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Informationen zum Dokument  BGer 6B_1189/2018  Materielle Begründung
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BGer 6B_1189/2018 vom 12.09.2019
 
 
6B_1189/2018
 
 
Urteil vom 12. September 2019
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, Präsident,
 
Bundesrichter Oberholzer,
 
Bundesrichter Rüedi,
 
Gerichtsschreiber Reut.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Marcel Buttliger,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
 
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau,
 
2. X.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Tanja Knodel,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Versuchte schwere Körperverletzung, qualifizierte einfache Körperverletzung; Willkür, rechtliches Gehör, unmittelbare Beweisabnahme etc.; Genugtuung,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
 
des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer,
 
vom 10. September 2018 (SST.2017.202 / bb / so).
 
 
Sachverhalt:
 
A. X.________ wird vorgeworfen, am 29. Mai 2016 im Schrebergarten "U.________" im Rahmen eines zunächst verbalen Streits einmal mit einem Rüstmesser auf A.________ eingestochen zu haben. Die Messerklinge sei tief in den seitlich-hinteren Bereich des Brustkorbes eingedrungen. Dies habe zu einer Luft- und Blutansammlung in der linken Brusthöhle geführt, welche notfallmässig mittels Thorax-Drainage habe entfernt werden müssen.
1
B. Das Bezirksgericht Aarau sprach X.________ am 27. März 2017 vom Vorwurf der versuchten schweren Körperverletzung bzw. der qualifizierten einfachen Körperverletzung unter Annahme rechtfertigender Notwehr frei und wies die Zivilforderung von A.________ ab. Die dagegen von der Staatsanwaltschaft und A.________ erhobenen Berufungen wies das Obergericht des Kantons Aargau am 10. September 2018 ab.
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C. A.________ wendet sich mit Beschwerde in Strafsachen gegen den Freispruch und die Abweisung seiner Zivilforderung. Er beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben, X.________ der versuchten schweren Körperverletzung und der qualifizierten einfachen Körperverletzung schuldig zu sprechen und angemessen zu bestrafen. Eventualiter sei die Angelegenheit zur Feststellung des Sachverhalts an das Obergericht zurückzuweisen. Die Staatsanwaltschaft, X.________ sowie das Obergericht haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
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Erwägungen:
 
1. Die Privatklägerschaft ist zur Beschwerde in Strafsachen unter Vorbehalt gewisser Ausnahmen nur berechtigt, wenn sie im kantonalen Verfahren adhäsionsweise Zivilansprüche geltend gemacht hat und der angefochtene Entscheid sich auf die Beurteilung dieser Zivilansprüche auswirken kann (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG). Dies ist hier der Fall. Der Beschwerdeführer machte im Berufungsverfahren eine Genugtuungsforderung von Fr. 5'000.-- geltend. Die Vorinstanz hat die Zivilklage aufgrund des Freispruchs des Beschwerdegegners 2 abgewiesen. Der Beschwerdeführer ist damit durch das angefochtene Urteil beschwert und zur Beschwerde in Strafsachen legitimiert.
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2. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 343 Abs. 3 i.V.m. Art. 389 Abs. 3 StPO sowie eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung. Im vorliegenden Fall gebe es keine Zeugen und das rechtsmedizinische Gutachten lasse sowohl die verschiedenen, sich widersprechenden Schilderungen des Tathergangs des Beschwerdegegners 2, als auch die plausible Schilderung des Beschwerdeführers als möglichen Tathergang zu. Demnach liege offensichtlich eine "Aussage gegen Aussage"-Konstellation vor, bei der es absolut massgebend sei, wie der Beschwerdeführer und der Beschwerdegegner 2 zur Sache aussagen würden (Beschwerde S. 9 ff. und S. 35 ff.).
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Erwägung 2.1
 
