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Informationen zum Dokument  BGer 1B_383/2019  Materielle Begründung
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BGer 1B_383/2019 vom 26.08.2019
 
 
1B_383/2019
 
 
Urteil vom 26. August 2019
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Chaix, Präsident,
 
Bundesrichter Fonjallaz, Haag,
 
Gerichtsschreiber Härri.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Konrad Jeker,
 
gegen
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern.
 
Gegenstand
 
Sicherheitshaft,
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts
 
des Kantons Bern, 2. Strafkammer, vom 10. Juli 2019
 
(SK 19 259 ENY).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
Am 21. Dezember 2018 verurteilte das Regionalgericht Oberland A.________ wegen versuchter sexueller Nötigung, versuchter sexueller Handlungen mit einem Kind, mehrfacher Pornographie, mehrfachen Diebstahls und Vergehens gegen das Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe von 2 ½ Jahren, unter Anrechnung der Untersuchungs- und Sicherheitshaft von 479 Tagen. Es schob den Vollzug der Freiheitsstrafe auf und ordnete eine stationäre therapeutische Massnahme an. Zudem auferlegte es A.________ eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je Fr. 30.-- und ein Tätigkeitsverbot. Es verlängerte die Sicherheitshaft um drei Monate.
1
Das Regionalgericht erachtete es als erwiesen, dass A.________, der mit seinem Fahrrad unterwegs gewesen sei, am 30. August 2017 absichtlich eine Kollision mit dem Fahrrad eines 12-jährigen Mädchens herbeigeführt habe. Er habe das Mädchen darauf zu Boden gezerrt, es an den Haaren gerissen und ihm mehrmals in den Bauch getreten. Zudem sei er auf ihm herumgetrampelt. Anschliessend habe er es in das angrenzende Maisfeld gezerrt. Da sich das Mädchen gewehrt habe, habe er seine Jacke auf dessen Gesicht und Mund gedrückt. Er habe das Mädchen drei bis vier Meter in das Maisfeld hineingezogen und während drei bis vier Sekunden gewürgt. Dabei habe er mit dem Ziel gehandelt, am Mädchen sexuelle Handlungen vorzunehmen. Dies habe er jedoch nicht verwirklichen können, da eine Automobilistin angehalten habe, die auf das Geschehen aufmerksam geworden sei.
2
 
B.
 
Gegen dieses Urteil meldete A.________ am 24. Dezember 2018 Berufung an. Am 29. März 2019 verlängerte das Regionalgericht die Sicherheitshaft um weitere drei Monate, d.h. bis zum 21. Juni 2019. Am 23. April 2019 stellte es den Parteien die schriftliche Urteilsbegründung zu und leitete die Akten an das Obergericht des Kantons Bern weiter. Am 14. Mai 2019 reichte A.________ die Berufungserklärung ein. Mit Verfügung vom 16. Mai 2019 ordnete der Verfahrensleiter des Obergerichts (2. Strafkammer) den Verbleib von A.________ in Sicherheitshaft an.
3
 
C.
 
Am 27. Juni 2019 ersuchte A.________ um Entlassung aus der Sicherheitshaft.
4
Mit Verfügung vom 10. Juli 2019 lehnte der Verfahrensleiter des Obergerichts die Haftentlassung ab. Er bejahte den dringenden Tatverdacht und Wiederholungsgefahr. Die Dauer der Haft beurteilte er als verhältnismässig.
5
 
D.
 
A.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, die Verfügung des obergerichtlichen Verfahrensleiters vom 10. Juli 2019 aufzuheben. Er sei umgehend aus der Sicherheitshaft zu entlassen. Eventualiter sei die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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E.
 
Der Verfahrensleiter des Obergerichts hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern hat sich nicht vernehmen lassen.
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Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die Beschwerde in Strafsachen gegeben. Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach 233 i.V.m. Art. 380 StPO und Art. 80 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Der angefochtene Entscheid stellt einen Zwischenentscheid dar, der dem Beschwerdeführer einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken kann. Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen sind ebenfalls erfüllt und geben zu keinen Bemerkungen Anlass.
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Erwägung 2
 
