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Informationen zum Dokument  BGer 8C_725/2019  Materielle Begründung
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BGer 8C_725/2019 vom 03.03.2020
 
 
8C_725/2019
 
 
Urteil vom 3. März 2020
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Heine, präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichter Wirthlin, Abrecht,
 
Gerichtsschreiberin Durizzo.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Claude Wyssmann,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle Solothurn,
 
Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Massnahme beruflicher Art, Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 19. September 2019 (VSBES.2018.191).
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________, geboren 1997, leidet an einer Stoffwechselstörung (Carnitin-Aufnahmestörung) und wurde von seinen Eltern erstmals im Januar 2004 bei der Invalidenversicherung angemeldet. Die IV-Stelle Solothurn gewährte Kostengutsprache für medizinische Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens Nr. 453 sowie heilpädagogische Früherziehung. Im Jahr 2014 traten als Folge der gesundheitlichen Störung auch psychische Beschwerden auf, die stationär behandelt werden mussten. A.________ beendete die obligatorische Schulzeit in einer Privatschule. Am 13. Juli 2015 übernahm die IV-Stelle die Kosten für die erstmalige berufliche Ausbildung zum Pferdewart mit eidgenössischem Berufsattest (EBA) sowie für betreutes Wohnen während dieser Zeit in der WG I.________ in U.________. Die zweijährige Lehre auf dem Hof B.________ schloss A.________ im Juli 2017 erfolgreich ab. In der Folge begann er jedoch eine neue Ausbildung zum Polymechaniker und ersuchte um Kostengutsprache durch die Invalidenversicherung. Er machte geltend, dass er im Beruf als Pferdewart körperlich überfordert sei und zudem an einer Allergie leide. Die IV-Stelle beschaffte sich Berichte des Spitals C.________ Bern, wo der Versicherte seit seiner Kindheit betreut wurde, vom 29. Dezember 2016 sowie der behandelnden Psychotherapeutin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes (KJPD) D.________, Frau dipl. Psych. E.________, vom 23. März 2017. Sie veranlasste eine Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit (EFL) im Spital F.________ (Bericht vom 1. Juli 2017) und liess den Versicherten dort auch allergologisch abklären (Berichte des leitenden Arztes Innere Medizin/Pneumologie, Dr. med. G.________, vom 7. August sowie vom 19. und 26. Oktober 2017). Mit Verfügung vom 20. Juni 2018 lehnte die IV-Stelle einen Anspruch auf weitere berufliche Massnahmen sowie auf eine Invalidenrente ab.
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 19. September 2019 ab.
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C. A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, es seien ihm berufliche Eingliederungsmassnahmen, eventualiter mindestens eine Viertelsrente zuzusprechen. Subeventualiter sei die Sache zu weiteren medizinischen und beruflichen Abklärungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).
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2. Streitig ist, ob die vorinstanzlich bestätigte Ablehnung des Anspruchs auf weitere berufliche Massnahmen in Form einer zusätzlichen Berufsausbildung (zum Polymechaniker) sowie eines Rentenanspruchs vor Bundesrecht standhält. Zur Frage steht dabei, ob der Beschwerdeführer mit dem Beruf eines Pferdewarts rentenausschliessend eingegliedert sei.
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3. Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zur Erwerbsunfähigkeit (Art. 8 Abs. 1 ATSG), zum Anspruch auf eine erstmalige berufliche Ausbildung (Art. 16 Abs. 1 IVG) sowie zum Rentenanspruch (Art. 28 Abs. 1 IVG), insbesondere bei Frühinvalidität (Art. 26 Abs. 1 IVV), zutreffend dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der Regeln, die bei der Beurteilung des Beweiswerts eines ärztlichen Berichts oder Gutachtens zu beachten sind (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352). Hervorzuheben ist diesbezüglich, dass auch auf versicherungsinterne ärztliche Feststellungen grundsätzlich abgestellt werden kann. Bestehen jedoch auch nur geringe Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit, sind weitere Abklärungen vorzunehmen (BGE 139 V 225 E. 5.2 S. 229; 135 V 465 E. 4.4 S. 469 f.; 125 V 351 E. 3b/ee S. 353 f.; 122 V 157 E. 1d S. 162).
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4. Die Vorinstanz stellte fest, dass der Beschwerdeführer im erlernten Beruf trotz seiner angeborenen Stoffwechselstörung und der damit verbundenen psychischen Auswirkungen sowie des fachärztlich festgestellten Asthmas voll arbeitsfähig sei. Es bestehe daher kein Anspruch auf weitergehende berufliche Massnahmen der Invalidenversicherung in Form einer erneuten Ausbildung. Mit der abgeschlossenen Lehre zum Pferdewart habe er zudem zureichende berufliche Kenntnisse erworben. Es liege daher keine Frühinvalidität vor, die allenfalls einen Anspruch auf eine Invalidenrente zu begründen vermöchte.
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5. Der Beschwerdeführer macht geltend, dass ihm die Ausübung des Berufs eines Pferdewarts einerseits wegen seines Asthmas, anderseits aber auch wegen körperlich verminderter Leistungsfähigkeit zufolge der Stoffwechselstörung nicht zuzumuten sei. Im Lehrbetrieb habe er nach Angaben des Ausbildners nur eine 80%ige Leistung erbringen können. Gemäss Einschätzung des Pneumologen Dr. med. G.________ müsste seine Arbeitsumgebung zudem möglichst irritantienfrei und klimatisch stabil sein. Es bestehe daher weiterhin Anspruch auf berufliche Massnahmen im Sinne einer Erstausbildung. Allenfalls seien hinsichtlich seiner Arbeitsfähigkeit weitere Abklärungen erforderlich. Sofern dennoch von der Zumutbarkeit des erlernten Berufs auszugehen sei, stehe ihm eine Invalidenrente zu, denn er erleide wegen unzureichender beruflicher Kenntnisse eine Erwerbseinbusse.
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6.
 
