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Informationen zum Dokument  BGer 8C_525/2019  Materielle Begründung
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BGer 8C_525/2019 vom 15.11.2019
 
 
8C_525/2019
 
 
Urteil vom 15. November 2019
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichterin Viscione, Bundesrichter Abrecht,
 
Gerichtsschreiberin Kopp Käch.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Karin Herzog,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Prozessvoraussetzung),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
 
vom 9. Juli 2019 (IV 2017/43).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die 1972 geborene A.________ meldete sich im Dezember 2011 unter Hinweis auf eine Diskushernie bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen klärte die medizinischen und erwerblichen Verhältnisse ab. Zu diesem Zweck holte sie insbesondere Berichte der behandelnden Ärzte sowie Stellungnahmen des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) ein und gab bei der medexperts AG, St. Gallen, das polydisziplinäre Gutachten vom 25. August 2015 in Auftrag. Mit Vorbescheid vom 13. November 2015 stellte die IV-Stelle A.________ die Zusprache einer Viertelsrente ab 1. August 2012 in Aussicht. Nachdem im Rahmen des Vorbescheidverfahrens weitere medizinische Berichte und namentlich eine von der Krankentaggeldversicherung eingeholte bidisziplinäre (orthopädisch/psychiatrisch) medizinische Beurteilung der Dres. med. B.________ und C.________ vom 9. Juni 2016 eingereicht worden waren, stellte die IV-Stelle nach Einholung eines Berichts des RAD vom 26. August 2016 mit einem neuen Vorbescheid vom 31. August 2016 die Ablehnung des Leistungsbegehrens in Aussicht. Am 14. Dezember 2016 verfügte sie in diesem Sinne.
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 9. Juli 2019 teilweise gut, hob die angefochtene Verfügung auf und wies die Sache zu ergänzenden medizinischen Abklärungen und zur anschliessenden Neuverfügung im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die IV-Stelle, in Aufhebung des Entscheids vom 9. Juli 2019 sei die Streitsache zur Einholung eines Gerichtsgutachtens an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen, soweit überhaupt darauf einzutreten sei. Das kantonale Gericht beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die (weiteren) Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 144 V 280 E. 1 S. 282 mit Hinweis).
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1.2. Die Beschwerde an das Bundesgericht ist zulässig gegen Endentscheide, das heisst gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen (Art. 90 BGG), und gegen Teilentscheide, die nur einen Teil der gestellten Begehren behandeln, wenn diese unabhängig von den anderen beurteilt werden können, oder die das Verfahren nur für einen Teil der Streitgenossen und Streitgenossinnen abschliessen (Art. 91 BGG). Gegen selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide ist hingegen die Beschwerde nur zulässig, wenn sie die Zuständigkeit oder den Ausstand betreffen (Art. 92 BGG), einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG). Rückweisungsentscheide, mit denen eine Sache wie im vorliegenden Fall zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, gelten grundsätzlich als Zwischenentscheide, weil sie das Verfahren nicht abschliessen; sie können nur unter den genannten Voraussetzungen beim Bundesgericht angefochten werden (BGE 140 V 282 E. 2 S. 283 f. mit Hinweisen; 133 V 477 E. 4.2 S. 481 f.).
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Erwägung 2
 
