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Informationen zum Dokument  BGer 9C_693/2019  Materielle Begründung
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BGer 9C_693/2019 vom 18.12.2019
 
 
9C_693/2019
 
 
Urteil vom 18. Dezember 2019
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann,
 
Gerichtsschreiberin Nünlist.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Fürsprecherin
 
lic. iur. Esther Ebinger-Michel,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,
 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 10. September 2019 (VBE.2019.1).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Nach mehreren Verfahren meldete sich der am 7. Februar 1958 geborene A.________ am 2. Juni 2017 erneut bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Dabei machte er gesundheitliche Beeinträchtigungen an Händen, Knien und am Rücken geltend. Nach Abklärungen sowie durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Aargau mit Verfügung vom  28. November 2018 ab 1. Mai 2018 eine halbe Invalidenrente zu.
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B. Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 10. September 2019 ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheids sowie der Verfügung vom 28. November 2018 sei ihm ab 1. Mai 2018 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen.
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Erwägungen:
 
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. 
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2.1. Die Vorinstanz hat eine Arbeitsfähigkeit von 50 % in leidensangepasster Tätigkeit festgestellt und deren Verwertbarkeit mit Blick auf Alter sowie Zumutbarkeitsprofil bejaht. In Anwendung des Einkommensvergleichs hat sie dem Beschwerdeführer ab 1. Mai 2018 eine halbe Invalidenrente zugesprochen (Invaliditätsgrad von 53 %).
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2.2. Streitig und zu prüfen ist die Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit und damit der Anspruch auf eine ganze Rente - der Beschwerdeführer verweist insbesondere auf sein fortgeschrittenes Alter.
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3. Die Rechtsprechung anerkennt, dass das (vorgerückte) Alter zusammen mit weiteren persönlichen und beruflichen Gegebenheiten dazu führen kann, dass die einer versicherten Person verbliebene Resterwerbsfähigkeit auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt realistischerweise nicht mehr nachgefragt wird. Massgebend sind die Umstände des konkreten Falles, etwa die Art und Beschaffenheit des Gesundheitsschadens und seiner Folgen, der absehbare Umstellungs- und Einarbeitungsaufwand und in diesem Zusammenhang auch Persönlichkeitsstruktur, vorhandene Begabungen und Fertigkeiten, Ausbildung, beruflicher Werdegang oder Anwendbarkeit von Berufserfahrung aus dem angestammten Bereich. Für den Zeitpunkt, in welchem die Frage nach der Verwertbarkeit der (Rest-) Arbeitsfähigkeit bei vorgerücktem Alter beantwortet wird, ist auf das Feststehen der medizinischen Zumutbarkeit einer (Teil-) Erwerbstätigkeit abzustellen (BGE 145 V 2 E. 5.3.1 S. 16; 138 V 457 E. 3 S. 459 ff.; SVR 2019 IV Nr. 7 S. 21, 8C_892/2017 E. 3.2; vgl. auch Marco Weiss, Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit aufgrund vorgerückten Alters - Rechtsprechungstendenzen, SZS 2018 S. 630).
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Erwägung 4
 
