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Informationen zum Dokument  BGer 2C_510/2018  Materielle Begründung
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BGer 2C_510/2018 vom 06.02.2020
 
 
2C_510/2018
 
 
Urteil vom 6. Februar 2020
 
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Seiler, Präsident,
 
Bundesrichter Zünd,
 
Bundesrichterin Aubry Girardin,
 
Bundesrichter Donzallaz,
 
Bundesrichter Stadelmann,
 
Gerichtsschreiber Seiler.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Steuerverwaltung des Kantons Bern, Geschäftsbereich Recht und Koordination,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________,
 
Beschwerdegegner,
 
vertreten durch Fürsprecher Christian Flückiger.
 
Gegenstand
 
Kantons- und Gemeindesteuern des Kantons Bern 2011, Direkte Bundessteuer 2011; Kapitalleistung aus beruflicher Vorsorge. DBA CH-TH,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, vom 1. Mai 2018 (100.2017.27/28U).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.________ war bis am 30. April 2011 Angestellter der B.________ AG, einer früheren Tochtergesellschaft der Schweizerischen Post. Bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 2010 hatte er sich nach U.________, Thailand, abgemeldet, wo er seither lebt. Die Pensionskasse Post richtete ihm per 2. Mai 2011 eine Kapitalleistung aus Vorsorge von Fr. 1'169'225.-- aus, wovon sie Quellensteuern von Fr. 108'738.-- einbehielt (Veranlagungsverfügung vom 13. April 2012).
1
 
B.
 
Mit Einspracheentscheiden vom 24. Oktober 2013 wies die Steuerverwaltung des Kantons Bern ein Gesuch auf Rückerstattung der Quellensteuer ab. Dagegen erhob A.________ Rekurs und Beschwerde bei der Steuerrekurskommission des Kantons Bern, welche die Rechtsmittel mit Entscheiden vom 13. Dezember 2016 guthiess, soweit sie darauf eintrat. Die hiergegen gerichteten Beschwerden der Steuerverwaltung wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Urteil vom 1. Mai 2018 ab.
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C.
 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 11. Juni 2018 beantragt die Steuerverwaltung des Kantons Bern, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 1. Mai 2018 aufzuheben und "im Sinne der nachstehenden rechtlichen Würdigung zu entscheiden" oder zur Neubeurteilung an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern zurückzuweisen sei.
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Der Beschwerdegegner, die Vorinstanz und die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) haben sich vernehmen lassen. Der Beschwerdegegner und die Vorinstanz beantragen Abweisung, die ESTV Gutheissung der Beschwerde.
4
 
Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Die verfahrensabschliessenden Entscheide (Art. 90 BGG) der Vorinstanz betreffen eine Angelegenheit des öffentlichen Rechts im Sinne von Art. 82 lit. a BGG. Bei der Vorinstanz handelte es sich um die letzte kantonale Instanz im Sinne von Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG. Soweit die direkte Bundessteuer betroffen ist, ergibt sich die Legitimation der Steuerverwaltung aus Art. 146 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer (DBG; SR 642.11) und Art. 2 und Art. 4 lit. e der Verordnung des Regierungsrats des Kantons Bern vom 18. Oktober 2000 über den Vollzug der direkten Bundessteuer (BStV/BE; BSG 668.11). In Bezug auf die kantonalen Steuern ist die Steuerverwaltung nach Art. 73 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden (StHG; SR 642.14) in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 lit. h der Verordnung vom 18. Oktober 1995 über die Organisation und die Aufgaben der Finanzdirektion des Regierungsrats des Kantons Bern (Organisationsverordnung FIN/BE, OrV FIN/BE; BSG 152.221.171) als nach kantonalem Recht zuständige Behörde zur Beschwerde legitimiert. Die Frist ist eingehalten (Art. 100 Abs. 1 BGG).
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1.2. Die beiden Entscheide der Vorinstanz in Bezug auf die direkte Bundessteuer und die Kantons- und Gemeindesteuern ergingen in einer einzigen Urteilsschrift, wobei sie über die direkte Bundessteuer und die Kantons- und Gemeindesteuern mit separaten Dispositivziffern entschied. Die Steuerverwaltung ficht die Entscheide in einer einzigen Rechtsschrift an, ohne zwischen direkter Bundessteuer und kantonalen Steuern zu unterscheiden. Dies steht im Einklang mit der bundesgerichtlichen Praxis, wonach in den Rechtsschriften und Urteilen nicht zwischen direkter Bundessteuer und kantonalen Steuern unterschieden werden muss, wenn über die Quellensteuern nach DBG im gleichen Verfahren entschieden wird wie über die kantonalen Quellensteuern (Urteile 2C_450/2017 vom 26. Juni 2018 E. 1, nicht publ. in BGE 144 II 313, aber in: StE 2018 B 82.1 Nr. 7; 2C_265/2007 vom 8. Oktober 2007 E. 1.3). Sie stellt ein vages Rechtsbegehren, welches auf die anschliessende Begründung verweist. Da sich das Ansinnen der Steuerverwaltung - die Bestätigung ihrer Einspracheentscheide vom 24. Oktober 2013 - insgesamt mit hinreichender Klarheit aus der Beschwerde ergibt, ist den Formerfordernissen von Art. 42 Abs. 1 BGG gerade noch genüge getan. Auf die Beschwerde ist einzutreten.
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1.3. Das Bundesgericht wendet das Recht nach Art. 106 Abs. 1 BGG von Amtes wegen an, prüft jedoch unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht gemäss Art. 42 Abs. 1 und Abs. 2 BGG nur die geltend gemachten Rechtsverletzungen, sofern rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 142 I 135 E. 1.5 S. 144).
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1.4. Das Bundesgericht legt seinem Urteil nach Art. 105 Abs. 1 BGG den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Die vorinstanzlichen Feststellungen können gemäss Art. 105 Abs. 2 BGG nur berichtigt werden, sofern sie entweder offensichtlich unrichtig, d. h. willkürlich ermittelt worden sind (BGE 140 III 115 E. 2 S. 117; 137 II 353 E. 5.1 S. 356) oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen und die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG; BGE 142 I 135 E. 1.6 S. 144 f.). Die beschwerdeführende Partei hat substanziiert darzulegen, inwiefern der vorinstanzlich festgestellte Sachverhalt im Lichte der vorstehenden Regeln zu ergänzen ist; wird sie dieser Anforderung nicht gerecht, bleibt es beim vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt (BGE 140 III 16 E. 1.3.1 S. 18).
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Erwägung 2
 
Ob die Steuerverwaltung zu Recht geltend macht, dass die Vorinstanz das DBA CH-TH falsch ausgelegt und angewandt habe, braucht nur geprüft zu werden, sofern das interne Recht überhaupt eine Steuerpflicht vorsieht (vgl. Urteil 2C_436/2011 vom 13. Dezember 2011 E. 2.1, in: StE 2012 B 82.1 Nr. 6, StR 67/2012 S. 172). Vor Bundesgericht ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner nach Bundesrecht und kantonalem Recht für die Kapitalleistung der zum massgeblichen Zeitpunkt in der Form einer privatrechtlichen Stiftung organisierten Pensionskasse Post einer beschränkten Steuerpflicht unterliegt (Art. 5 Abs. 1 lit. e DBG; Art. 6 Abs. 1 lit. f des Steuergesetzes vom 21. Mai 2000 des Kantons Bern [StG/BE; BSG 661.11]; vgl. auch Urteil 2C_436/2011 vom 13. Dezember 2011 E. 2.2).
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Erwägung 3
 
