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Informationen zum Dokument  BGer 9C_340/2019  Materielle Begründung
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BGer 9C_340/2019 vom 10.09.2019
 
 
9C_340/2019
 
 
Urteil vom 10. September 2019
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
 
Gerichtsschreiber R. Widmer.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Gafner,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle Bern,
 
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 23. April 2019
 
(200 18 777 IV und 200 18 778).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die 1959 geborene A.________ bezog seit 1. Oktober 1990 eine ganze Invalidenrente samt vier Kinderrenten. Den Anspruch auf Hilflosenentschädigung lehnte die IV-Stelle Bern wiederholt ab. Nachdem sich die Versicherte im November 2015 erneut zum Bezug einer Hilflosenentschädigung angemeldet hatte, leitete die IV-Stelle auch ein Rentenrevisionsverfahren ein. Sie veranlasste eine polydisziplinäre Abklärung der Versicherten im Ärztlichen Begutachtungsinstitut GmbH (ABI), Basel (Expertise vom 10. April 2018) und holte einen Abklärungsbericht Hilflosenentschädigung ein (vom 12. Juli 2018). Mit Verfügung vom 20. September 2018 hob sie die Invalidenrente auf Ende Oktober 2018 auf. Mit einer weiteren Verfügung vom 3. Oktober 2018 lehnte sie den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung ab.
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B. Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher die Versicherte die Zusprechung einer ganzen Invalidenrente über den 31. Oktober 2018 hinaus und einer angemessenen Hilflosenentschädigung beantragt hatte, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 23. April 2019 ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ die vorinstanzlich gestellten Rechtsbegehren erneuern; eventuell seien die Akten an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie nach zusätzlichen Abklärungen über den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung neu verfüge. Ferner beantragt sie, die IV-Stelle sei zu verpflichten, ihr für das vorinstanzliche Verfahren eine Parteientschädigung in der Höhe von Fr. 7'890.85 zu bezahlen. Des Weiteren ersucht sie um die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege.
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Erwägungen:
 
1. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Begriffe der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 Abs. 1 ATSG) und der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG), die Bestimmungen über den Anspruch auf eine nach dem Invaliditätsgrad abgestufte Invalidenrente (Art. 28 Abs. 2 IVG), die Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG), die Rentenrevision   (Art. 17 Abs. 1 ATSG), die Gründe, die eine Revision der Invalidenrente rechtfertigen (BGE 144 I 103 E. 2.1 S. 105; 141 V 9 E. 2.3 S. 10) sowie die Prüfungsbefugnis von Verwaltung und Gericht bei Vorliegen einer erheblichen Änderung des Sachverhalts (BGE 141 V 9 E. 2.3   S. 11; 117 V 198 E. 4b S. 200) zutreffend dargelegt. Richtig wiedergegeben hat sie ferner die Rechtsprechung zu den bei einer Revision in zeitlicher Hinsicht zu vergleichenden Sachverhalte (BGE 133 V 108  E. 5.4 S. 114) und die Bedeutung ärztlicher Auskünfte für die Belange der Invaliditätsbemessung (BGE 140 V 193 E. 3.2 S. 195). Darauf wird verwiesen.
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3. 
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3.1. Das kantonale Gericht hat sich in medizinischer Hinsicht auf das Administrativgutachten des ABI vom 10. April 2018 gestützt, worin die Experten für eine somatisch angepasste Tätigkeit eine volle Arbeits- und Leistungsfähigkeit attestiert haben. Die Vorinstanz erachtete das polydisziplinäre Gutachten als beweiskräftig. Dabei hielt sie fest, gestützt auf die Feststellungen des Psychiaters des ABI sei jedenfalls in psychischer Hinsicht eine (zeitlich nicht eingrenzbare) Verbesserung des Gesundheitszustandes erstellt. So seien im Gegensatz zur Begutachtung im Zentrum für Medizinische Begutachtung (ZMB) im Jahr 1993 keine hysterischen Verhaltensweisen mit demonstrativem Gangbild mehr erkennbar; der Psychiater des ABI habe sodann keine Schmerzstörung und auch keine andere Diagnose mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit mehr gestellt.
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3.2. Die Beschwerdeführerin wendet ein, die Experten des ABI nähmen lediglich eine abweichende Beurteilung eines im Wesentlichen unverändert gebliebenen Sachverhalts vor. Dies ergebe sich namentlich aus der orthopädischen Einschätzung. Soweit die Vorinstanz dies nur für somatische Aspekte gelten lasse, habe sie den massgebenden Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt. Im Übrigen macht sie geltend, das Gutachten des ABI vom 10. April 2018 sei mit verschiedenen Mängeln behaftet. So übersehe es die Diagnosen des behandelnden Psychiaters Dr. med. B.________ gemäss Bericht vom 19. Juli 2018. Ebenso äussert die Versicherte Kritik an den somatischen Teilgutachten, welche zu Unrecht eine Arbeitsunfähigkeit verneinten.
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Nicht beachtet habe das kantonale Gericht ferner, dass der Beschwerdeführerin, die seit über 15 Jahren eine Invalidenrente beziehe und das 55. Altersjahr zurückgelegt habe, seitens der Invalidenversicherung Hilfe bei der Eingliederung gewährt werden müsse. Sie dürfe nicht auf den Weg der Selbsteingliederung verwiesen werden. Mangelnder Eingliederungswille dürfe ihr nicht entgegen gehalten werden. Die entsprechenden Ausführungen im angefochtenen Entscheid seien offensichtlich unrichtig.
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4. 
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4.1. Die Vorinstanz hat zutreffend dargelegt, dass die Voraussetzungen, unter denen auf ein Administrativgutachten abgestellt werden kann, im vorliegenden Fall erfüllt sind. Was die Beschwerdeführerin gegen die Beweiskraft der Expertise des ABI vorträgt, ist nicht stichhaltig. Stellt der Psychiater in einem Gutachten eine erhebliche Verbesserung des Gesundheitszustandes fest, während die behandelnden Ärzte, wie sehr oft der Fall, unverändert von praktisch voller Arbeitsunfähigkeit ausgehen, schliesst dies mit Blick auf den Unterschied Therapie und Expertise einen Revisionstatbestand keineswegs aus. Der Psychiater des ABI, Dr. med. C.________, hat des Weiteren nicht übersehen, dass der behandelnde Psychiater Dr. med. B.________ aus seiner Sicht invalidisierende psychische Leiden diagnostiziert hat. Vielmehr hat er sich mit dessen Bericht vom 28. September 2017 auseinandergesetzt und dargelegt, weshalb Dr. med. B.________ nicht gefolgt werden kann. Über den neuesten Bericht des Dr. med. B.________ vom 19. Juli 2018 verfügte der Psychiater des ABI nicht, doch sind in diesem keine neuen Aspekte enthalten. Auch an den somatischen Teilgutachten übt die Versicherte lediglich appellatorische Kritik, auf welche das Bundesgericht im Rahmen der gesetzlichen Überprüfungsbefugnis (E. 1 hievor) nicht einzugehen hat; dass beschwerdeweise willkürliche Beweiswürdigung behauptet wird, ändert nichts, da eine genügende Begründung für einen solchen Vorwurf fehlt.
