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Informationen zum Dokument  BGer 9C_644/2019  Materielle Begründung
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BGer 9C_644/2019 vom 20.01.2020
 
 
9C_644/2019
 
 
Urteil vom 20. Januar 2020
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
 
Gerichtsschreiber Grünenfelder.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Fürsprecher Dr. René Müller,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,
 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
 
vom 27. August 2019 (VBE.2019.254).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die 1959 geborene A.________, selbstständige Kosmetikerin und Therapeutin, meldete sich im Juni 2004 erstmals bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau verneinte einen Rentenanspruch und trat auf ein weiteres Leistungsgesuch nicht ein (Verfügungen vom 3. Februar 2006 und 29. Mai 2012). Nachdem A.________ im Anschluss an eine Varizenoperation wegen eines nekrotisierenden Ulcus mit multibakterieller Sepsis am 13. Dezember 2017 das linke Bein hatte amputiert werden müssen, ersuchte sie Mitte Januar 2018 erneut um Invalidenleistungen. Die IV-Stelle erteilte Kostengutsprachen für verschiedene Hilfsmittel. Das Rentenbegehren wies sie nach Rücksprache mit dem Regionalen Ärztlichen Dienst (nachfolgend: RAD) und durchgeführtem Vorbescheidverfahren jedoch ab, da in einer angepassten sitzenden Tätigkeit keine Erwerbseinbusse bestehe (Verfügung vom 11. März 2019).
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde der A.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 27. August 2019 ab.
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C. A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen. Dieses sei anzuweisen, weitere Abklärungen zum Gesundheitszustand, den noch zumutbaren Tätigkeiten und deren Umfang in den erlernten Berufen als Kosmetikerin und Therapeutin, die Leistungseinbusse in diesen Berufen durch die Benutzung des Rollstuhls, das dabei erzielbare Erwerbseinkommen sowie die Einschränkung in den täglichen Haushaltsverrichtungen zu veranlassen. Hernach sei festzustellen, dass eine 100%ige Invalidität vorliege und eine ganze Invalidenrente zuzusprechen.
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Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Am 17. Dezember 2019 lässt die Beschwerdeführerin unaufgefordert eine weitere Eingabe samt Beilagen einreichen.
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Erwägungen:
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1. 
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1.1. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E. 1.2 S. 252 mit Hinweisen).
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1.2. Das Vorbringen von Tatsachen, die sich erst nach dem angefochtenen Entscheid ereigneten oder entstanden, ist vor Bundesgericht unzulässig (Art. 99 Abs. 1 BGG; BGE 143 V 19 E. 1.2 S. 23 mit Hinweisen). Die von der Beschwerdeführerin im bundesgerichtlichen Verfahren eingereichten Berichte der Dr. med. B.________, vom 23. September 2019 und der Klinik C.________, vom 5. Dezember 2019 bleiben somit als echte Noven unbeachtlich.
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2. Das kantonale Gericht hat der Aktenbeurteilung des Dr. med. D.________, RAD, vom 31. Oktober 2018 Beweiskraft zuerkannt. Mit Blick auf die darin ab August 2018 attestierte volle Arbeitsfähigkeit für angepasste sitzende Tätigkeiten hat es erwogen, es sei nicht entscheidend, ob in der bisherigen Tätigkeit als Kosmetikerin und Therapeutin eine Arbeitsfähigkeit von 20 % bestehe oder diese vollständig aufgehoben sei. Denn so oder anders werde die Beschwerdeführerin ihre selbstständige Erwerbstätigkeit aufgrund ihres Gesundheitsschadens nicht mehr in genügendem Ausmass verrichten können und müsse diese daher aufgeben. Gestützt darauf hat die Vorinstanz in antizipierender Beweiswürdigung auf weitere Abklärungen zur Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit verzichtet und die Verfügung der IV-Stelle vom 11. März 2019 bestätigt.
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3. Zwar bezieht die versicherungsinterne RAD-Einschätzung vom 31. Oktober 2018 sämtliche bis zu diesem Zeitpunkt relevanten fachärztlichen Stellungnahmen mit ein (zur Beweiskraft solcher Aktenbeurteilungen vgl. BGE 139 V 225 E. 5.2 S. 229 mit Hinweis auf BGE 135 V 465 E. 4.4 S. 470). Die Frage ist aber, ob diese Stellungnahme der schweren Behinderung der Beschwerdeführerin gerecht wird, angesichts der medizinischen Qualifikation des RAD-Arztes Dr. med. D.________ als Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe sowie Allgemeinmedizin. Immerhin enthält die abweichende Einschätzung der behandelnden Ärztin Dr. med. B.________ vom 11. Juli 2018 Feststellungen und Hinweise, die Dr. med. D.________ in nicht durchwegs verständlicher und nachvollziehbarer Weise beurteilte. Inwieweit die Beschwerdeführerin in angepassten, sitzend zu verrichtenden Tätigkeiten über eine Restarbeitsfähigkeit verfügt, kann indessen - wie aus dem Folgenden hervorgeht - offen bleiben.
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4. 
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4.1. Denn es stellt sich (E. 1.1) die Rechtsfrage (vgl. Urteil 9C_183/2017 vom 30. Oktober 2017 E. 2.2 mit Hinweis), ob die Arbeitsfähigkeit für adaptierte Tätigkeiten bei Aufgabe der selbstständigen Erwerbstätigkeit in einem als ausgeglichen unterstellten Arbeitsmarkt (vgl. Art. 7 Abs. 1 und 16 ATSG) erwerblich verwertbar ist, was das kantonale Gericht anhand der Berufsbiografie der Beschwerdeführerin, ihres Alters sowie des zumutbaren Tätigkeitsprofils bejaht hat.