Zusammen mit ihrer Beschwerdeschrift reicht die Steuerverwaltung Ausführungen des Staatssekretariats für Internationale Finanzfragen (SIF) ein. Darin wirft das SIF die Frage auf, ob der Beschwerdegegner überhaupt die Voraussetzungen für die Gewährung der Vorteile aus Art. 17 DBA CH-TH erfülle.
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3.1. Beruft sich ein angeblich in Thailand ansässiger Empfänger eines Ruhegehalts oder einer ähnlichen Vergütung gegenüber der Schweiz auf Art. 17 DBA CH-TH, müssen die schweizerischen Steuerbehörden sicherstellen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Abkommensvorteilen erfüllt sind. Namentlich hat die Steuerbehörde abzuklären, ob der Empfänger des Ruhegehalts überhaupt eine in Thailand ansässige Person im Sinne von Art. 4 Abs. 1 DBA CH-TH ist. Dies setzt voraus, dass diese Person in Thailand aufgrund Wohnsitzes, Aufenthalts oder eines ähnlichen Merkmals (unbeschränkt) steuerpflichtig ist (vgl. ZWEIFEL/HUNZIKER, in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Internationales Steuerrecht, 2015, N. 16 zu Art. 4 OECD-MA).
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3.2. Die Vorinstanz und auch die Steuerrekurskommission haben festgestellt, dass der Beschwerdegegner in Thailand wohnt, und erkannt, dass er dort unbeschränkt steuerpflichtig ist. Die Steuerverwaltung scheint dies im kantonalen Verfahren nie beanstandet zu haben. Vor Bundesgericht trägt die Steuerverwaltung nun andeutungsweise vor, dass der Beschwerdegegner in Thailand gar keine Steuern bezahle und folglich nicht abkommensberechtigt sei. Ob der Beschwerdegegner in Thailand steuerpflichtig ist, beurteilt sich indessen nach thailändischem Recht. Eine Überprüfung dieser Frage des thailändischen Rechts ist dem Bundesgericht verwehrt (Art. 96 lit. b BGG), sodass im Folgenden mit der Vorinstanz von der Steuerpflicht des Beschwerdegegners in Thailand auszugehen ist.
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Erwägung 4
 
Die Vorinstanz kam gestützt auf den Wortlaut von Art. 18 Abs. 2 lit. a DBA CH-TH und einen Vergleich mit den analogen Bestimmungen in anderen Doppelbesteuerungsabkommen sowie unter Berücksichtigung des Zieles und Zwecks des Abkommens zum Schluss, dass Einheiten der sachlichen (horizontalen) Dezentralisation, bei denen Verwaltungsaufgaben in Staatsbetriebe ausgelagert werden, nicht unter die Umschreibung "Vertragsstaat, politische Unterabteilung oder lokale Körperschaft" in Art. 18 Abs. 2 lit. a DBA CH-TH subsumiert werden können. Folglich komme auf die Kapitalleistung an den Beschwerdegegner Art. 17 DBA CH-TH zur Anwendung, weswegen der Schweiz kein Besteuerungsrecht zustehe. Die Steuerverwaltung hält diese Auslegung aus diversen Gründen für unzutreffend.
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4.1. Nach Art. 17 DBA CH-TH können Ruhegehälter und ähnliche Vergütungen nur im Ansässigkeitsstaat des Empfängers besteuert werden. Vorbehalten sind indessen nach Art. 18 Abs. 2 lit. a DBA CH-TH "Ruhegehälter, die von einem Vertragsstaat oder einer seiner politischen Unterabteilungen oder lokalen Körperschaften oder aus einem von diesem Staat oder der politischen Unterabteilung oder lokalen Körperschaft errichteten Sondervermögen an eine natürliche Person für die diesem Staat oder der politischen Unterabteilung oder lokalen Körperschaft geleisteten Dienste gezahlt werden".
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Erwägung 4.2
 
