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Informationen zum Dokument  BGer 6B_820/2018  Materielle Begründung
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BGer 6B_820/2018 vom 17.09.2019
 
 
6B_820/2018
 
 
Urteil vom 17. September 2019
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, Präsident,
 
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi,
 
Gerichtsschreiberin Bianchi.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Christian Fraefel,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl, Postfach, 8036 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Genugtuung (Betrug); rechtliches Gehör, Willkür,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 14. Mai 2018 (SB170381).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Das Bezirksgericht Zürich sprach X.________ mit Urteil vom 11. Juli 2017 des Betrugs schuldig und bestrafte ihn mit vier Monaten Freiheitsstrafe. Zudem stellte es fest, dass X.________ die Tatbestände der Freiheitsberaubung (Art. 183 StGB), der mehrfachen, teils versuchten Nötigung (Art. 181 StGB), der mehrfachen Drohung (Art. 180 StGB), der mehrfachen üblen Nachrede (Art. 173 StGB), der mehrfachen Beschimpfung (Art. 177 StGB), des mehrfachen Missbrauchs einer Fernmeldeanlage (Art. 179septies StGB) und des mehrfachen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen (Art. 292 StGB) erfüllte. Aufgrund seiner Schuldunfähigkeit sprach es ihn von diesen Delikten frei.
1
Das Bezirksgericht ordnete eine ambulante Massnahme im Sinne von Art. 63 StGB und ein Rayonverbot im Sinne von Art. 67b StGB an. Es auferlegte X.________ die Entscheidgebühr und nahm die übrigen Kosten auf die Gerichtskasse. Eine Genugtuung sprach es X.________ nicht zu.
2
X.________ befand sich am 23. Mai 2016 sowie vom 28. Juli 2016 bis am 20. April 2017 in Untersuchungshaft.
3
B. Das Obergericht des Kantons Zürich sprach X.________ vom Vorwurf des Betrugs frei und stellte fest, dass er die Tatbestände der Nötigung, Drohung und des Missbrauchs einer Fernmeldeanlage in Bezug auf gewisse ihm vorgeworfene Verhaltensweisen nicht erfüllte. Es stellte hingegen fest, dass X.________ die Tatbestände der mehrfachen, teils versuchten Nötigung, der mehrfachen Drohung und des mehrfachen Missbrauchs einer Fernmeldeanlage in Bezug auf weitere ihm vorgeworfene Verhaltensweisen sowie die Tatbestände der Freiheitsberaubung, der mehrfachen üblen Nachrede, der mehrfachen Beschimpfung und des mehrfachen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen erfüllte. Aufgrund seiner Schuldunfähigkeit sprach es ihn von diesen Delikten frei. Das Obergericht stellte fest, dass die Anordnung der ambulanten Massnahme in Rechtskraft erwachsen ist und ordnete ein Kontakt- und Rayonverbot an. Die Verfahrenskosten nahm es auf die Gerichtskasse und es sprach X.________ keine Genugtuung zu.
4
C. X.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, es sei ihm eine Genugtuung von Fr. 30'000.-- zuzusprechen. Eventualiter sei die Abweisung des Genugtuungsanspruchs aufzuheben und die Sache an das Obergericht zurückzuweisen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
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Erwägungen:
 
1. Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK) geltend. Dem angefochtenen Urteil lasse sich nicht ausdrücklich entnehmen, auf welcher Rechtsgrundlage die Abweisung seines Genugtuungsanspruchs beruhe. Die Vorinstanz legte dar, dass sie den Genugtuungsanspruch aufgrund der Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft abwies (unten E. 1.3). Damit hat sie die für sie wesentlichen Überlegungen genannt, von denen sie sich hat leiten lassen und auf welche sie ihren Entscheid stützt, so dass der Beschwerdeführer diesen in voller Kenntnis der Sache beim Bundesgericht anfechten konnte (vgl. BGE 143 IV 40 E. 3.4.3; 142 III 433 E. 4.3.2 S. 436; je mit Hinweisen). Eine Verletzung der Begründungspflicht liegt somit nicht vor.
6
 
