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Informationen zum Dokument  BGer 8C_365/2019  Materielle Begründung
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BGer 8C_365/2019 vom 25.09.2019
 
 
8C_365/2019
 
 
Urteil vom 25. September 2019
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione,
 
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich, Zürcherstrasse 8, 8400 Winterthur,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosenentschädigung; Rückerstattung),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 29. März 2019 (AL.2018.00105).
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________, geboren 1958, war ab 1. Februar 2011 bei der B.________ AG angestellt. Nachdem ihm per 31. Dezember 2014 gekündigt worden war, meldete er sich am 8. Oktober 2014 beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) zum Leistungsbezug an. Wegen andauernder Krankheit und fehlender Vermittelbarkeit erhielt A.________ keine Arbeitslosenentschädigung. Am 27. Juli 2015 meldete er sich erneut zum Leistungsbezug an. In der Folge richtete ihm die Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich für die Zeit von Oktober 2015 bis Januar 2016 Arbeitslosenentschädigungen aus. Auf den 1. Februar 2016 trat A.________ eine neue Stelle an.
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Die IV-Stelle des Kantons Zürich sprach A.________ am 14. November 2016 vom 1. Juni bis 31. Dezember 2015 eine ganze Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 100 % zu, was der Arbeitslosenkasse am 17. Juli 2017 zur Kenntnis gebracht wurde. In der Folge verneinte die Arbeitslosenkasse mit Verfügung vom 2. August 2017, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 5. März 2018, rückwirkend für die Zeit vom 14. September bis 31. Dezember 2015 die Vermittlungsfähigkeit und damit den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigungen. Zudem forderte sie die in dieser Zeit geleisteten Arbeitslosenentschädigungen von Fr. 19'696.95 zurück, wobei Fr. 6'790.10 von der IV-Stelle zu erstatten und Fr. 12'906.85 vorbehältlich der Verrechnung mit den Leistungen der beruflichen Vorsorge zu Lasten des Ausgleichsfonds abzuschreiben seien. Schliesslich verpflichtete sie A.________, den im Januar 2016 zu viel geleisteten Betrag von Fr. 4'341.95 zurückzubezahlen.
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B. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hiess die dagegen erhobene Beschwerde am 29. März 2019 teilweise gut und stellte fest, dass für die Kontrollperiode Januar 2016 keine Rückerstattungspflicht bestehe.
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C. Die Arbeitslosenkasse führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, es sei der vorinstanzliche Entscheid unter Bestätigung des Einspracheentscheids vom 5. März 2018 aufzuheben.
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A.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Staatssekretariat für Wirtschaft verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).
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2. Vor Bundesgericht ist einzig streitig, ob die Vorinstanz zu Recht die Rückerstattungspflicht des Versicherten für den Monat Januar 2016 verneint hat.
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Erwägung 3
 
3.1. Gemäss Art. 53 Abs. 1 ATSG müssen formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide in Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person oder der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen entdeckt oder Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war. Diese sogenannte prozessuale Revision kommt auch bei formlosen, rechtsbeständig gewordenen Leistungszusprachen zur Anwendung (BGE 122 V 367 E. 3 S. 368 f.; Urteil 8C_469/2013 vom 24. Februar 2014 E. 2, nicht publ. in: BGE 140 V 70, aber in: SVR 2014 UV Nr. 14 S. 44; SVR 2012 UV Nr. 17 S. 63, 8C_434/2011 E. 3).
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Die nachträgliche Zusprechung einer Invalidenrente resp. das nachträglich festgestellte Fehlen der Vermittlungsfähigkeit gilt als erhebliche neue Tatsache, welche ein Zurückkommen auf die zugesprochenen Leistungen unter dem Titel der prozessualen Revision erlaubt (vgl. SVR 2015 ALV Nr. 15 S. 45, 8C_789/2014 E. 3.1.3 und Urteil 8C_746/2014 vom 23. März 2015 E. 5.1 mit Hinweisen, publ. in: ARV 2015 S. 165). Dies zieht eine uneingeschränkte materielle Neuprüfung nach sich, wobei auch eine rückwirkende Korrektur (ex tunc) möglich ist (vgl. etwa Urteile 8C_552/2016 vom 8. Februar 2017 E. 3.3 und 8C_626/2014 vom 6. Januar 2014 E. 3.4 sowie UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, N. 25 f. zu Art. 53 ATSG).
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3.2. Der Anspruch auf Arbeitslosentschädigung beginnt nach einer Wartezeit von fünf Tagen kontrollierter Arbeitslosigkeit (Art. 18 Abs. 1 Satz 1 AVIG). Für Personen ohne Unterhaltspflichten gegenüber Kindern unter 25 Jahren beträgt die Wartezeit bei einem versicherten Verdienst zwischen Fr. 90'001.- und Fr. 125'000.- 15 Tage (Art. 18 Abs. 1 Satz 2 lit. b AVIG).
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Die Wartezeit ist in der Rahmenfrist für den Leistungsbezug nur einmal zu bestehen. Als Wartezeit gelten dabei nur diejenigen Tage, für die die versicherte Person die Anspruchsvoraussetzungen von Art. 8 Abs. 1 AVIG erfüllt (Art. 6a Abs. 1 AVIV). Zu den Anspruchsvoraussetzungen von Art. 8 Abs. 1 AVIG zählt u.a. die Vermittlungsfähigkeit. Vermittlungsfähig ist eine arbeitslose Person, wenn sie bereit, in der Lage und berechtigt ist, eine zumutbare Arbeit anzunehmen oder an Eingliederungsmassnahmen teilzunehmen (Art. 15 Abs. 1 AVIG).
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Erwägung 4
 