4.2.1. Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge richtet sich nach Art. 31 ff. des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (VRK; SR 0.111), das insoweit kodifiziertes Völkergewohnheitsrecht darstellt (Gutachten des Internationalen Gerichtshofs [IGH] vom 9. Juli 2004 Conséquences juridiques de l'édification d'un mur dans le territoire palestinien occupé, C.I.J. Recueil 2004, S. 174 § 94; Urteil 2C_653/2018 vom 26. Juli 2019 E. 5.3.1, zur Publikation vorgesehen; BGE 125 II 417 E. 4.d S. 424 f.; 122 II 234 E. 4.c S. 238; 120 Ib 360 E. 2.c S. 365). Diese Regeln gelten demgemäss auch für die Auslegung von Verträgen mit Staaten wie Thailand, die dem Wiener Übereinkommen nicht beigetreten sind (vgl. Urteil 2C_653/2018 vom 26. Juli 2019 E. 5.3.1, zur Publikation vorgesehen).
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4.2.2. Nach Art. 31 Abs. 1 VRK haben die Vertragsstaaten eine zwischenstaatliche Übereinkunft nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, ihren Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte ihres Zieles und Zweckes auszulegen. Neben dem Zusammenhang (Art. 31 Abs. 2 VRK) sind gemäss Art. 31 Abs. 3 VRK in gleicher Weise jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen (lit. a), jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht (lit. b), sowie jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz (lit. c) zu berücksichtigen. Die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses sind nach Art. 32 VRK ergänzende Auslegungsmittel und können herangezogen werden, um die nach Art. 31 VRK ermittelte Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Art. 31 VRK die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt (Art. 32 lit. a VRK) oder zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt (Art. 32 lit. b VRK; vgl. Urteil 2C_306/2017 vom 3. Juli 2019 E. 4.4.2, zur Publikation vorgesehen; BGE 144 II 130 E. 8.2 S. 139; 143 II 136 E. 5.2, je mit Hinweisen).
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Art. 31 Abs. 1 VRK bestimmt eine Reihenfolge der Berücksichtigung der verschiedenen Auslegungselemente, ohne dabei eine feste Rangordnung unter ihnen festzulegen. Den Ausgangspunkt der Auslegung völkerrechtlicher Verträge bildet jedoch die gewöhnliche Bedeutung ihrer Bestimmungen (Urteil 2C_653/2018 vom 26. Juli 2019 E. 5.3.2, zur Publikation vorgesehen; BGE 144 II 130 E. 8.2.1 S. 130; 143 II 202 E. 6.3.1 S. 208; 143 II 136 E. 5.2.2 S. 148). Diese gewöhnliche Bedeutung ist nach Treu und Glauben und unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs und des Zieles und Zwecks des Vertrags zu bestimmen (Urteil 2C_653/2018 vom 26. Juli 2019 E. 5.3.2, zur Publikation vorgesehen; BGE 144 II 130 E. 8.2.1 S. 139; 143 II 202 E. 6.3.1 S. 208; 143 II 136 E. 5.2.2 S. 148). Ziel und Zweck des Vertrags ist dabei, was mit dem Vertrag erreicht werden sollte. Zusammen mit der Auslegung nach Treu und Glauben stellt die teleologische Auslegung den "effet utile" des Vertrags sicher (Urteil 2C_653/2018 vom 26. Juli 2019 E. 5.3.2, zur Publikation vorgesehen; BGE 144 II 130 E. 8.2.1 S. 139; 143 II 136 E. 5.2.2 S. 148; 142 II 161 E. 2.1.3 S. 167; BGE 141 III 495 E. 3.5.1 S. 503). Der auszulegenden Bestimmung eines Doppelbesteuerungsabkommens ist unter mehreren möglichen Interpretationen demnach derjenige Sinn beizumessen, welcher ihre effektive Anwendung gewährleistet und nicht zu einem Ergebnis führt, das dem Ziel und Zweck der eingegangenen Verpflichtungen widerspricht (Urteil 2C_653/2018 vom 26. Juli 2019 E. 5.3.2, zur Publikation vorgesehen; BGE 143 II 136 E. 5.2.2 S. 149; 142 II 161 E. 2.1.3 S. 167). Ausserdem sind die Vertragsstaaten nach Treu und Glauben gehalten, jedes Verhalten und jede Auslegung zu unterlassen, mittels welcher sie ihre vertraglichen Pflichten umgehen oder den Vertrag seines Ziels und Zwecks entleeren würden (Urteil 2C_653/2018 vom 26. Juli 2019 E. 5.3.2, zur Publikation vorgesehen; BGE 144 II 130 E. 8.2.1 S. 139; 143 II 202 E. 6.3.1 S. 208; 142 II 161 E. 2.1.3 S. 167).
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Erwägung 5
 