2.1. Das kantonale Gericht hat nach Würdigung der Aktenlage erwogen, auf die Ergebnisse der Begutachtung der medexperts AG vom 25. August 2015 und der bidisziplinären medizinischen Beurteilung vom 9. Juni 2016 könne für die jeweils damalige Zeit abgestellt werden. Das medexperts-Gutachten vom August 2015 habe sich jedoch auch rückblickend zum Verlauf der Arbeitsfähigkeit ab August 2011 geäussert. Die Gutachter hätten sich dabei namentlich auf Berichte der behandelnden Ärzte gestützt und deren Diagnosen sowie Angaben zur Arbeitsunfähigkeit grossteils als nachvollziehbar eingestuft. Der Teilgutachter Rheumatologie habe indes die von den Rheumatologen des Spitals D.________ im Oktober 2013 postulierte axiale und periphere Spondyloarthritis als fraglich und die von den behandelnden Ärzten ab August 2011 attestierten Arbeitsunfähigkeiten in der von der Versicherten ausgeführten, körperlich adaptierten Berufstätigkeit aus heutiger rheumatologischer Sich als schwer nachvollziehbar bezeichnet. Angesichts des Begutachtungsergebnisses vom Juni 2016 mit der Diagnose einer Aggravation und der erwähnten rückblickenden rheumatologischen Bedenken - so das kantonale Gericht - bestünden bei diesen Gegebenheiten relevante Zweifel an der Stichhaltigkeit der früheren, vor der medexperts-Begutachtung liegenden Arbeitsunfähigkeitsangaben, namentlich jener für die massgebliche Zeit des möglichen Ablaufs eines Wartejahres am 10. August 2012. Es sei denkbar und ohne ergänzende Abklärungen nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auszuschliessen, dass ein aggravierendes Verhalten bereits früher bestanden habe und nicht ausgeschieden worden sei. Da nach gegenwärtiger Aktenlage eine langdauernde, ununterbrochene weitreichende Arbeitsunfähigkeit ab August 2011 in Frage stehe und ein Einkommensvergleich selbst bei einer Arbeitsunfähigkeit von 30 % (medexperts AG) und von 25 % (Dres. med. B.________ und C.________) für adaptierte Tätigkeiten einen Rentenanspruch ergäbe, wies die Vorinstanz die Sache zu entsprechenden ergänzenden Abklärungen der medizinischen Verhältnisse von August 2011 bis zur Begutachtung durch die medexperts AG vom August 2015, die allenfalls auch durch den RAD vorgenommen werden könnten, an die IV-Stelle zurück.
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2.2. Die beschwerdeführende IV-Stelle macht unter Hinweis auf BGE 137 V 210 geltend, eine Rückweisung der Sache an die IV-Stelle sei vorliegend nicht zulässig. Vielmehr habe das kantonale Gericht einmal mehr die rechtsprechungsgemässen Anforderungen für die zwingende Einholung eines Gerichtsgutachtens nicht befolgt. Diese stossende und systematische Missachtung der Rechtsprechung rechtfertige es, vom Grundsatz der Nichtanhandnahme von Beschwerden gegen ungerechtfertigte Rückweisungsentscheide eine Ausnahme zu machen und auf die vorliegende Beschwerde einzutreten.
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Erwägung 3
 
