IVG). Aus der Beurteilung des RAD-Arztes, die in Einklang steht mit den Feststellungen des Kreisarztes, ergibt sich klar, dass die beabsichtigte Ausbildung aus ärztlicher Sicht die Anforderungen an eine Umschulung nicht erfüllt. Insofern ist auch der Einwand des Versicherten, bei der Beurteilung durch den RAD-Arzt handle es sich um eine medizinisch-theoretische Einschätzung, unbehelflich, da die Beurteilung der langfristigen Ausübung des anvisierten Berufs stets hypothetisch und damit medizinisch-theoretisch erfolgt. Somit war die Vorinstanz nicht gehalten, gestützt auf nach Erlass der Verfügung ergangene Berichte der behandelnden Ärzte neue Abklärungen zu veranlassen.
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5.2. Der Versicherte rügt, der neuropsychologische Bericht der Psychiatrie B.________ vom 26. Februar 2019 halte fest, dass trotz bestehender Lernbeeinträchtigung ein Ausbildungsabschluss auf EFZ-Niveau mit Mehraufwand und zusätzlicher privater Unterstützung möglich sei; es werde die Beantragung eines Nachteilsausgleiches vorgeschlagen, den er auch vor Antritt der Lehre bewilligt bekommen habe. So könne er auch gute schulische Leistungen vorweisen.
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Wie bereits in E. 5.1 dargelegt, erfolgt die Beurteilung, ob die Umschulung in den gewünschten Beruf die Voraussetzungen erfüllt, nicht allein anhand der aktuellen Umstände, sondern ein wesentlicher Faktor ist die auf längere Frist angelegte prognostische Beurteilung. Insofern kann der Versicherte aus den aufgelegten Unterlagen zum Verlauf seiner Lehre nichts zu seinen Gunsten ableiten, zumal diese als unzulässige Noven für die Beurteilung der vorliegend strittigen Frage nicht zu berücksichtigen sind (E. 1.4). Nachdem aber die Umschulung in den gewünschten Beruf bereits aus somatischer Sicht nicht als angepasst zu gelten hat, kann offen bleiben, ob sich aus kognitiver Sicht die gewünschte Umschulung als adäquat erweist.
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5.3. Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz die Ablehnung des Anspruchs auf Umschulung zum Fachmann Betreuung EFZ durch die IV-Stelle zu Recht bestätigt.
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6. Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen Verbeiständung) kann entsprochen werden, da die Bedürftigkeit ausgewiesen ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung durch einen Rechtsanwalt geboten war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt Daniel Buff wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
 
4. Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 17. März 2020
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Die Gerichtsschreiberin: Riedi Hunold
 
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