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4.2. Der Zeitpunkt, in welchem die Frage nach der Verwertbarkeit der (Rest-) Arbeitsfähigkeit bei vorgerücktem Alter beantwortet wird, richtet sich nach dem Feststehen der medizinischen Zumutbarkeit einer (Teil-) Erwerbstätigkeit. Diese gilt als ausgewiesen, sobald die medizinischen Unterlagen diesbezüglich eine zuverlässige Sachverhaltsfeststellung erlauben (BGE 138 V 457 E. 3.3 S. 461 f.).
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Unverwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit ist anzunehmen, wenn die zumutbare Tätigkeit in nur so eingeschränkter Form möglich ist, dass sie der ausgeglichene Arbeitsmarkt praktisch nicht kennt oder sie nur unter nicht realistischem Entgegenkommen eines durchschnittlichen Arbeitgebers möglich wäre und das Finden einer entsprechenden Stelle daher zum vornherein als ausgeschlossen erscheint (statt vieler: Urteil 8C_143/2019 vom 21. August 2019 E. 5.2 mit Hinweisen).
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4.3. 
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4.3.1. Die Arbeitsfähigkeit der am 1. Mai 1959 geborenen Beschwerdeführerin ist jedenfalls auf rein sitzende Tätigkeiten beschränkt. Im relevanten Zeitpunkt 2018 (E. 3 und 4.2) war sie deutlich über 59 Jahre alt. Bis zum Erreichen des AHV-Pensionsalters verblieb ihr somit eine Aktivitätsdauer von weniger als fünf Jahren, was für sich alleine nicht ausschliesst, dass die Restarbeitsfähigkeit noch verwertbar sein könnte (statt vieler: Urteil 9C_847/2015 vom 30. Dezember 2015 E. 4.1 und 4.3 mit Hinweisen).
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4.3.2. Im Falle der Beschwerdeführerin kommt aber eine ausgeprägte arbeitsmarktliche Desintegration hinzu, arbeitet diese doch seit über zwanzig Jahren (Februar 1997) ausschliesslich in der eigenen Kosmetik- und Therapiepraxis. Was ihre Erwerbsbiografie betrifft, so absolvierte sie nach dem Abbruch der Kantonsschule in der dritten Klasse (1975) an der Kosmetik-Fachschule E.________, einen sechsmonatigen Lehrgang zur Kosmetikerin (vgl. Atteste vom 10. Juli 1978). Ihre beruflichen Tätigkeiten ausserhalb der angestammten selbstständigen Erwerbstätigkeit liegen Jahrzehnte zurück und sind angesichts völlig veränderter struktureller Gegebenheiten des heutigen Arbeitsmarktes schlechterdings überholt. In den Jahren 2005 und 2006 bildete sich die Beschwerdeführerin zur Therapeutin für manuelle Lymphdrainage weiter (Diplom vom 20. Dezember 2005, Kursausweis vom 18. März 2006), was sie als Einbeinige (Status nach Oberschenkelamputation) ebenfalls arbeitsmarktlich nicht mehr verwerten kann. Wohl absolvierte sie vor längerer Zeit verschiedene Sprachaufenthalte (1976: Tessin, ein Jahr; 1977: Neuenburg, sechs Monate; 1988: San Francisco, sechs Wochen) Die dabei erworbenen Sprachkenntnisse hat die Beschwerdeführerin jedoch ausweislich der Akten letztmals vor über dreissig Jahren im beruflichen Umfeld angewandt (vgl. Arbeitszeugnis der F.________ AG, vom 23. Dezember 1988). Abgesehen davon sind die in der eigenen Praxis anfallenden (wenigen) Administrativarbeiten weder in der Art noch im Umfang mit den Aufgaben vergleichbar, wie sie die Beschwerdeführerin in einem modernen Bürobetrieb leisten müsste. Folglich kann sie in keiner Weise von bereits erworbenen Kompetenzen profitieren, die in einer Verweistätigkeit auf dem als ausgeglichen unterstellten Arbeitsmarkt verwertbar wären. Dies führt auch bei einer optimal angepassten Tätigkeit oder einem Nischenarbeitsplatz zu einem für einen zukünftigen Arbeitgeber maximalen Umstellungs- und Einarbeitungsaufwand, sodass aufgrund der konkreten Umstände praktisch keine Anstellungschancen bestehen.
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5. Wird die Resterwerbsfähigkeit auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt realistischerweise nicht mehr nachgefragt bzw. fehlt es an einer wirtschaftlichen Verwertbarkeit derselben, so liegt eine vollständige Erwerbsunfähigkeit vor (statt vieler: Urteil 9C_321/2018 vom 16. Oktober 2018 E. 5 mit Hinweis). So verhält es sich hier. Die Beschwerdeführerin besteht das Wartejahr (vgl. Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG) unbestritten im November 2018. Nachdem in diesem Zeitpunkt auch alle anderen Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind, hat sie ab 1. November 2018 (vgl. Art. 29 Abs. 3 IVG) Anspruch auf eine ganze Invalidenrente. In diesem Sinne ist die Beschwerde begründet.
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6. Die unterliegende Beschwerdegegnerin trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Sie hat der Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 27. August 2019 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 11. März 2019 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin ab 1. November 2018 Anspruch auf eine ganze Invalidenrente hat.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3. Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
 
4. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 20. Januar 2020
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder
 
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