Erwägung 2
 
2.1. Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe Art. 429 Abs. 1 lit. c sowie Art. 430 Abs. 1 lit. a StPO verletzt, indem sie ihm keine Genugtuung für die erstandene Untersuchungshaft zugesprochen habe. Er sei vollumfänglich freigesprochen worden, weswegen sein Anspruch auf Genugtuung gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO zu bejahen sei. Nach Art. 430 Abs. 1 lit. a StPO bestehe zwar die Möglichkeit, bei schuldhafter oder rechtswidriger Einleitung des Verfahrens durch die beschuldigte Person eine Entschädigung oder Genugtuung herabzusetzen oder zu verweigern. Dabei sei jedoch die zivilrechtliche Vorwerfbarkeit des Verhaltens ausschlaggebend, welche vorliegend aufgrund seiner Schuldunfähigkeit zu verneinen sei.
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2.2. Wird die beschuldigte Person ganz oder teilweise freigesprochen oder wird das Verfahren gegen sie eingestellt, so hat sie Anspruch auf Genugtuung für besonders schwere Verletzungen ihrer persönlichen Verhältnisse, insbesondere bei Freiheitsentzug (Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO). Die Strafbehörde kann die Entschädigung oder Genugtuung namentlich herabsetzen oder verweigern, wenn die beschuldigte Person rechtswidrig und schuldhaft die Einleitung des Verfahrens bewirkt oder dessen Durchführung erschwert hat (Art. 430 Abs. 1 lit. a StPO).
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Sind gegenüber der beschuldigten Person rechtswidrig Zwangsmassnahmen angewandt worden, so spricht ihr die Strafbehörde eine angemessene Entschädigung und Genugtuung zu (Art. 431 Abs. 1 StPO). Im Fall von Untersuchungs- und Sicherheitshaft besteht der Anspruch, wenn die zulässige Haftdauer überschritten ist und der übermässige Freiheitsentzug nicht an die wegen anderer Straftaten ausgesprochenen Sanktionen angerechnet werden kann (Art. 431 Abs. 2 StPO). Art. 431 Abs. 2 StPO regelt den Fall der sogenannten Überhaft. Eine solche liegt vor, wenn die Untersuchungs- und/oder Sicherheitshaft rechtmässig angeordnet wurde, diese Haft den im Entscheid ausgesprochenen Freiheitsentzug aber überschreitet, also länger dauert als die tatsächlich ausgefällte Sanktion. Bei Überhaft nach Art. 431 Abs. 2 StPO ist also nicht die Haft per se, sondern nur die Haftlänge ungerechtfertigt. Sie wird erst im Nachhinein, das heisst nach Fällung des Urteils, übermässig (BGE 141 IV 236 E. 3.2; Urteile 6B_375/2018 vom 12. August 2019 E. 2.5, zur Publikation vorgesehen; 6B_632/2017 vom 22. Februar 2018 E. 1.5; je mit Hinweisen). Als Untersuchungshaft gilt dabei jede in einem Strafverfahren verhängte Haft; Untersuchungs-, Sicherheits- und Auslieferungshaft (Art. 110 Abs. 7 StGB).
9
Sowohl der Anspruch nach Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO wie auch jener nach Art. 431 Abs. 2 StPO setzen eine Haftanordnung unter Einhaltung der formellen und materiellen Vorgaben voraus. Die Bestimmungen grenzen sich jedoch nach ihrem klaren Gesetzeswortlaut durch die Verfahrensfolgen ab. So kommt Art. 431 Abs. 2 StPO im Gegensatz zu Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO immer im Zusammenhang mit einer ausgesprochenen Sanktion zur Anwendung. Wenn der beschuldigten Person die Verwirklichung von tatbestandsmässig-rechtswidrigem Unrecht zugerechnet und eine Sanktion in Form einer ambulanten Massnahme auferlegt wird, ist ein allfälliger Entschädigungs- und Genugtuungsanspruch wegen Überhaft nach Art. 431 Abs. 2 StPO zu beurteilen (Urteil 6B_375/2018 vom 12. August 2019 E. 2.4, zur Publikation vorgesehen).
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2.3. Die Vorinstanz legte dar, dass die Untersuchungshaft von 267 Tagen rechtmässig war, was vom Beschwerdeführer nicht bestritten wird. Die vorinstanzliche Erwägung, der Genugtuungsanspruch sei aufgrund der Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft abzuweisen, greift indes unter Berücksichtigung von Art. 431 Abs. 2 StPO zu kurz. Die Vorinstanz stellte rechtskräftig fest, dass der Beschwerdeführer die Tatbestände der Freiheitsberaubung, der mehrfachen, teils versuchten Nötigung, der mehrfachen Drohung, der mehrfachen üblen Nachrede, der mehrfachen Beschimpfung, des mehrfachen Missbrauchs einer Fernmeldeanlage und des mehrfachen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen erfüllt habe und ordnete eine ambulante Massnahme sowie ein Rayonverbot an. Damit rechnete sie ihm die Verwirklichung von tatbestandsmässig-rechtswidrigem Unrecht zu und sprach eine Sanktion aus. Demnach ist sein Genugtuungsanspruch nach Art. 431 Abs. 2 StPO zu beurteilen.
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Fraglich ist, ob der Genugtuungsanspruch unter Berücksichtigung der nach Art. 431 Abs. 2 StPO vorgesehenen Anrechnung an die ausgesprochene Sanktion abzuweisen ist.
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2.4. Das Bundesgericht hat im Leitentscheid 141 IV 236 entschieden, dass die Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft an freiheitsentziehende Massnahmen gemäss Art. 56 ff. StGB, konkret an stationäre therapeutische Massnahmen im Sinne von Art. 59 StGB, grundsätzlich anzurechnen ist (BGE 141 IV 236 E. 3). Im zur Publikation vorgesehenen Urteil 6B_375/2018 vom 12. August 2019 hat das Bundesgericht festgehalten, dass die Rechtsprechung zur Anrechnung von Haft auf freiheitsentziehende Massnahmen auch auf ambulante Massnahmen im Sinne von Art. 63 StGB anwendbar ist (E. 2.7).
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Eine Genugtuung kommt nur in Frage, wenn sich ex post zeigen sollte, dass das Gesamtmass des mit der ambulanten Behandlung einhergehenden Freiheitsentzugs von der Dauer her im Einzelfall kürzer ist als die erstandene Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft. Von Bedeutung ist hierfür im Wesentlichen, mit welchem Zeit- und Kostenaufwand die Massnahme für den Betroffenen verbunden war (Urteil 6B_375/2018 vom 12. August 2019 E. 2.8.2 mit Hinweisen, zur Publikation vorgesehen). Ist im Urteilszeitpunkt weder die Ausgestaltung noch die Dauer der angeordneten ambulanten Massnahme bekannt, hat die Vorinstanz die Frage, ob eine nach Art. 431 Abs. 2 StPO zu entschädigende Überhaft vorliegt, im Rahmen eines selbstständigen nachträglichen Verfahrens im Sinne von Art. 363 StPO zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich nach Ablauf der ambulanten Massnahme, zu beurteilen (Urteil 6B_375/2018 vom 12. August 2019 E. 2.9 mit Hinweisen, zur Publikation vorgesehen).
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2.5. Dem angefochtenen Urteil lassen sich weder Anhaltspunkte zur Ausgestaltung noch zur Dauer der angeordneten ambulanten Massnahme entnehmen. Zum jetzigen Zeitpunkt entfällt damit ein Genugtuungsanspruch. Dieser ist im Rahmen eines selbstständigen nachträglichen Verfahrens im Sinne von Art. 363 StPO nach Ablauf der ambulanten Massnahme zu beurteilen.
15
 
