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Informationen zum Dokument  BGer 8C_49/2019  Materielle Begründung
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BGer 8C_49/2019 vom 20.08.2019
 
 
8C_49/2019
 
 
Urteil vom 20. August 2019
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
 
Gerichtsschreiberin Berger Götz.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle Uri, Dätwylerstrasse 11, 6460 Altdorf,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Romana Bossi Bisatz,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (aufschiebende Wirkung; kantonales Gerichtsverfahren),
 
Beschwerde gegen die Zwischenverfügung des Obergerichts des Kantons Uri vom 21. Dezember 2018 (OG V 18 55).
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________, geboren 1967, bezog seit 1. November 2005 eine Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung. Als Ergebnis des im Juli 2014 eingeleiteten Revisionsverfahrens setzte die IV-Stelle Uri die Dreiviertelsrente nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens mit Wirkung ab 1. Dezember 2018 auf eine Viertelsrente herab, wobei sie einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung entzog (Verfügung vom 24. Oktober 2018).
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B. Dagegen liess A.________ Beschwerde führen und den Antrag stellen, in Aufhebung der Verfügung sei ihr eine ganze Rente zuzusprechen und dem Rechtsmittel sei die aufschiebende Wirkung wieder zu erteilen. Das Obergericht des Kantons Uri hiess das Begehren um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung mit Zwischenentscheid vom 21. Dezember 2018 gut.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die IV-Stelle, der Zwischenentscheid des Obergerichts des Kantons Uri vom 21. Dezember 2018 sei aufzuheben und die Sache sei an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es über das Gesuch der A.________ um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung neu entscheide.
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Die vorinstanzlichen Akten sind eingeholt worden. Es wird kein Schriftenwechsel durchgeführt.
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Erwägungen:
 
1. Das Bundesgericht prüft die Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 144 V 97 E. 1 S. 99 mit Hinweis).
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1.1. Die Beschwerde an das Bundesgericht ist zulässig gegen Endentscheide (Art. 90 BGG), Teilentscheide (Art. 91 BGG), selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über die Zuständigkeit und den Ausstand (Art. 92 BGG) sowie gegen andere selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. a und b BGG).
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1.1.1. Das Bundesgericht unterscheidet bei Beschwerden gegen Zwischenentscheide betreffend Suspensiveffekt im Zusammenhang mit Rentenstreitigkeiten danach, ob das Begehren von der versicherten Person oder von der Verwaltung gestellt wird. Ficht die versicherte Person einen Zwischenentscheid betreffend Suspensiveffekt an, so wird letztinstanzlich ein endgültiger (rechtlicher) Nachteil regelmässig verneint und das Bundesgericht tritt auf die Beschwerde gegen den entsprechenden Zwischenentscheid nicht ein, da die versicherte Person bei einem Obsiegen in der Hauptsache eine Nachzahlung erhält (vgl. Urteile 9C_854/2018 vom 16. Mai 2019 E. 3.2; 8C_792/2018 vom 28. November 2018; 9C_327/2016 vom 20. Mai 2016; offen gelassen in: Urteil 8C_441/2016 vom 15. Juli 2016). Wendet sich hingegen die Verwaltung gegen einen Entzug der aufschiebenden Wirkung bzw. eine Wiederherstellung derselben durch die Beschwerdeinstanz, so bejaht das Bundesgericht regelmässig einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG. Denn für den Versicherungsträger, der dadurch zur Weiterausrichtung von Leistungen verhalten wird, besteht im Fall einer Rückforderung die Gefahr der Uneinbringlichkeit (Urteile 8C_582/2017 vom 22. März 2018 E. 1.2; 9C_241/2017 vom 14. Juni 2017; 9C_38/2017 vom 21. März 2017 E. 1.2; 9C_856/2016 vom 9. März 2017 E. 1.2 und 8C_507/2013 vom 2. Dezember 2013 E. 1.2).
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1.1.2. Der hier von der IV-Stelle angefochtene Zwischenentscheid stellt die entzogene aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen die rentenherabsetzende Verfügung vom 24. Oktober 2018 wieder her und verpflichtet die IV-Stelle, der Versicherten die bisherige Dreiviertelsrente weiter auszurichten. Die Beschwerde ist somit zulässig, weil der betreffende Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken kann.
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1.2. Verfügungen über die aufschiebende Wirkung stellen Entscheide über vorsorgliche Massnahmen im Sinne von Art. 98 BGG dar, so dass mit der dagegen erhobenen Beschwerde nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden kann. Insoweit besteht eine qualifizierte Rügepflicht, d.h. das Bundesgericht prüft die Verletzung von verfassungsmässigen Rechten nur insofern, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.2 S. 254; vgl. auch BGE 133 IV 286 ff.), andernfalls auf die Beschwerde nicht eingetreten wird.
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Die IV-Stelle macht eine Verletzung der Begründungspflicht gemäss Art. 29 Abs. 2 BV und des Grundsatzes von Treu und Glauben sowie des Willkürverbots nach Art. 9 BV und damit zulässige Beschwerdegründe im Sinne von Art. 98 BGG (vgl. Urteil 8C_983/2012 vom 8. Mai 2013 E. 2) geltend. Auf die Beschwerde ist einzutreten.
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Erwägung 2
 