6.1. Gemäss Vorinstanz sind in gesundheitlicher Hinsicht die seit Geburt bestehende, medikamentös behandelte Carnitin-Aufnahmestörung, eine stabilisierte psychische Symptomatik mit verbleibenden Einschränkungen im Arbeitstempo und in der Umstellungsfähigkeit und ein allergisches Asthma, bestehend seit der Kindheit, sowie eine saisonale Rhinokonjunktivitis bei allergischer Veranlagung zu berücksichtigen. Sämtliche gesundheitlichen Beeinträchtigungen hätten bereits vor Antritt der Lehre bestanden. Weshalb insbesondere die asthmatischen Beschwerden erst kurz vor dem Lehrabschluss derart in Erscheinung getreten sein sollten, dass die Tätigkeit plötzlich nicht mehr zumutbar wäre, sei nicht einzusehen. Das kantonale Gericht erachtete eine Arbeitsfähigkeit in dem vom Beschwerdeführer ursprünglich gewünschten Beruf eines Pferdewarts als gegeben. Es stützte sich dabei auf die Stellungnahme des RAD, die zu den Berichten der behandelnden Fachpersonen des Spitals C.________, des KJPD und der Spezialärzte des Spitals F.________ (Pneumologe, EFL-Fachärzte für Allgemeine Innere Medizin, Rheumatologie sowie Physikalische Medizin und Rehabilitation) erstattet worden war (Bericht vom 7. Dezember 2017).
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6.2. Inwiefern die sachverhaltlichen Feststellungen des kantonalen Gerichts zur Arbeitsfähigkeit offensichtlich unrichtig wären, ist nicht erkennbar.
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6.2.1. Gemäss RAD-Ärztin wäre eine Verminderung der körperlichen Leistungsfähigkeit zufolge der Stoffwechselstörung - die insbesondere die Skelettmuskulatur und den Herzmuskel schwächt - trotz Carnitinsubstitution grundsätzlich nicht auszuschliessen. Angesichts der Seltenheit der Erkrankung hätten die behandelnden Fachärzte diese Frage nicht abschliessend zu beantworten vermocht. Indessen seien keine nachhaltigen körperlichen Einschränkungen oder ein belastungsabhängiges Nachlassen der körperlichen Aktivität im Alltag dokumentiert. Gemäss den Angaben der Ausbildner sei lediglich eine geringe körperliche Verlangsamung bei qualitativ jedoch einwandfreier Arbeitsleistung aufgefallen. Insbesondere aber habe die von der IV-Stelle veranlasste EFL selbst für mittelschwere Tätigkeiten keine relevanten Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit gezeigt. Die seit Kindheit bestehende allergische Veranlagung mit vorwiegend saisonalen Auslösern zeitige keine nachhaltigen Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit, zumal die pneumologischen Abklärungen eine normale Leistungsfähigkeit der Lunge ergeben hätten.
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6.2.2. Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, vermag keine auch nur geringen Zweifel an der Einschätzung des RAD zu begründen. Dies gilt insbesondere insoweit, als sich in den Berichten des mit der pneumologischen Abklärung betrauten Facharztes keine Hinweise darauf finden, dass die asthmatischen Atembeschwerden die Arbeitsfähigkeit im erlernten Beruf längerfristig beeinträchtigten. Er ging von einer Verursachung durch saisonale Allergien aus, wobei sich die Reaktion auf Gräserpollen als wenig ausgeprägt erwies. Daraus lässt sich nicht auf eine unzumutbare dauerhafte Abhängigkeit von Asthmamedikamenten wegen der beruflichen Tätigkeit schliessen. Daran kann auch nichts ändern, dass der Beschwerdeführer gemäss den Angaben des Ausbildners nur etwa zu 80 % leistungsfähig gewesen sei. Dies wird zunächst dadurch relativiert, dass dieser zwei Monate später berichtete, der Beschwerdeführer habe sich steigern können und seine Leistung falle auch im Vergleich zu anderen Lernenden nicht ab. Zudem lässt sich aus seinen Schilderungen schliessen, dass diese Problematik weniger körperlich als vielmehr psychisch bedingt gewesen sei. Die insoweit früher noch