2.1. Gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ist Sicherheitshaft zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat.
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Der Beschwerdeführer stellt den dringenden Tatverdacht nicht in Abrede. Er macht einzig geltend, es fehle am Haftgrund der Wiederholungsgefahr.
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2.2. Nach der Rechtsprechung kann die Anordnung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft wegen Wiederholungsgefahr gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO dem Verfahrensziel der Beschleunigung dienen, indem verhindert wird, dass sich der Strafprozess durch immer neue Delikte kompliziert und in die Länge zieht. Auch die Wahrung des Interesses an der Verhütung weiterer schwerwiegender Delikte ist nicht verfassungs- und grundrechtswidrig. Vielmehr anerkennt Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK ausdrücklich die Notwendigkeit, Beschuldigte an der Begehung strafbarer Handlungen zu hindern, somit Spezialprävention, als Haftgrund. Die Aufrechterhaltung von Haft wegen Wiederholungsgefahr ist zulässig, wenn einerseits die Rückfallprognose ungünstig und anderseits die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natur sind. Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus, um eine Präventivhaft zu begründen.
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Bei den Anforderungen an die Rückfallgefahr besteht eine umgekehrte Proportionalität. Je schwerer die drohenden Taten sind und je höher die Gefährdung der Sicherheit anderer ist, desto geringere Anforderungen sind an die Rückfallgefahr zu stellen. Liegen die Tatschwere und die Sicherheitsrelevanz am oberen Ende der Skala, ist die Messlatte zur Annahme einer rechtserheblichen Rückfallgefahr tiefer anzusetzen.
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Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ist entgegen dem deutschsprachigen Gesetzeswortlaut dahin auszulegen, dass "Verbrechen oder schwere Vergehen" drohen müssen.
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Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO verlangt, dass die beschuldigte Person bereits früher gleichartige Vortaten verübt hat. Auch bei den Vortaten muss es sich um Verbrechen oder schwere Vergehen gegen gleiche oder gleichartige Rechtsgüter gehandelt haben. Die früher begangenen Straftaten können sich aus rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren ergeben. Sie können jedoch auch Gegenstand eines noch hängigen Strafverfahrens bilden, in dem sich die Frage der Untersuchungs- und Sicherheitshaft stellt. Das Gesetz spricht von verübten Straftaten und nicht bloss einem Verdacht, so dass dieser Haftgrund nur bejaht werden kann, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass die beschuldigte Person solche Straftaten begangen hat. Neben einer rechtskräftigen Verurteilung gilt der Nachweis auch bei einem glaubhaften Geständnis oder einer erdrückenden Beweislage als erbracht.
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Unter Umständen kann Wiederholungsgefahr auch angenommen werden, wenn lediglich eine Vortat besteht. Erweisen sich die Risiken für mögliche Opfer als untragbar hoch, kann vom Vortatenerfordernis sogar ganz abgesehen werden (BGE 143 IV 9 E. 2 S. 11 ff. mit Hinweisen).
15
 