Da der Beschwerdegegner im Verlauf seiner beruflichen Laufbahn bei verschiedenen Arbeitgebern angestellt war und sich die ihm ausgerichtete Kapitalleistung deshalb auf verschiedene Tätigkeiten bezieht, muss zuerst der zeitliche Aspekt von Art. 18 Abs. 2 lit. a DBA CH-TH geklärt werden. Namentlich stellt sich die Frage, ob das Besteuerungsrecht des Kassenstaats nach dieser Bestimmung auch dann besteht, wenn der Leistungsempfänger dem betreffenden Gemeinwesen (Vertragsstaat, politische Unterabteilung oder lokale Körperschaft) zwar zu einem früheren Zeitpunkt Dienste geleistet hatte, unmittelbar vor der Pensionierung aber für einen anderen Arbeitgeber tätig war, oder seine Tätigkeit unmittelbar vor der Pensionierung im Zusammenhang mit einer gewerblichen Tätigkeit des Kassenstaats gemäss Art. 18 Abs. 3 DBA CH-TH stand.
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5.1. Nach seinem Wortlaut äussert sich Art. 18 Abs. 2 lit. a DBA CH-TH nicht eindeutig zu diesem zeitlichen Aspekt. Immerhin deutet die Formulierung " für die [...] geleisteten Dienste " darauf hin, dass es nicht auf den Zeitpunkt der Dienstleistung ankommt und der Kassenstaat demgemäss auch Ruhegehälter erfassen darf, die dem Leistungsempfänger für frühere Tätigkeiten ausgerichtet werden. Allerdings setzt Art. 18 Abs. 2 lit. a DBA CH-TH auch voraus, dass das betreffende Gemeinwesen selbst oder ein Sondervermögen, das von diesem Gemeinwesen errichtet wurde, die Vorsorgeleistung ausrichtet. Hieran fehlt es, wenn der Leistungsempfänger einem Vertragsstaat Dienst leistete, vor seiner Pensionierung aber zu einem anderen Arbeitgeber wechselt und sein gesamtes Vorsorgeguthaben auf dessen private Vorsorgeeinrichtung überträgt. In dieser Konstellation unterliegen die von der privaten Vorsorgeeinrichtung bezahlten Vorsorgeleistungen nach Art. 17 DBA CH-TH alleine der Besteuerung durch den Ansässigkeitsstaat, sodass der Kassenstaat die Vorsorgeleistungen nicht besteuern darf, obschon sie teilweise auf ihm früher geleistete Dienste zurückgehen (vgl. Kommentar der OECD zum OECD-Musterabkommen [OECD-MA], N. 5.4 zu Art. 19 OECD-MA).
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5.2. Eine Aufteilung zwischen Ansässigkeits- und Kassenstaat käme hingegen in Frage, wenn das betreffende Gemeinwesen oder Sondervermögen der natürlichen Person eine einheitliche, kombinierte Vorsorgeleistung ausrichtet, die auch auf Dienstleistungen im Zusammenhang mit gewerblichen Tätigkeiten des Gemeinwesens oder Arbeitsleistungen zugunsten anderer Arbeitgeber zurückgeht. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Aufteilung von Vorsorgeleistungen sehr komplex sein und grossen Verwaltungsaufwand verursachen kann (vgl. Kommentar der OECD zum OECD-MA, N. 5.5 zu Art. 19 OECD-MA; BLANK/ISMER, Rethinking Article 19 OECD MC (Government Service) : A Provision in Search of a Rationale?, Intertax 2015 S. 252 f.; MICHAEL LANG, Ruhegehälter nach Art. 19 Abs. 2 OECD-MA, in: Rödder/ Spindler/Tipke [Hrsg.], FS Schaumburg, 2009, S 886 f.; WASSERMEYER/ DRÜEN, in: Franz Wassermeyer [Hrsg.], DBA, Ergänzungslieferung 140 Januar 2018, N. 107 zu Art. 19 