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Informationen zum Dokument  BGer 8C_624/2019  Materielle Begründung
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BGer 8C_624/2019 vom 17.01.2020
 
 
8C_624/2019
 
 
Urteil vom 17. Januar 2020
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
 
Gerichtsschreiber Jancar.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch ihre Eltern, Beistände, und diese
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Patrick Sutter,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle Schwyz,
 
Rubiswilstrasse 8, 6438 Ibach,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Assistenzbeitrag),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz
 
vom 8. August 2019 (I 2019 33).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die 2000 geborene A.________ leidet an einer Störung aus dem autistischen Formenkreis (ICD-10 F84.1). Mit Verfügung vom 21. September 2007 sprach ihr die IV-Stelle Schwyz ab 1. April 2006 eine Hilflosenentschädigung bei mittelschwerer Hilflosigkeit und ab 1. Oktober 2006 eine solche bei schwerer Hilflosigkeit zu. Mit Verfügung vom 18. März 2015 anerkannte sie ab 1. Januar 2015 den Anspruch auf einen Assistenzbeitrag von monatlich durchschnittlich Fr. 4097.35 bzw. jährlich maximal Fr. 45'070.85. Mit Verfügung vom 14. März 2016 bestätigte die IV-Stelle den Anspruch auf den Assistenzbeitrag im gleichen Umfang. Am 19. Dezember 2017 erhöhte sie diesen Beitrag auf monatlich Fr. 5507.45 bzw. jährlich maximal Fr. 60'581.95. Mit Verfügung vom 6. September 2018 sprach die IV-Stelle der Versicherten ab 1. August 2018 eine ganze Invalidenrente zu. Mit Verfügung vom 6. November 2018 gewährte sie ihr ab 1. August 2018 eine Hilflosenentschädigung bei schwerer Hilflosigkeit. Mit Verfügung vom 27. März 2019 bestätigte sie den unveränderten Anspruch auf den Assistenzbeitrag.
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B. Die gegen die letztgenannte Verfügung erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz mit Entscheid vom 8. August 2019 im Sinne der Erwägungen ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Versicherte, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei ihr ein Assistenzbeitrag auszurichten, der unter Berücksichtigung ihrer Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt, eines marktgerechten Stundenansatzes für eine fachgerechte Betreuung von Fr. 49.80, eventualiter in jedem Fall von über Fr. 32.90, und einer fachgerechten Betreuung während zwölf Monaten pro Jahr einen jährlichen Betrag von Fr. 160'000.- nicht unterschreite. Eventuell sei die Sache zu zusätzlichen Sachabklärungen und zum Erlass einer neuen Verfügung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt.
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Erwägungen:
 
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht und Völkerrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a und b BGG; BGE 141 I 36 E. 1.3 S. 41). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz den von der IV-Stelle verfügten Assistenzbeitrag zu Recht bestätigte.
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2.1. Die Vorinstanz hat die hier massgebenden rechtlichen Grundlagen zum Anspruch auf den Assistenzbeitrag (Art. 42
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2.2. Art. 42
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Erwägung 3
 
3.1. Die Beschwerdeführerin rügt vorweg die Höhe des Assistenzbeitrags gemäss Art. 39f Abs. 1 IVV, welcher Fr. 33.20 pro Stunde beträgt (seit 1. Januar 2019; bis 31. Dezember 2018 betrug er Fr. 32.90 pro Stunde). Die Versicherte macht im Wesentlichen geltend, damit könnten Behinderte nicht durch Fachpersonen betreut werden. Dies sei willkürlich und verstosse gegen Art. 19 und Art. 24 Abs. 2 lit. e Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006 (BRK; in Kraft für die Schweiz seit 15. Mai 2014) sowie gegen die Menschenwürde (Art. 7 BV), den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 8 BV) und den Anspruch auf persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV). Ein angemessener Stundenansatz liege mindestens bei Fr. 49.80 gemäss Art. 39f Abs. 2 i.V.m. Art. 39c lit. e-g IVV. Die Betreuung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen durch Angehörige ohne Fachausbildung werde den Bedürfnissen der behinderten Person nicht gerecht bzw. wirke deren Förderung/Integration entgegen. Die Freiheit der Wahl der Wohn- und Betreuungsform (insbes. gemäss BRK) setze zwingend den Einsatz von Fachkräften und somit deren marktgerechte Abgeltung auch in der individuellen Betreuung (und nicht nur in der Heimlösung) voraus.
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3.2. Die Vorinstanz verwies auf BGE 141 V 642 E. 3.3 S. 646. In diesem Urteil führte das Bundesgericht aus, es habe sich in BGE 140 V 543 E. 3.3 S. 551 mit der Höhe des Pauschalansatzes für den Assistenzbeitrag von Fr. 32.50 resp. Fr. 32.80 pro Stunde gemäss Art. 39f Abs. 1 IVV (in der bis 31. Dezember 2012 resp. seit 1. Januar 2013 geltenden Fassung) befasst. Es habe entschieden, dass sie gesetzeskonform sei, eine Ferienentschädigung von 8,33 % beinhalte und in etwa dem Durchschnittslohn für persönliche Dienstleistungen gemäss Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (LSE) resp. den im Rahmen des Pilotversuchs gemachten Erfahrungen entspreche. Dass damit eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) verbunden sein soll, sei nicht nachvollziehbar. Gleiches gelte im Übrigen für den ab 1. Januar 2015 massgeblichen (vgl. Art. 39f Abs. 4 IVV) Stundenansatz von Fr. 32.90.
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Diesen bundesgerichtlichen Erwägungen ist auch hinsichtlich des ab 1. Januar 2019 geltenden Stundenansatzes von Fr. 33. 20 pro Stunde beizupflichten. Gründe für eine Praxisänderung sind nicht ersichtlich (hierzu vgl. BGE 141 II 297 E. 5.5.1 S. 303). Nicht weiter geprüft zu werden braucht das Argument der Versicherten, der Stundenansatz nach Art. 39f Abs. 1 IVV verstosse gegen die von ihr angeführten Bestimmungen der BV und der BRK, weil er nicht die Kosten für die Pflege durch eine Fachkraft decke. Denn sie legt nicht substanziiert dar, inwiefern bei ihr die Hilfeleistungen der beigezogenen Assistenzperson spezielle Fähigkeiten erforderten, deren Entlöhnung den vom Bundesgericht als angemessen erachteten Betrag gemäss Art. 39f Abs. 1 IVV überstiege (vgl. auch Urteil 8C_225/2014 vom 21. November 2014 E. 5.2). Dies ergibt sich auch nicht aus den Akten (vgl. BGE 136 V 362 E. 4.1 S. 366).
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Erwägung 4
 