4.1. Mit der Arbeitslosenkasse ist festzuhalten, dass gestützt auf die Zusprechung der Invalidenrente rechtsprechungsgemäss (E. 3.1) die Voraussetzungen für eine prozessuale Revision gegeben sind. Die für die Zeit ab 1. Juni 2015 gemachten Feststellungen (Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen, Wartezeit, versicherter Verdienst, Arbeitslosenentschädigungen) sind daher allesamt hinfällig und die Arbeitslosenkasse hat den Leistungsanspruch des Versicherten allein unter Berücksichtigung des neu erstellten Sachverhalts und ohne Bindung an frühere Beurteilungen zu prüfen. Dazu gehört auch die Feststellung, wann der Versicherte erstmals sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, und gestützt darauf die Festlegung der Wartezeit.
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4.2. Bei der neuen Prüfung des Leistungsanspruchs des Versicherten hatte die Arbeitslosenkasse eine Beurteilung ex tunc unter Zugrundelegung des neuen Sachverhalts vorzunehmen. Sie war dabei nicht an frühere Beurteilungen gebunden. Mithin war auch das Bestehen der Wartezeit gestützt auf den nunmehr massgebenden Sachverhalt neu festzulegen (vgl. dazu BGE 144 V 202 E. 4.3 S. 205 sowie Urteil 8C_746/2014 vom 23. März 2015 E. 5.2 und 5.6, publ. in: ARV 2015 S. 165, bei welchen ebenfalls im Rahmen einer prozessualen Revision die Wartezeit neu festgelegt worden war). Da der Versicherte in der Zeit vom 1. Juni bis 31. Dezember 2015 eine ganze Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 100 % bezog, war er mangels zumutbarer Arbeitsfähigkeit in dieser Zeitspanne auch nicht vermittlungsfähig im Sinne von Art. 15 AVIG. Er erfüllte damit nicht sämtliche Anspruchsvoraussetzungen nach Art. 8 Abs. 1 AVIG, so dass er in dieser Zeit auch nicht die Wartezeit bestehen konnte (Art. 6a Abs. 1 AVIV). Erst ab 1. Januar 2016 sind unter Berücksichtigung des nunmehr massgebenden Sachverhalts sämtliche Anspruchsvoraussetzungen nach Art. 8 Abs. 1 AVIG gegeben, so dass er die Wartezeit erst ab diesem Zeitpunkt bestehen konnte. Entgegen der vorinstanzlichen Ansicht liegt dabei keine doppelte Berücksichtigung vor, da die frühere Beurteilung, gemäss welcher die Wartezeit im September 2014 bestanden war, keine Rechtskraft mehr entfaltet, sondern an deren Stelle die neue umfassende materielle Beurteilung des Anspruches - im konkreten Fall die ganze Invalidenrente - tritt. Es ist denn auch offensichtlich, dass der Versicherte für die strittige Zeitspanne im September 2015 nicht einerseits eine ganze Invalidenrente beziehen, andererseits aber seine arbeitslosenversicherungsrechtliche Schadensbeteiligung in Form des Bestehens der Wartezeit (vgl. THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 3. Aufl. 2016, Rz. 339 S. 2368) erfüllen kann.
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5. Das Verfahren ist kostenpflichtig. Der unterliegende Versicherte hat die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 29. März 2019 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid der Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich vom 5. März 2018 bestätigt.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und dem Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 25. September 2019
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Die Gerichtsschreiberin: Riedi Hunold
 
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