OECD-MA; ZÜGER/TEUSCHER, in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, 2015, N. 96 f. zu Art. 19 OECD-MA). Nicht ohne Weiteres klar ist überdies, welcher Faktor - z.B. Dauer der Arbeitsverhältnisse oder Höhe der unter den einzelnen Arbeitsverhältnissen erbrachten Vorsorgebeiträge - für die Aufteilung massgebend sein soll (vgl. dazu ISMER/BLANK, in: Reimer/ Rust [Hrsg.], Klaus Vogel on Double Taxation Conventions, 4. Aufl. 2015, N. 67 zu Art. 19 OECD-MA; MICHAEL LANG, Ruhegehälter nach Art. 19 Abs. 2 OECD-MA, in: Rödder/Spindler/Tipke [Hrsg.], FS Schaumburg, 2009, S 886). Angesichts dieser Ungewissheiten ist die Gefahr offenkundig hoch, dass Kassen- und Ansässigkeitsstaat die kombinierte Vorsorgeleistung unterschiedlich aufteilen, woraus eine teilweise Doppelbesteuerung oder doppelte Nichtbesteuerung der Vorsorgeleistung resultieren würde.
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5.3. Vor diesem Hintergrund schlagen ZÜGER/TEUSCHER vor, auf eine Aufteilung generell zu verzichten und die Besteuerungshoheit stattdessen nach Massgabe der unmittelbar vor der Pensionierung ausgeübten Tätigkeit festzulegen (ZÜGER/TEUSCHER, in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, 2015, N. 97 zu Art. 19 OECD-MA). Die schweizerischen Steuerbehörden scheinen diese Lösung bereits seit längerem zu praktizieren (vgl. ANDREAS KOLB [damaliger Leiter Länderdienst in der Abteilung für internationales Steuerrecht und Doppelbesteuerungssachen, ESTV], Überblick über das Update 2005 des OECD-Musterabkommens, ASA 74 S. 515 Fn. 17 und zugehöriger Text). Andere Autoren befürworten zwar aufgrund des Wortlauts von Art. 19 Abs. 2 OECD-MA eine Aufteilung kombinierter Vorsorgeleistungen auf Kassen- und Ansässigkeitsstaat, bezeichnen dieses Resultat aber gleichzeitig als unbefriedigend und empfehlen die Änderung von Art. 19 OECD-MA (ISMER/BLANK, in: Reimer/Rust [Hrsg.], Klaus Vogel on Double Taxation Conventions, 4. Aufl. 2015, N. 68 und Fn. 134 zu Art. 19 OECD-MA; MICHAEL LANG, Ruhegehälter nach Art. 19 Abs. 2 OECD-MA, in: Rödder/Spindler/Tipke [Hrsg.], FS Schaumburg, 2009, S 887).
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5.4. Die Lösung von ZÜGER/TEUSCHER überzeugt und ist besser geeignet, den "effet utile" des DBA CH-TH (vgl. dazu oben E. 3.2.2) zu gewährleisten, als es die mit vielen Unwägbarkeiten behaftete Aufteilung kombinierter Vorsorgeleistungen wäre. Kombinierte Vorsorgeleistungen sind demnach kraft Art. 18 Abs. 2 lit. a DBA CH-TH dem Kassenstaat zur alleinigen Besteuerung zuzuweisen, wenn der Empfänger unmittelbar vor seiner Pensionierung in einem nicht-gewerblichen Zusammenhang für ein in dieser Bestimmung genanntes Gemeinwesen tätig war; in allen übrigen Fällen steht die Besteuerung hingegen gemäss Art. 17 DBA CH-TH dem Ansässigkeitsstaat zu. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass eine Besteuerung der streitbetroffenen Kapitalleistung durch die Schweiz und den Kanton Bern nur in Frage kommt, wenn sich die Tätigkeit des Beschwerdegegners unmittelbar vor seiner Pensionierung unter Art. 18 Abs. 2 lit. a DBA CH-TH subsumieren lässt.
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Erwägung 6
 