Erwägung 3
 
3.1. Der Beschwerdeführer macht ferner eine Verletzung des Willkürverbots sowie des Rechtsgleichheitsgebots geltend. Die Vorinstanz habe seinen Anspruch auf willkürliche Art und Weise abgelehntund mit der Gutheissung des Genugtuungsanspruchs in gleichgelagerten Fällen das Gebot der Rechtsgleichheit verletzt.
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3.2. Sofern der Beschwerdeführer unter dem Titel des Willkürverbots geltend macht, die Vorinstanz habe seinen Anspruch ohne nähere Begründung und somit willkürlich abgelehnt, geht seine Rüge nicht über die beanstandete Verletzung des rechtlichen Gehörs hinaus (oben, E. 1).
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3.3. Unter dem Titel des Rechtsgleichheitsgebots bringt der Beschwerdeführer vor, in vergleichbaren Fällen (vgl. Urteile des Obergerichts Zürich SB130314 vom 10. Februar 2014, SB140444 vom 15. Januar 2016 und UH160240 vom 27. Oktober 2016) habe die Vorinstanz die infolge von Untersuchungshaft gestellten Genugtuungsansprüche schuldunfähiger Personen gutgeheissen. Während das Bundesgericht das Urteil SB130314 vom 10. Februar 2014 mit BGE 141 IV 236, welcher vorliegend ebenfalls zum Tragen kommt (oben, E. 2.4) aufgehoben hat, wurde in den beiden weiteren Fällen keine Sanktion ausgesprochen, weswegen sie für die vorliegend relevante Beurteilung des Genugtuungsanspruchs nach Art. 431 Abs. 2 StPO nicht einschlägig sind. Eine Verletzung des Rechtsgleichheitsgebots ist nicht ersichtlich.
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4. Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Der Beschwerdeführer wird ausgangsgemäss kostenpflichtig und hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 BGG). Sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist infolge Aussichtslosigkeit abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 BGG e contrario). Seinen angespannten finanziellen Verhältnissen ist mit reduzierten Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 17. September 2019
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Denys
 
Die Gerichtsschreiberin: Bianchi
 
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