4.1. Die Beschwerdeführerin beruft sich weiter auf Art. 39f Abs. 2 i.V.m. Art. 39c lit. g IVV. Danach beträgt der Assistenzbeitrag Fr. 49.80 pro Stunde (seit 1. Januar 2019), wenn die Assistenzperson für die benötigten Hilfeleistungen im Bereich der Ausübung einer Erwerbstätigkeit auf dem regulären Arbeitsmarkt über besondere Qualifikationen verfügen muss.
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Erwägung 4.2
 
4.2.1. Die Vorinstanz verneinte die Anwendbarkeit dieser Regelung auf die Versicherte. Sie verwies auf Rz. 4057 des Kreisschreibens des Bundesamtes für Sozialversicherungen über den Assistenzbeitrag (KSAB). Danach müsse der in Stunden abgeklärte Bedarf an direkter Hilfe für diesen Bereich niedriger sein als die effektive Arbeitsleistung der versicherten Person. Die in den Akten erwähnte Beschäftigung der Versicherten mit Brotbacken bedürfe einer ständigen Überwachung. Somit könne nicht von einer relevanten Erwerbstätigkeit auf dem regulären Arbeitsmarkt gesprochen werden, weshalb auch kein Hilfsbedarf nach Art. 39c lit. g IVV anerkannt werden könne. Unbehelflich sei namentlich das Argument der Versicherten, ihre aktuelle Beschäftigung (offenbar mit Brotbacken) werde nicht subventioniert. Hiervon abgesehen habe sie nicht substanziiert dargelegt, dass sie mit dieser Beschäftigung ein regelmässiges, die objektiv anfallenden Kosten übersteigendes Einkommen generiere, und dass diese insofern auf dem allgemeinen (ersten) Arbeitsmarkt auch nachgefragt werde.
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4.2.2. Die Versicherte wendet im Wesentlichen ein, der Begriff des ersten Arbeitsmarktes sei dadurch definiert, dass es sich um eine nicht subventionierte Tätigkeit handle. Sie erziele ein ihrer Leistung entsprechendes Einkommen und erhalte keine weiteren Vergütungen (Subventionen). Es sei selbsterklärend, dass der Auszubildende keinen Nutzen bringe, der dem Aufwand des Ausbildners gerecht werde. Die Argumentation der Vorinstanz diskriminiere Menschen mit Behinderungen und verstosse gegen Art. 8 BV sowie Art. 8 Abs. 2 und Art. 27 Abs. 1 BRK.
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Erwägung 4.3
 