2.1.1. Im Strafverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz. Danach klären die Strafbehörden von Amtes wegen alle für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen ab (Art. 6 Abs. 1 StPO). Die Ermittlung des wahren Sachverhalts ist von zentraler Bedeutung. Insofern ist es mit Blick auf das Ziel der Erforschung der materiellen Wahrheit erforderlich, dass die Gerichte eine aktive Rolle bei der Beweisführung einnehmen (BGE 144 I 234 E. 5.6.2; Urteil 6B_288/2015 vom 12. Oktober 2015 E. 1.5.4 mit Hinweis). Nur wenn die Gerichte ihrer Amtsermittlungspflicht genügen, dürfen sie einen Sachverhalt als erwiesen (oder nicht erwiesen) ansehen und in freier Beweiswürdigung darauf eine Rechtsentscheidung gründen. Der Grundsatz "in dubio pro reo" kann sachlogisch erst zur Anwendung kommen, wenn alle aus Sicht des urteilenden Gerichts notwendigen Beweise erhoben wurden (Urteil 6B_288/2015 vom 12. Oktober 2015 E. 1.5.3; NADJA CAPUS/JULIETTE LELIEUR/LESLIE LA SALA, Juger en appel sans ré-administrer les preuves?, Anwaltsrevue 2017 S. 366). Da es den Strafbehörden obliegt, die Beweise rechtskonform zu erheben, sind die notwendigen Ergänzungen von Amtes wegen vorzunehmen. Dazu bedarf es keines Antrags durch eine Partei (BGE 143 IV 288 E. 1.4.1). Dies gilt unabhängig vom Einverständnis der Parteien zur Durchführung des schriftlichen Berufungsverfahrens (Urteil 6B_582/2018 vom 12. Juli 2019 E. 4.1) und im besonderen Masse bei einer "Aussage gegen Aussage"-Konstellation (vgl. Urteil 6B_145/2018 vom 21. März 2019 E. 2.4).
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2.1.2. Das Rechtsmittelverfahren setzt das Strafverfahren fort und knüpft an die bereits erfolgten Verfahrenshandlungen, namentlich die bereits durchgeführten Beweiserhebungen, an (BGE 143 IV 408 E. 6.2.1, 288 E. 1.4.1). Es beruht auf den Beweisen, die im Vorverfahren und im erstinstanzlichen Hauptverfahren erhoben worden sind (Art. 389 Abs. 1 StPO). Beweisabnahmen des erstinstanzlichen Gerichts sind im Rechtsmittelverfahren jedoch zu wiederholen, wenn Beweisvorschriften verletzt worden sind, die Beweiserhebungen unvollständig waren oder die Akten über die Beweiserhebungen unzuverlässig erscheinen (Art. 389 Abs. 2 lit. a-c StPO). Sofern die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig erscheint, erhebt das Berufungsgericht zudem auch im Vorverfahren ordnungsgemäss erhobene Beweise noch einmal (Art. 343 Abs. 3 i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO; BGE 143 IV 288 E. 1.4.1; Urteil 6B_484/2012 vom 11. Dezember 2012 E. 1.2; CHRISTIAN DENYS, La jurisprudence récente du Tribunal fédéral en matière d'immédiateté de l'administration des preuves, forumpoenale 5/2018 S. 406). Die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels erscheint für die Urteilsfällung als notwendig im Sinne von Art. 343 Abs. 3 StPO, wenn sie den Ausgang des Verfahrens beeinflussen kann. Dies ist namentlich der Fall, wenn die Beweiskraft des Beweismittels in entscheidender Weise vom Eindruck abhängt, der bei seiner Präsentation entsteht, beispielsweise wenn es in besonderem Masse auf den unmittelbaren Eindruck einer Zeugenaussage ankommt, so etwa wenn Aussage gegen Aussage steht (BGE 140 IV 196 E. 4.4.2 mit Hinweis; Urteile 6B_1469/2017 vom 18. Juni 2018 E. 1.4; 6B_1251/2014 vom 1. Juni 2015 E. 1.3 und E. 1.4; 6B_484/2012 vom 11. Dezember 2012 E. 1.2). Das Gericht verfügt bei der Frage, ob die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels erforderlich ist oder ob eine gerichtlich erfolgte Beweisabnahme gestützt auf Art. 343 Abs. 3 StPO im Berufungsverfahren zu wiederholen ist, über einen Ermessensspielraum (BGE 140 IV 196 E. 4.4.2; Urteil 6B_145/2018 vom 21. März 2019 E. 2.3).