3.1. Der Eintretensgrund von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG fällt hier ohne weiteres ausser Betracht und wird auch nicht geltend gemacht.
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3.2. Mit Blick auf das in Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG festgehaltene Erfordernis des nicht wieder gutzumachenden Nachteils gilt es folgende Konstellationen zu unterscheiden: Dient die Rückweisung einzig noch der Umsetzung des vom kantonalen Gericht Angeordneten und verbleibt dem Versicherungsträger somit kein Entscheidungsspielraum mehr, handelt es sich materiell nicht um einen Zwischenentscheid, gegen den ein Rechtsmittel letztinstanzlich bloss unter den Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 BGG zulässig ist, sondern um einen sowohl von der betroffenen versicherten Person wie auch von der Verwaltung anfechtbaren Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG. Enthält der Rückweisungsentscheid demgegenüber Anordnungen, die den Beurteilungsspielraum der Verwaltung zwar nicht gänzlich, aber doch wesentlich einschränken, stellt er einen Zwischenentscheid dar. Dieser bewirkt in der Regel keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG, weil die rechtsuchende Person ihn später zusammen mit dem neu zu fällenden Endentscheid wird anfechten können (vgl. Art. 93 Abs. 3 BGG). Anders verhält es sich für den Versicherungsträger, da er durch den Entscheid gezwungen wird, eine seines Erachtens rechtswidrige Verfügung zu erlassen. Während er sich ausserstande sähe, seinen eigenen Rechtsakt anzufechten, wird die versicherte Person im Regelfall kein Interesse haben, einem zu ihren Gunsten lautenden Endentscheid zu opponieren. Der kantonale Rückweisungsentscheid könnte mithin nicht mehr korrigiert werden. Der irreversible Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG wird in diesen Fällen deshalb regelmässig bejaht. Das gilt aber nur, soweit der Rückweisungsentscheid materiellrechtliche Vorgaben enthält, welche die untere Instanz bei ihrem neuen Entscheid befolgen muss. Erschöpft sich der Rückweisungsentscheid darin, dass eine Frage ungenügend abgeklärt und deshalb näher zu prüfen ist, ohne dass damit materiellrechtliche Anordnungen verbunden sind, so entsteht der Behörde, an die zurückgewiesen wird, kein nicht wieder gutzumachender Nachteil. Die Rückweisung führt lediglich zu einer das Kriterium nicht erfüllenden Verlängerung oder Verteuerung des Verfahrens (BGE 140 V 282 E. 4.2 S. 285 mit Hinweisen; vgl. auch Urteil 9C_553/2019 vom 23. Oktober 2019 E. 4.1).
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Der angefochtene Entscheid schränkt, indem er die Angelegenheit zur ergänzenden medizinischen Abklärung und zu neuer Verfügung an die IV-Stelle zurückweist, deren Entscheidungsspielraum nicht in einem Masse ein, dass nur noch eine Umsetzung des vom kantonalen Gericht Angeordneten in Frage käme. Auch enthält er keine verbindlichen Anweisungen, in welcher Weise der Fall materiellrechtlich zu behandeln ist.
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3.3. Soweit die IV-Stelle geltend macht, die Vorinstanz habe einmal mehr zu Unrecht kein Gerichtsgutachten eingeholt und diese systematische Missachtung der Rechtsprechung rechtfertige es, ausnahmsweise auf die Beschwerde gegen einen ungerechtfertigten Rückweisungsentscheid einzutreten (vgl. BGE 139 V 99 E. 2.5 S. 104), kann ihr nicht gefolgt werden. Die Beschwerdeinstanz hat gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung in der Regel dann ein Gerichtsgutachten einzuholen, wenn sie im Rahmen der Beweiswürdigung zum Schluss kommt, ein bereits erhobener medizinischer Sachverhalt müsse (insgesamt oder in wesentlichen Teilen) noch gutachterlich geklärt werden oder eine Administrativexpertise sei in einem rechtserheblichen Punkt nicht beweiskräftig. Eine Rückweisung an die IV-Stelle ist hingegen zulässig, wenn es darum geht, zu einer bisher vollständig ungeklärten Frage ein Gutachten einzuholen, oder wenn lediglich eine Klarstellung, Präzisierung oder Ergänzung von gutachterlichen Ausführungen erforderlich ist (BGE 139 V 99 E. 1.1 S. 100; 137 V 210 E. 4.4.1.4 S. 264 f.).
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Im angefochtenen Rückweisungsentscheid wird die IV-Stelle angewiesen, die medizinischen Verhältnisse, insbesondere die Arbeitsunfähigkeit, ab August 2011 bis zur Begutachtung durch die medexperts AG im August 2015 ergänzend abzuklären und anschliessend erneut über den Rentenanspruch zu verfügen. Verlangt wird nicht eine neue Begutachtung, sondern eine Ergänzung bzw. Präzisierung des bestehenden Gutachtens, dies für einen beschränkten Zeitraum und mit einer konkreten Fragestellung. Die Vorinstanz geht denn auch davon aus, dass die ergänzenden Abklärungen allenfalls durch den RAD vorgenommen werden können. Da die Rückweisung an die IV-Stelle mithin zu Recht erfolgt ist, erübrigt es sich, auf die Frage des ausnahmsweisen Eintretens auf die Beschwerde wegen regelmässiger Missachtung der Rechtsprechung zur Einholung von Gerichtsgutachten durch die Vorinstanz näher einzugehen.
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3.4. Zusammenfassend sind die Voraussetzungen der Anfechtbarkeit nach Art. 93 Abs. 1 BGG zu verneinen. Die Beschwerde erweist sich daher als unzulässig.
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4. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Verfahrenskosten zu tragen (Art. 65 Abs. 4 lit. a in Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Der anwaltlich vertretenen Beschwerdegegnerin steht eine Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 1 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1000.- zu entschädigen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 15. November 2019
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Die Gerichtsschreiberin: Kopp Käch
 
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