labile Belastbarkeit konnte im weiteren Verlauf der Ausbildung gesteigert werden. Zudem wurde die Evaluation der Leistungsfähigkeit von Spezialärzten unter Mitwirkung einer Ergotherapeutin durchgeführt. Sie ergab - abgesehen von gewissen Beeinträchtigungen hinsichtlich Arbeiten über Schulterhöhe, bei vorgeneigtem Stehen sowie beim Heben von schwereren Gewichten vom Boden bis zur Taillenhöhe - keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit, selbst bei mittelschweren Tätigkeiten. Weitergehende Einschränkungen lassen sich auch dem ärztlichen Zeugnis des Dr. med. H.________ vom 24. April 2018 nicht entnehmen. Auch lässt sich nicht ersehen, auf welche von ihm am 22. Dezember 2016 empfohlenen Zusatzabklärungen die IV-Stelle verzichtet hätte.
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6.2.3. Die Vorinstanz durfte daher auf die versicherungsinterne Einschätzung abstellen, ohne Bundesrecht zu verletzen. Für das Bundesgericht steht damit verbindlich fest, dass der Beschwerdeführer im Beruf eines Pflegewarts, den er im Rahmen der von der Invalidenversicherung gewährten beruflichen Erstausbildung erlernte, voll arbeitsfähig ist. Es besteht kein weitergehender Anspruch auf berufliche Massnahmen in Form der beantragten Übernahme der Kosten für eine Polymechaniker-Lehre.
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7. Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung von Art. 26 Abs. 1 IVV über den Rentenanspruch beziehungsweise die Invaliditätsbemessung bei Versicherten ohne Ausbildung geltend. Nach dieser Bestimmung erfolgt eine Aufwertung des Valideneinkommens bei Versicherten, die invaliditätsbedingt keine zureichenden beruflichen Kenntnisse erwerben konnten. Dieses ist in Anlehnung an die statistischen Durchschnittslöhne gemäss Lohnstrukturerhebung des Bundesamts für Statistik (LSE; jeweils aktualisierter Medianwert) festzulegen, prozentual abgestuft je nach Alter. Die Beträge werden vom BSV mitgeteilt (zuletzt IV-Rundschreiben Nr. 393 vom 15. November 2019, Nr. 378 vom 31. Oktober 2018, Nr. 369 vom 19. Dezember 2017). Eine sogenannte Geburts- beziehungsweise Frühinvalidität liegt gemäss Ziffer 3035 des Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH) des BSV auch dann vor, wenn eine versicherte Person infolge ihrer Invalidität zwar eine Berufsausbildung beginnt und allenfalls auch abschliesst, zu Beginn der Ausbildung jedoch bereits invalid ist und mit dieser Ausbildung nicht dieselben Verdienstmöglichkeiten realisieren kann wie eine nichtbehinderte Person mit derselben Ausbildung.
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Praxisgemäss gilt eine zweijährige Ausbildung mit Berufsattest wie die vom Beschwerdeführer absolvierte Lehre zum Pferdewart EBA als zureichende Berufskenntnis im Sinne von Art. 26 Abs. 1 IVV (vgl. Urteil 9C_611/2014 vom 19. Februar 2015 E. 3.2 und 4.3). Darüber hinaus hat die Vorinstanz nicht offensichtlich unrichtig festgestellt, dass der Beschwerdeführer im erlernten Beruf angesichts seiner vollen Arbeitsfähigkeit über die gleichen Verdienstmöglichkeiten verfüge wie eine nicht invalide Person mit der gleichen Ausbildung. Eine Anwendung von Art. 26 Abs. 1 IVV fällt daher ausser Betracht. Daran kann nichts ändern, dass der Beschwerdeführer bei der Berufswahl, insbesondere wegen der damals bestehenden psychischen Problematik (nach Schulabbruch, Fremdplatzierung und Fortsetzung der obligatorischen Schulzeit in einer Privatschule), eingeschränkt gewesen sein mag. Eine Bundesrechtsverletzung ist nicht erkennbar.
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8. Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 3. März 2020
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Heine
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo
 
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