Die Vorinstanz hat dafür gehalten, dass Einheiten der dezentralen Verwaltung wie die Schweizerische Post unabhängig von ihrer Rechtsform nicht unter die Umschreibung "Vertragsstaat, politische Unterabteilung oder lokale Körperschaft" fallen. Da der Beschwerdegegner unmittelbar vor seiner Pensionierung bei der B.________ AG angestellt war, ist hier allerdings nach dem Gesagten alleine entscheidend, wie es sich diesbezüglich für juristische Personen des Privatrechts verhält, die öffentliche Aufgaben besorgen oder vom Staat kontrolliert werden.
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6.1. Nach der Rechtsprechung anderer Länder und der einhelligen Literatur sind Rechtsträger des Privatrechts nicht unter die Begriffe "Vertragsstaat, politische Unterabteilung oder lokale Körperschaft" subsumierbar (vgl. Urteil des deutschen Bundesfinanzhofs I R 7/06 vom 14. Mai 2007 § II.2.b, in: BFH/NV 2007 S. 1832 Nr. 10 [zu einer Aktiengesellschaft des südafrikanischen Rechts]; Urteil des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs 93/15/0199 vom 22. Februar 1996 [zu einer Stiftung des liechtensteinischen Rechts]; BLANK/ISMER, Rethinking Article 19 OECD MC (Government Service) : A Provision in Search of a Rationale?, Intertax 2015 S. 249; DANIEL DÜRRSCHMIDT, in: Vogel/ Lehner [Hrsg.], DBA, 6. Aufl. 2015, N. 27a zu Art. 19 OECD-MA; ADRIANO MARANTELLI, Ruhegehälter im internationalen Steuerrecht, BVR 2017 S. 92; WASSERMEYER/DRÜEN, in: Franz Wassermeyer [Hrsg.], DBA, Ergänzungslieferung 140 Januar 2018, N. 41 zu Art. 19 OECD-MA; ZÜGER/TEUSCHER, in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Internationales Steuerrecht, 2015, N. 55 zu Art. 19 OECD-MA; vgl. auch PASQUALE PISTONE, in: Danon und andere [Hrsg.], Modèle de Convention fiscale OCDE concernant le revenu et la fortune, 2014, N. 6 zu Art. 19 OECD-MA). Diese Interpretation überzeugt. In der Tat ist mit Blick auf den Text von Art. 18 Abs. 2 lit. a DBA CH-TH nicht einzusehen, weshalb sich der Ansässigkeitsstaat seines Besteuerungsrechts begeben soll, wenn der Kassenstaat die betreffende Tätigkeit auf einen Rechtsträger des Privatrechts übertragen hat, selbst wenn der Kassenstaat sämtliche Kapitalanteile an diesem privatrechtlichen Rechtsträger hält oder ihn auf andere Weise kontrolliert.
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6.2. Der Beschwerdegegner war unmittelbar vor seiner Pensionierung bei der B.________ AG angestellt, die in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft des Privatrechts organisiert war. Die Vorinstanz hat nicht festgestellt und es wird von der Steuerverwaltung auch nicht behauptet, dass der Beschwerdegegner im Rahmen dieser Anstellung in Wahrheit nicht seiner Arbeitgeberin, sondern dem Kassenstaat Schweiz, einer ihrer politischen Unterabteilungen oder lokalen Körperschaften diente und seine Dienste dabei zudem nicht im Zusammenhang mit einer gewerblichen Tätigkeit im Sinne von Art. 18 Abs. 3 DBA CH-TH standen. Damit ist aufgrund des vorinstanzlich festgestellten Sachverhalts (Art. 105 Abs. 1 BGG) davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner zuletzt für eine privatrechtliche Aktiengesellschaft und nicht für einen Vertragsstaat, eine politische Unterabteilung oder eine lokale Körperschaft gemäss Art. 18 Abs. 2 lit. a DBA CH-TH tätig war. Die ihm ausgerichtete Kapitalleistung unterliegt gemäss Art. 17 DBA CH-TH der alleinigen Besteuerung durch den Ansässigkeitsstaat.
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6.3. Die Vorinstanz hat im Ergebnis kein Bundes- oder Völkerrecht verletzt, indem sie der Schweiz und dem Kanton Bern das Besteuerungsrecht abgesprochen und die Aufhebung der Einspracheentscheide der Steuerverwaltung durch die Steuerrekurskommission bestätigt hat.
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Erwägung 7
 
Die Beschwerde erweist sich sowohl hinsichtlich der direkten Bundessteuer als auch hinsichtlich der Kantons- und Gemeindesteuern als unbegründet. Sie ist abzuweisen. Die Kosten des Verfahrens sind dem Kanton Bern aufzuerlegen, da er Vermögensinteressen verfolgt (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Bern hat dem Beschwerdegegner eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 4'500.-- werden dem Kanton Bern auferlegt.
 
3. Der Kanton Bern hat dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung von Fr. 6'000.-- zu bezahlen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, und der Eidgenössischen Steuerverwaltung schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 6. Februar 2020
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Seiler
 
Der Gerichtsschreiber: Seiler
 
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