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Informationen zum Dokument  BGer 9C_541/2019  Materielle Begründung
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BGer 9C_541/2019 vom 07.10.2019
 
 
9C_541/2019
 
 
Urteil vom 7. Oktober 2019
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
 
Bundesrichter Meyer, Parrino,
 
Gerichtsschreiber Fessler.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Stark,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Ergänzungsleistung zur AHV/IV
 
(Berechnung des Leistungsanspruchs; Heimtaxe),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
 
vom 27. Juni 2019 (EL 2017/15).
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________ lebte bei einer Pflegefamilie im Kanton Thurgau. Seine im Kanton St. Gallen wohnhafte Mutter bezog eine Rente der Invalidenversicherung (IV) samt einer Kinderrente sowie Ergänzungsleistungen (EL). Mit Verfügung vom 28. Mai 2016 sprach die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Ausgleichskasse (nachfolgend: EL-Durchführungsstelle), für den Sohn eine jährliche Ergänzungsleistung von Fr. 1'002.- ab dem 1. Mai 2016 zu. Der gesonderten Anspruchsberechnung hatte sie eine Tagespauschale von Fr. 33.- zugrunde gelegt. Mit Verfügung vom 19. Dezember 2016 erhöhte sie die Ergänzungsleistung für 2017 auf Fr. 1'008.- entsprechend der höheren kantonalen Durchschnittsprämie für die obligatorische Krankenpflegeversicherung. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 9. März 2017 fest.
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B. Die Beschwerde des A.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 27. Juni 2019 ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, der Entscheid der Vorinstanz vom 27. Juni 2019 sei aufzuheben und die Sache an diese zurückzuweisen, damit sie nach erfolgter umfassender Abklärung über den Anspruch auf Ergänzungsleistungen neu befinde, unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
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Erwägungen:
 
1. Der durch seine Mutter rechtsgültig vertretene Beschwerdeführer hat ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung oder Änderung des erstinstanzlich angefochtenen Einspracheentscheids (Art. 59 ATSG) und auch des diesen bestätigenden Entscheids der Vorinstanz (Art. 89 Abs. 1 lit. c BGG; BGE 138 V 292). Die übrigen Eintretensvoraussetzung sind ebenfalls gegeben.
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2. Streitgegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens bildete die jährliche Ergänzungsleistung für die Zeit ab 1. Januar 2017 für den Sohn, der eine IV-Kinderrente erhält, dessen Mutter Anspruch auf eine IV-Rente und auf Ergänzungsleistungen hat. Dabei stellte sich aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde gegen den Einspracheentscheid vom 9. März 2017 einzig die Frage, ob die Anerkennung einer Tagestaxe von Fr. 33.- als Ausgabe nach Art. 10 Abs. 2 lit. a ELG in der gesonderten Berechnung nach Art. 7 Abs. 1 lit. c und Abs. 2 ELV (i.V.m. Art. 9 Abs. 5 lit. a ELG) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG; Urteil 9C_203/2019 vom 28. Mai 2019 E. 2.1).
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3. Das kantonale Versicherungsgericht hat im Wesentlichen erwogen, die einspracheweise angefochtene Verfügung vom 19. Dezember 2016 habe sich inhaltlich darauf beschränkt, die laufende Ergänzungsleistung mit Wirkung ab dem 1. Januar 2017 an die Erhöhung der kantonalen Durchschnittsprämie für die obligatorische Krankenpflegeversicherung anzupassen (vgl. Art. 10 Abs. 3 lit. d ELG). Die Beschwerdegegnerin habe somit keine komplette Neuberechnung ohne jegliche Bindung an ihre früheren Verfügungen im Sinne der Kalenderjahrpraxis vornehmen wollen. Das entspreche auch ihrer eigenen Praxis. Danach erlasse sie in den allermeisten Fällen auf einen Kalenderwechsel hin ganz gewöhnliche Revisionsverfügungen im Sinne des Art. 17 Abs. 2 ATSG, d.h. sie setze die Ergänzungsleistung also jeweils gerade nicht umfassend neu fest. In einem Einzelfall von dieser Praxis abzuweichen, würde ganz offensichtlich gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstossen. Der Inhalt der Revisionsverfügung vom 19. Dezember 2016 sei somit im Einspracheverfahren durch die Umdeutung in eine Verfügung in Anwendung der "Kalenderjahr-Praxis" komplett "ausgewechselt" worden, was als rechtsmissbräuchlich qualifiziert werden müsse. Zu prüfen sei daher lediglich, ob die Anpassung der laufenden Ergänzungsleistung an eine Erhöhung der kantonalen Durchschnittsprämie für die obligatorische Krankenpflegeversicherung zum 1. Januar 2017 rechtmässig war, was zu bejahen sei.
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Erwägung 4
 