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2.1.3. Der Gesetzgeber hat die Berufung als primäres Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Urteile grundsätzlich als mündliches, kontradiktorisches Verfahren mit Vorladung der Parteien (Art. 405 Abs. 2 und 3 StPO) ausgestaltet. Der kontradiktorische Charakter des mündlichen Berufungsverfahrens sieht die Anwesenheit der Parteien vor, auf die nur in einfach gelagerten Fällen verzichtet werden kann, namentlich wenn der Sachverhalt unbestritten und nicht angefochten und deshalb eine Einvernahme (auch hinsichtlich der Zivilforderung) nicht erforderlich ist (vgl. Art. 405 Abs. 2 StPO; BGE 143 IV 288 E. 1.4.1 f.). Art. 406 StPO zählt abschliessend auf, in welchen Fällen das Berufungsgericht die Berufung im schriftlichen Verfahren behandeln kann. Sobald eine Sachverhaltsfrage zu beurteilen ist, muss grundsätzlich eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden (BGE 139 IV 290 E. 1.1 S. 291 f.). Gleichermassen kann das Berufungsgericht nicht auf die Befragung des Beschuldigten verzichten, wenn der Sachverhalt bestritten ist und Gegenstand der Berufung bildet (BGE 143 IV 288 E. 1.4.4).
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2.2. Die Vorinstanz erwägt, es sei unbestritten, dass der Beschwerdegegner 2 und der Beschwerdeführer am Abend des 29. Mai 2016 beim Schrebergartenabteil des Beschwerdeführers in eine Auseinandersetzung geraten seien. Es sei auch unbestritten, dass der Beschwerdegegner 2 den Beschwerdeführer durch einen Messerstich verletzt habe, wobei dem Messerstich gegenseitige verbale Attacken vorausgegangen seien. Die diesbezüglichen Darstellungen der Parteien würden aber voneinander abweichen. Zeugenaussagen oder andere Beweismittel für den Tathergang fehlten (angefochtener Entscheid S. 12). Damit geht die Vorinstanz zwar zu Recht - zumindest implizit - von strittigen Sachverhaltsfragen und einer "Aussage gegen Aussage"-Situation aus. Sie beschränkt sich indessen auf die Würdigung der Einvernahmeprotokolle. Dabei stellt sie in den Aussagen des Beschwerdegegners 2 verschiedene Widersprüche fest. Namentlich sei unklar, ob der Beschwerdeführer anfänglich ohne Eisenstange auf den Beschwerdegegner 2 zugegangen sei oder ob er sich schon zu Beginn mit der Stange in der Hand genähert habe. Auch in den Aussagen des Beschwerdeführers erkennt die Vorinstanz eine Vielzahl von Widersprüchen, etwa im Zusammenhang mit dem vom Beschwerdegegner 2 verwendeten Messer oder in Bezug auf das "Realisieren der Stichwunde bzw. des Blutes" (angefochtener Entscheid S. 15 ff.). Vor diesem Hintergrund durfte sie nicht auf eine Befragung und eine mündliche Berufungsverhandlung verzichten. Die Befragung der Parteien hätte es ihr insbesondere ermöglicht, einen persönlichen Eindruck von deren Aussageverhalten zu gewinnen und sie mit den offensichtlich bestehenden Widersprüchen und Ungereimtheiten ihrer Tatversion (en) zu konfrontieren. Dies umso mehr, als bereits die erste Instanz auf entsprechend konfrontative Fragen verzichtet hat (kant. Akten, Bezirksgericht, pag. 264 ff.). Der angefochtene Entscheid verletzt folglich Art. 343 Abs. 3 StPO. Die Erledigung im schriftlichen Berufungsverfahren verstösst zudem gegen Art. 406 StPO und Art. 389 Abs. 3 StPO.
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3. Die Beschwerde ist gutzuheissen und das angefochtene Urteil aufzuheben. Die Sache ist zur Erhebung der notwendigen Beweise und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Es besteht bei diesem Ergebnis kein Anlass, auf die weiteren Rügen einzugehen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 10. September 2018 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3. Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- auszurichten.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 12. September 2019
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Denys
 
Der Gerichtsschreiber: Reut
 
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