Erwägung 2.3
 
2.3.1. Am 25 Januar 2018 erstattete Dr. med. Thomas Claussen ein psychiatrisches Gutachten. Er führt aus, der Beschwerdeführer habe zur Zeit der Taten an einer eher schwergradig kombinierten Persönlichkeitsentwicklung gelitten mit schizoiden Zügen (wenige Tätigkeiten bereiteten Vergnügen, emotionale Kälte und Distanziertheit, geringe Fähigkeit, warme Gefühle anderen gegenüber zu zeigen, einzelgängerische Beschäftigungen, Mangel an Freunden und vertrauensvollen Bezugspersonen, deutlich mangelnde Sensibilität im Erkennen und Befolgen gesellschaftlicher Regeln), anakastischen Zügen (d.h. Zwangshaftigkeit mit übermässigen Zweifeln, übermässiger Beschäftigung mit Details, Rigidität und Eigensinn) sowie ängstlich-vermeidenden Zügen (Überzeugung seiner Minderwertigkeit). Aufgrund der sexuellen Aktivitäten des Beschwerdeführers mit Erniedrigungen und Fesseln (Besuche von Dominastudios) sei von einem Masochismus auszugehen. Oft verspürten die davon betroffenen Personen sowohl bei masochistischen als auch sadistischen Aktivitäten sexuelle Erregung. Es sei daher möglich, dass den Beschwerdeführer Gewaltdarstellungen interessierten, welche zu einem früheren Zeitpunkt bereits bei ihm gefunden worden seien. Anderseits könne dies auch erklären, weshalb er versucht habe, eine Person in seine Gewalt zu bringen und sie mit Tritten und Würgen angegriffen habe. Diagnostisch sei von einer (sado) masochistischen Störung der Sexualpräferenz auszugehen, die mit der Stufe 4 (fixiert und progredient) deutlich ausgeprägt sei.
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2.3.2. Der Beschwerdeführer ist wegen Gewaltpornografie vorbestraft. Das Regionalgericht verurteilte ihn erneut wegen solcher Pornografie. Der Beschwerdeführer ist insoweit geständig. Das Regionalgericht führt aus, bei den in Frage stehenden Bildern und Videos gehe es nicht mehr um leichte, einvernehmliche spielerische Gewalt, sondern um Szenen, die mit Gewalt, Schmerzen und Demütigungen in Zusammenhang stünden. Das Regionalgericht geht von harter Pornografie im Sinne von Art. 197 Abs. 4 StGB aus. Für die dem Beschwerdeführer zur Last gelegte Tat droht diese Bestimmung Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe an. Es handelt sich also um ein Vergehen (Art. 10 Abs. 3 StGB).
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Für die Unterscheidung zwischen schweren und minder schweren Vergehen ist nach der Rechtsprechung als Ausgangspunkt die abstrakte gesetzliche Strafdrohung massgeblich. Für die Annahme eines schweren Vergehens muss eine Freiheitsstrafe (bis zu drei Jahren) drohen. Vergehen wie etwa die Beschimpfung (Art. 177 StGB), bei denen das Gesetz keine Freiheitsstrafe, sondern ausschliesslich Geldstrafe androht, gelten als minder schwer und fallen für die Anordnung von Präventivhaft ausser Betracht. Nebst der abstrakten Strafdrohung sind das betroffene Rechtsgut und der Kontext zu berücksichtigen. Je höherwertiger ein geschütztes Rechtsgut ist, desto eher werden Eingriffe in dieses als schwer zu qualifizieren sein. Dem Kontext, insbesondere der konkret vom Beschuldigten ausgehenden Gefährlichkeit bzw. dem bei ihm vorhandenen Gewaltpotenzial, das aus den Umständen der Tatbegehung hervorgehen kann, ist ebenfalls Rechnung zu tragen, was sich je nachdem zu Lasten oder zu Gunsten des Beschuldigten auswirken kann. Diese Gefährlichkeit lässt sich aufgrund der früheren Straftaten, aber auch anhand der ihm neu vorgeworfenen Handlungen beurteilen, sofern mit genügender Wahrscheinlichkeit erstellt ist, dass er sie begangen hat (BGE 143 IV 9 S. 2.6 S. 14 f. mit Hinweisen).
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Die Strafdrohung für Gewaltpornografie nach Art. 197 Abs. 4 StGB spricht für die Annahme eines schweren Vergehens. Es geht um die sexuelle Integrität und damit ein hochwertiges Rechtsgut. Das Regionalgericht hat den Beschwerdeführer wegen versuchter sexueller Nötigung und versuchter sexueller Handlungen mit einem Kind verurteilt. Dies deutet darauf hin, dass sich der Beschwerdeführer anschickte, Gewaltphantasien, welche durch das pornografische Material stimuliert wurden, gegenüber einem Kind auszuleben und stellt ein Indiz dar für die von ihm ausgehende Gefährlichkeit bzw. das bei ihm bestehende Gewaltpotenzial. Angesichts dessen ist die Gewaltpornografie, bei der namentlich zu sehen ist, wie Menschen mit Stromschlägen gequält wurden, als schweres Vergehen einzustufen.
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Bei den dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Tatbeständen der versuchten sexuellen Handlungen mit einem Kind und der versuchten sexuellen Nötigung handelt es sich um Verbrechen (Art. 187 Ziff. 1 und Art. 189 Abs. 1 i.V.m. Art. 10 Abs. 2 und 22 Abs. 1 StGB). Nach der zutreffenden Ansicht der Vorinstanz dürfen diese als Vortat berücksichtigt werden, da die Beweislage erdrückend ist. Dass der Beschwerdeführer gegenüber dem Mädchen Gewalt angewandt hat, bestreitet er nicht. Die Automobilistin, welche angehalten hatte, sagte als Zeugin aus, sie habe den Beschwerdeführer und das Mädchen 2-3 Meter im Maisfeld angetroffen. Dass der Beschwerdeführer das Mädchen in das Maisfeld gezerrt hat, gab er in einer der Einvernahmen im Übrigen zu. Dass sich der Beschwerdeführer - wie er geltend macht - ohne jedes sexuelle Motiv so verhalten habe und es sich bei der körperlichen Auseinandersetzung mit dem Mädchen nur um den missglückten Versuch gehandelt habe, sich bei diesem für den Zusammenstoss mit dem Fahrrad zu entschuldigen, erscheint schwer glaubhaft. Es kann insoweit auf die einlässliche Beweiswürdigung des Regionalgerichts verwiesen werden (Urteil S. 7 ff., insb. S. 19 ff.).
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Die Vorinstanz hat demnach das Vortatenerfordernis zu Recht als erfüllt betrachtet.
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2.3.3. Nach den Darlegungen des Gutachters muss beim Beschwerdeführer mit weiteren gleichartigen Verbrechen gegen die sexuelle Integrität gerechnet werden, d.h. gewalttätigem Verhalten gegenüber Kindern. Die Sicherheit anderer ist somit erheblich gefährdet. Nach Ansicht des Gutachters besteht eine hohe Rückfallgefahr.
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2.3.4. Unter diesen Umständen durfte die Vorinstanz Wiederholungsgefahr nach Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO bejahen; dies umso mehr, als es sich bei möglichen künftigen Opfern um Kinder handelt, die besonders schutzbedürftig sind (BGE 143 IV 9 E. 2.7 S. 15). Der angefochtene Entscheid verletzt kein Bundesrecht.
23
 
Erwägung 3
 
Die Beschwerde ist daher abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
24
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 26. August 2019
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Chaix
 
Der Gerichtsschreiber: Härri
 
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