4.1. 
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4.1.1. Die medizinische Zumutbarkeit der Teilerwerbstätigkeit stand vorliegend unbestrittenermassen mit der Beurteilung von Dr. med. B.________, Facharzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation sowie Rheumatologie, des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) vom 12. Juli 2018 fest. Zu diesem Zeitpunkt war der Beschwerdeführer 60 Jahre und 5 Monate alt. Damit verblieben ihm noch vier Jahre und sieben Monate bis zum Eintritt in das AHV-Rentenalter. Diese Aktivitätsdauer reicht grundsätzlich - auch bei einer Restarbeitsfähigkeit von 50 % - aus, um eine neue einfache Erwerbstätigkeit aufzunehmen, sich einzuarbeiten und die Arbeit auszuüben. So ist bei den vom kantonalen Gericht aufgeführten (einfachen) Kontroll-, Überwachungs-, Sortier-, Prüf-, Verpackungstätigkeiten sowie (leichten) Montagearbeiten meist nicht von einer langen Einarbeitungszeit auszugehen.
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4.1.2. Der Versicherte ist im Besitz eines eidgenössischen Fähigkeitszeugnisses als Verkäufer. Insgesamt arbeitete er über ein Jahrzehnt in diesem Bereich und war auch jahrelang selbständig erwerbend. Er verfügt somit sowohl über eine abgeschlossene Ausbildung als auch über Erfahrung in leichte (re) n Arbeiten, die er in einer ihm zumutbaren leidensangepassten Tätigkeit nutzen kann. Seine Stellenwechsel (vgl. Auszug aus dem individuellen Konto vom 31. Juli 2012) zeugen sodann von der Fähigkeit, sich an neue Aufgaben und Strukturen anzupassen.
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4.1.3. Weshalb dem Beschwerdeführer aufgrund des ärztlichen Zumutbarkeitsprofils (vgl. Stellungnahme von Dr. med. B.________ vom 12. Juli 2018mit Verweis auf die Beurteilung von Dr. med. C.________, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, vom 19. März 2018) keine (leichten) Montage-,Verpackungs- und Sortierarbeiten zumutbar sein sollen, ist nicht ersichtlich und wird auch nicht substanziiert dargelegt. Solche Tätigkeiten können problemlos in Wechselbelastung respektive vorwiegend sitzend ausgeübt werden. Allfälligen Einschränkungen wird sodann mit dem um 50 % reduzierten Pensum angemessen Rechnung getragen. Ausgehend vom ausgeglichenen Arbeitsmarkt, der auch Nischenarbeitsplätze, also Stellen- und Arbeitsangebote umfasst, bei welchen Behinderte mit einem sozialen Entgegenkommen von Seiten des Arbeitgebers rechnen können (vgl. Urteil 8C_732/2018, 8C_742/2018 vom 26. März 2019 E. 7.3.2 mit Hinweisen), ist vorliegend nicht auf die Notwendigkeit eines überdurchschnittlichen Entgegenkommens des Arbeitgebers zu schliessen.
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4.1.4. Schliesslich bleibt insbesondere darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer zuletzt bis Ende März 2017 in einem Pensum von 35 Wochenstunden erwerbstätig war (Fragebogen für Arbeitgebende vom 8. September 2017). Eine berufliche Desintegration liegt somit nicht vor.
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4.2. Der Beschwerdeführer verweist im Weiteren auf die Rechtsprechung:
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Im Gegensatz zur vorliegenden Konstellation verfügte der Versicherte im Urteil 9C_954/2012 vom 10. Mai 2013 über keine Berufsausbildung und hatte während über 20 Jahren als Hotelportier meist mittelschwere bis schwere Arbeiten ausgeführt (Urteil 9C_954/2012 E. 3.2.1). Auf die im zitierten Urteil anerkannten Risiken der beruflichen Unerfahrenheit und der altersbedingt geringen Anpassungsfähigkeit (Urteil 9C_954/2012 E. 3.2.2) kann beim Beschwerdeführer nicht geschlossen werden (vgl. E. 4.1). Für krankheitsbedingte Ausfälle - insbesondere im Zusammenhang mit der Knieproblematik - bestehen sodann keine konkreten Hinweise. Aufgrund der Aktenlage ist davon auszugehen, dass spätestens seit September 2017 keine fachärztlichen Untersuchungen des Knies mehr stattgefunden haben und sich die weitere Behandlung auf Analgesie und Physiotherapie beschränkte.
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Nichts zu seinen Gunsten ableiten kann der Beschwerdeführer schliesslich aus dem Umstand, dass das Bundesgericht in mehreren Fällen bei einer Restarbeitsfähigkeit von 50 % in einer leichten Tätigkeit und einem Alter von mindestens 60 Jahren die Verwertbarkeit verneint hat. Wie bereits dargelegt (E. 3), ist stets eine Würdigung im konkreten Einzelfall vorzunehmen, was die Vorinstanz getan hat. Insbesondere nicht ersichtlich ist, inwiefern das mit Beschwerde zitierte Urteil 9C_149/2011 vom 25. Oktober 2012 die vorliegende Konstellation präjudiziert.
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5. Die Rechtsprechung hat für die Unverwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit älterer Menschen relativ hohe Hürden aufgestellt (SVR 2016 IV Nr. 58 S. 190, 8C_910/2015 E. 4.3.4; Urteil 8C_803/2018 vom 6. Juni 2019 E. 5.3 mit Hinweisen; vgl. Meyer/Reichmuth, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, 3. Aufl. 2014, N. 13 f. zu Art. 28; Marco Weiss, a.a.O., S. 635 ff. und 639 f.; Hans-Jakob Mosimann, Problemzone Invalideneinkommen - Alter, Leidensabzug, Selbsteingliederung, Parallelisierung, in: Sozialversicherungsrechtstagung 2018, Ueli Kieser [Hrsg.], 2019, S. 161 ff., 164 ff.). Im Hinblick darauf ist bei einer Gesamtbetrachtung der dargelegten Umstände keine Verletzung von Bundesrecht (insbesondere kein willkürliches Vorgehen) durch das kantonale Gericht erkennbar, wenn es den Zugang des 60 Jahre und fünf Monate alten Beschwerdeführers zum ausgeglichenen Arbeitsmarkt (E. 3) als intakt betrachtet und damit die Verwertbarkeit seiner Restarbeitsfähigkeit unter dem Gesichtspunkt des Lebensalters bejaht hat. Die Invaliditätsbemessung bleibt zu Recht unbestritten. Die Beschwerde ist unbegründet.
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6. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, 3. Kammer, dem Bundesamt für Sozialversicherungen, der BVG-Sammelstiftung Swiss Life, Zürich, der Vorsorgestiftung der Basler Versicherung AG, Basel, und der Stiftung Auffangeinrichtung BVG, Zürich, schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 18. Dezember 2019
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Pfiffner
 
Die Gerichtsschreiberin: Nünlist
 
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