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4.2. Was schliesslich die Selbsteingliederung beftrifft, hat das kantonale Gericht festgehalten, eine solche sei mit Blick auf das Alter und die Dauer des Rentenbezugs nach der Rechtsprechung grundsätzlich nicht mehr zumutbar (Urteil 9C_231/2015 vom 7. September 2015   E. 2). Der Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen setzt indessen die subjektive Eingliederungsfähigkeit voraus (zitiertes Urteil 9C_231/2015 E. 4.). Gestützt auf die Expertise des ABI, dessen diesbezügliche Feststellungen im angefochtenen Entscheid wiedergegeben sind, hat die Vorinstanz festgestellt, der fehlenden Motivation zur Reintegration liege nicht primär eine subjektive Krankheitsüberzeugung zugrunde, sondern zu einem wesentlichen Teil der durch ihr Verhalten erzielte sekundäre Krankheitsgewinn in Form der dauernden Zuwendung durch Familienangehörige; es lägen demnach keine gesundheitsbezogenen Bedenken vor, welche mit dem Angebot beruflicher Massnahmen angemessen begegnet werden könnte. Ausdruck fehlender Eingliederungsbereitschaft sei auch der Umstand, dass die Versicherte weder im Vorbescheid- noch im Beschwerdeverfahren die Gewährung von Eingliederungsmassnahmen beantragt habe. Diesen Erwägungen ist beizupflichten.
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5. Zu prüfen bleiben die erwerblichen Auswirkungen des Gesundheitszustandes. Die Vorinstanz hat die Vergleichseinkommen auf der Grundlage des gleichen Tabellenlohns gemäss Tabelle TA 1, Frauen, Total, Kompetenzniveau 1, der Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik 2014 festgelegt und nach Vornahme eines leidensbedingten Abzugs von 15 % vom Invalideneinkommen einen Invaliditätsgrad von 15 % ermittelt, was aufgrund von Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV zur Aufhebung der ganzen Invalidenrente auf Ende Oktober 2018 führt. Der ausgeglichene Arbeitsmarkt kennt für die Beschwerdeführerin in Betracht fallende, dem Zumutbarkeitsprofil des ABI-Gutachtens (körperlich leichte, vom Sitzen auszuübende Tätigkeit ohne Heben der Arme über 70 Grad) entsprechende Arbeiten, wie die Vorinstanz zutreffend feststellt. Da Hilfsarbeiten keine Berufsausbildung voraussetzen, ist der Umstand, dass die Versicherte über keine Berufskenntnisse verfügt, nicht entscheidend. Ebenso wenig stellt das Alter der 1959 geborenen Beschwerdeführerin einen Hinderungsgrund für die Aufnahme einer Tätigkeit dar, war sie doch zum massgebenden Zeitpunkt des Verfügungserlasses (am 20. September 2018) erst knapp 59-jährig. Somit bleibt es auch in diesem Punkt beim angefochtenen Entscheid.
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6. Das kantonale Gericht hat schliesslich unter Hinweis auf Art. 9 ATSG sowie Art. 42 Abs. 1 und 2 sowie Art. 42ter Abs. 1 Satz 1 IVG und die Rechtsprechung (BGE 133 V 450 E. 7.2 S. 463) die Voraussetzungen dargelegt, welche erfüllt sein müssen, damit eine versicherte Person Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung hat. Aufgrund des Gutachtens des ABI vom 10. April 2018 stellte es fest, dass die Beschwerdeführerin für die alltäglichen Lebensverrichtungen offensichtlich nicht dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedürfe. Ebenso sei ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung im Sinne von Art. 42 Abs. 3 IVG i.V. mit Art. 38 IVV ohne weiteres ausgeschlossen.
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Auch diesen Erwägungen ist beizupflichten. Wenn der Hausarzt der Versicherten zu einem früheren Zeitpunkt erhebliche Dritthilfe als erforderlich erachtet hat, wie beschwerdeweise geltend gemacht wird, kann die Beschwerdeführerin daraus angesichts der auch in dieser Hinsicht klaren ABI-Expertise nichts zu ihren Gunsten ableiten. Schliesslich ist die im Zusammenhang mit der behaupteten Hilflosigkeit wiederholte Kritik am Administrativgutachten nicht stichhaltig.
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7. Die Vorinstanz hat der Beschwerdeführerin die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und die Entschädigung für den unentgeltlichen Rechtsbeistand ausgehend vom Parteikostenersatz von Fr. 4'500.- auf   Fr. 3'663.65, einschliesslich Auslagen und Mehrwertsteuer, festgesetzt. Da die Vorinstanz jedoch ein Honorar für die unentgeltliche Verbeiständung festgelegt hat und Parteikosten nur aus Berechnungsgründen herangezogen hat, steht nur die Höhe der Entschädigung der unentgeltlichen Rechtsvertretung in Frage. Zu deren Anfechtung ist der Vertreter der Versicherten legitimiert. Dementsprechend hat er diese in einem separaten Verfahren (9C_372/2019) beim Bundesgericht angefochten. Auf den Antrag auf Zusprechung einer höheren Parteientschädigung für das kantonale Beschwerdeverfahren ist demgegenüber in diesem Urteil nicht einzutreten.
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8. Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Deren Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das letztinstanzliche Verfahren ist indessen stattzugeben, da die gesetzlichen Voraussetzungen (Art. 64 Abs. 1 BGG) erfüllt sind. Die Beschwerdeführerin wird jedoch auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen. Danach hat sie der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der Lage ist.
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
 
4. Rechtsanwalt Andreas Gafner wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 3'000.- ausgerichtet.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 10. September 2019
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Pfiffner
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer
 
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