4.1. Der Beschwerdeführer verweist auf die unlängst im Urteil 9C_480/2018 vom 30. Januar 2019 E. 2.3 bestätigte Rechtsprechung des Bundesgerichts, wonach eine Verfügung oder ein Einspracheentscheid über Ergänzungsleistungen in zeitlicher Hinsicht Rechtsbeständigkeit nur für das betreffende Kalenderjahr entfalten kann. Demzufolge können die Berechnungsgrundlagen ohne Bindung an frühere Festlegungen und unabhängig allfälliger während der Bemessungsdauer möglicher Revisionsgründe jährlich überprüft und allenfalls neu festgesetzt werden (BGE 128 V 29; Urteile 9C_52/2015 vom 3. Juli 2015 E. 2.2.1 und 8C_94/2007 vom 15. April 2008 E. 4). Dem widerspricht die Auffassung des kantonalen Versicherungsgerichts, wonach die in der Verfügung vom 19. Dezember 2016 festgelegte Tagestaxe von Fr. 33.- nach Art. 10 Abs. 2 lit. a ELG im Rahmen der gesonderten EL-Berechnung nach Art. 7 Abs. 1 lit. c und Abs. 2 ELV im Einspracheverfahren nicht hätte überprüft werden dürfen. Seine Begründung für ein Abweichen von der Rechtsprechung im vorliegenden Fall, zu Ende gedacht, bedeutete, dass der Beschwerdeführer, anstatt Einsprache zu erheben, den Erlass einer (anfechtbaren) separaten identischen Verfügung hätte verlangen müssen mit dem Hinweis, er bestreite die Berechnungsposition "Tagestaxe: max. Fr. 12'045.- [365 x Fr. 33.-]", was offensichtlich keinen Sinn machte.
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4.2. Das kantonale Versicherungsgericht hat im Sinne eines obiter dictum unter Hinweis auf das Urteil 9C_884/2018 vom 1. Mai 2019 sich dahingehend geäussert, "dass wohl die strikte Anwendung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu einer Abweisung der Beschwerde führen dürfte". Seinen diesbezüglichen Ausführungen kann indessen nicht die Bedeutung einer selbständigen, den angefochtenen Entscheid allein tragenden Eventualbegründung (vgl. dazu BGE 142 III 364 E. 2.4 i.f. S. 368) beigemessen werden, da jegliche Auseinandersetzung mit den Vorbringen zu diesem Punkt in der kantonalen Beschwerde fehlt.
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4.3. Das kantonale Versicherungsgericht wird die Höhe der beanstandeten Tagestaxe zu prüfen haben und danach über die jährliche Ergänzungsleistung für den Beschwerdeführer für 2017 neu entscheiden. Die Beschwerde ist begründet.
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5. Auf einen Schriftenwechsel ist angesichts des klaren Verfahrensausgangs und des Kostenentscheids (E. 6) aus prozessökonomischen Gründen zu verzichten. Die Einholung einer Vernehmlassung zur Beschwerde käme einem Leerlauf gleich und würde nur weitere Kosten verursachen (Art. 102 Abs. 1 BGG).
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6. Dasselbe kantonale Versicherungsgericht hatte schon im Fall 8C_94/2007 die Rechtsprechung gemäss BGE 128 V 39 kritisiert und nicht angewendet. In E. 4 seines Urteils vom 15. April 2008 nahm das Bundesgericht Stellung dazu, wobei es die vorinstanzlichen Argumente als teilweise nicht sachgerecht, teilweise nicht stichhaltig erachtete. Sodann war das gleiche kantonale Versicherungsgericht Vorinstanz Im erwähnten Fall 9C_480/2018. Unter diesen Umständen rechtfertigt es sich, kraft Verursacherprinzip die Gerichtskosten dem Kanton St. Gallen aufzuerlegen und diesen zur Bezahlung einer Parteientschädigung an den Beschwerdeführer zu verpflichten (Art. 66 Abs. 1 zweiter Satz und Abs. 3 BGG sowie Art. 68 Abs. 4 BGG; Urteil 9C_242/2018 vom 21. Februar 2019 E. 7).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 27. Juni 2019 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an dieses zurückgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Kanton St. Gallen auferlegt.
 
3. Der Kanton St. Gallen hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 7. Oktober 2019
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Pfiffner
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler
 
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