4.3.1. Die Vorinstanz stellte zutreffend fest, dass die Versicherte eine ganze Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 100 % und eine Hilflosenentschädigung bei schwerer Hilflosigkeit bezieht. Richtig ist auch, dass die Beschwerdeführerin gemäss dem Bericht des Spitals B.________ vom 6. November 2017 seit Geburt vollständig auf Begleitung und Unterstützung in nahezu sämtlichen Belangen des Lebens angewiesen ist. Ein normaler Schulbesuch sowie eine normale Berufsausbildung bzw. eine praktische Ausbildung sind für sie unmöglich.
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4.3.2. Gemäss dem Abklärungsbericht Hilflosenentschädigung vom 9. August 2018 arbeitet die Versicherte zu Hause, wobei sie Brot bäckt und Eier verpackt. Sie ist nur in der Lage, in einem geschützten Rahmen unter permanenter Beaufsichtigung und Anweisung zu arbeiten. Unter diesen Umständen ist der Vorinstanz beizupflichten, dass - selbst wenn sie ein Einkommen erzielt - die Ausübung einer Erwerbstätigkeit auf dem regulären Arbeitsmarkt zu verneinen ist (vgl. auch Urteil 8C_722/2016 vom 28. Juni 2017 E. 4.2.1 und 4.2.3). Im Lichte des Berichts des Spitals B.________ vom 6. November 2017 kann auch nicht davon ausgegangen werden, sie befinde sich in Ausbildung für eine solche Erwerbstätigkeit. Dies gilt unter den konkreten Umständen des vorliegenden Falles unbesehen der Frage, ob Rz. 4057 KSAB gesetzeskonform ist (vgl. E. 4.2.1 hiervor; zur Tragweite von Verwaltungsweisungen siehe BGE 141 V 365 E. 2.4 S. 368). In diesem Ergebnis ist keine Verletzung der von der Versicherten angerufenen Normen der BV und der BRK oder des Art. 25 Abs. 1 lit. b IVV zu erblicken.
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Zudem zeigt sie nicht auf und es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern sie für ihre Arbeit eine Assistenzperson braucht, die über besondere Qualifikationen verfügen muss.
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Demnach ist die Ablehnung ihres Anspruchs auf den höheren Stundenansatz nach Art. 39f Abs. 2 i.V.m. Art. 39c lit. g IVV rechtens.
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5. Umstritten ist weiter die Regelung von Art. 39g Abs. 2 lit. b IVV. Danach beträgt der jährliche Assistenzbeitrag das Elffache des Assistenzbeitrags pro Monat, wenn die versicherte Person mit der Person, mit der sie verheiratet ist oder in eingetragener Partnerschaft lebt oder eine faktische Lebensgemeinschaft führt oder in gerader Linie verwandt ist, im selben Haushalt lebt, und die Person, mit der sie im selben Haushalt lebt, volljährig ist und selber keine Hilflosenentschädigung bezieht.
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5.1. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung hat der Verordnungsgeber mit Art. 39g Abs. 2 lit. b IVV den Anspruch von Versicherten, die mit Angehörigen zusammenleben, nicht schlechterdings unter dem Titel der Schadenminderungspflicht zu Lasten der Mithilfe der Familienmitglieder ausgeschlossen. Vielmehr wurde er, bezogen auf ein Jahr, im Umfang von einem Zwölftel reduziert. Dieses Anrechnungsprinzip bezieht die Pflicht zur grundsätzlichen Mithilfe von Angehörigen bei der Betreuung und Pflege von Versicherten in standardisierter Form mit ein (zur Zulässigkeit der pauschalen Anrechnung vgl. BGE 140 V 543 E. 3.5.4 S. 556). Eine derartige Vorgehensweise lässt sich so weit und so lange nicht beanstanden, als eine schadenmindernde Mithilfe Angehöriger im Einzelfall objektiv tatsächlich möglich und zumutbar ist. Das trifft dann nicht zu, wenn ein betroffener Angehöriger zwar Anspruch auf Hilflosenentschädigung hätte, diesen aber nicht geltend machte resp. macht. Sodann entspricht es der allgemeinen Lebenserfahrung, dass die Leistungsfähigkeit betagter Menschen mit zunehmendem Alter abnimmt und manche von ihnen, auch wenn sie nicht hilflos im Sinne von Art. 9 ATSG sind, bereits mit der Selbstsorge an die Grenzen ihrer Belastbarkeit stossen. Auch in solchen Fällen ist es angezeigt, die objektive Möglichkeit und Zumutbarkeit der schadenmindernden Mithilfe zu überprüfen (BGE 141 V 642 E. 4.3.3 S. 649). An dieser Rechtsprechung wurde mit Urteil 9C_354/2019 vom 1. Juli 2019 E. 5.1 festgehalten.
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5.2. Die Beschwerdeführerin bringt im Wesentlichen vor, dass die Betreuung während zwölf Monaten im Jahr gewährleistet sein müsse. Die gegenteilige Auffassung verstosse gegen die Menschenwürde (Art. 7 BV), den Gleichbehandlungsrundsatz (Art. 8 BV), den Anspruch auf persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und gegen Art. 24 Abs. 2 lit. e BRK.
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Das kantonale Gericht hat richtig erkannt, dass die Versicherte nicht geltend macht und auch nicht erstellt ist, ihren Eltern mit den Jahrgängen 1957 (Vater) und 1964 (Mutter) sei die schadenmindernde Mithilfe objektiv unmöglich oder unzumutbar. Bei dieser Ausgangslage ist keine Verletzung von verfassungsmässigen Rechten und der BRK ersichtlich.
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6. Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 17. Januar 2020
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Der Gerichtsschreiber: Jancar
 
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