2.1. Im angefochtenen Zwischenentscheid wird zur Begründung der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung auf die verfahrensleitende Verfügung vom 26. November 2018 verwiesen, mit der das kantonale Gericht der IV-Stelle Gelegenheit gegeben hatte, innert 10 Tagen eine Stellungnahme zum Gesuch um Wiedererteilung der aufschiebenden Wirkung einzureichen, wobei Stillschweigen als Einverständnis ausgelegt werde. Da die IV-Stelle die Frist unbenutzt habe ablaufen lassen, sei dies "androhungsgemäss" als Einverständnis zur Wiedererteilung der aufschiebenden Wirkung auszulegen.
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2.2. Die IV-Stelle bringt dagegen vor, es sei Aufgabe der Rechtsmittelinstanz, aufgrund der vorhandenen Akten zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine vorsorgliche Massnahme erfüllt seien. Für den Entscheid über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung würden dabei die gleichen Regeln wie für deren Entzug gelten. Dies bedeute, dass die Rechtsmittelinstanz unter Berücksichtigung der Prozessaussichten in der Sache selbst prüfen müsse, ob der Entzug der aufschiebenden Wirkung dringend und verhältnismässig sei. Bei Leistungsstreitigkeiten sei insbesondere auch das Interesse der Verwaltung zu berücksichtigen, Rückerstattungsforderungen zu vermeiden. Die Untersuchungsmaxime gelte somit auch bei vorsorglichen Massnahmen. Androhungen von der Art, wie sie das kantonale Gericht gegenüber der IV-Stelle bei Gesuchen um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung praxisgemäss ausspreche, hätten im Sozialversicherungsprozess keinen Platz. Eine solche (antizipierte) Beweiswürdigung sei unhaltbar und damit willkürlich, weil sie den Untersuchungsgrundsatz krass verletze. Die IV-Stelle habe auch dann ein Recht auf einen begründeten Entscheid zum gestellten Gesuch um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, wenn sie auf eine Stellungnahme zum Gesuch verzichte. Faktisch würde das kantonale Gericht der IV-Stelle in solchen Fällen den Weiterzug von Zwischenentscheiden verunmöglichen, weil sie nicht wisse, von welchen sachlichen Überlegungen sich das Gericht bei der Gutheissung des Gesuchs habe leiten lassen. Dieses Vorgehen stelle folglich eine Verletzung der Begründungspflicht (als Teilgehalt des Gehörsanspruchs gemäss Art. 29 Abs. 2 BV) dar. Indem das kantonale Gericht die mit demselben Schreiben vom 26. November 2018 angesetzte Frist zur Stellungnahme zur Sache selber (30 Tage) und diejenige zur Stellungnahme zum Gesuch um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (10 Tage) unterschiedlich lange gestalte, die Einreichung der Verfahrensakten jedoch innert 30 Tagen verlange, verhalte es sich treuwidrig. Dies mache nämlich keinen Sinn, wenn es doch scheinbar vor Ablauf von 30 Tagen über das Gesuch um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung entscheiden wolle.
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Erwägung 3
 
3.1. Die IV-Stelle macht zu Recht geltend, dass die Vorinstanz zur Beurteilung des Antrags der Versicherten auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eine Interessenabwägung vorzunehmen hatte. Dazu war das kantonale Gericht mit Blick auf die im vorinstanzlichen Beschwerdeverfahren geltende Untersuchungsmaxime auch nach Ausbleiben einer Stellungnahme der Verwaltung verpflichtet. Nebst einer Interessenabwägung kann auch auf eine Prozessprognose (Hauptsachenprognose) abgestellt werden, sofern sie eindeutig ist (vgl. BGE 130 II 149 E. 2.2 S. 155; Urteile 2C_320/2019 vom 12. Juli 2019 E. 2.1 und 1C_43/2019 vom 3. Mai 2019 E. 3, je mit Hinweisen). Zu berücksichtigen ist jedoch, dass es sich bei der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung um eine vorsorgliche Massnahme handelt, die lediglich auf einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage beruht, nur vorläufige Geltung hat und mit dem Erlass der Endverfügung (bzw. im Beschwerdeverfahren mit dem Erlass des Endentscheids) dahinfällt (Urteil 9C_482/2015 vom 22. September 2015 E. 3.2 mit Hinweisen). Damit kann der Versicherungsträger jederzeit um Aufhebung der vorsorglichen Massnahme ersuchen (vgl. BGE 117 V 193; UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, N. 43 zu Art. 56 ATSG).
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3.2. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin kann nun aber nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass die Vorinstanz eine solche Interessenabwägung nicht vorgenommen hätte. Eine solche Interessenabwägung war ihr in Anbetracht der von der Versicherten mit ihrer vorinstanzlichen Beschwerde eingereichten zahlreichen Unterlagen grundsätzlich auch vor der Aktenzustellung durch den Versicherungsträger möglich. Die unterschiedliche Fristansetzung für die Stellungnahmen zur Sache und zur aufschiebenden Wirkung ist schon aus diesem Grund nicht als willkürlich zu qualifizieren.
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3.3. Es steht zwar ausser Frage, dass das kantonale Gericht grundsätzlich auch einen Zwischenentscheid über vorsorgliche Massnahmen begründen muss, selbst wenn dieser nur vorläufige Geltung beansprucht. Allerdings kann hier nicht ausser Acht bleiben, dass die Vorinstanz die IV-Stelle in der verfahrensleitenden Verfügung vom 26. November 2018 darüber in Kenntnis gesetzt hatte, sie werde Stillschweigen zum Gesuch der Versicherten um Wiedererteilung der aufschiebenden Wirkung als Einverständnis auslegen. Da das kantonale Gericht dem Stillschweigen somit einen eigenen Bedeutungsgehalt eingeräumt hatte und sich die IV-Stelle innert Frist nicht zur vorsorglichen Massnahme geäussert hatte, durfte es von übereinstimmenden Parteianträgen ausgehen. Einerseits ist mit der IV-Stelle - wie bereits ausgeführt (E. 3.1 hiervor) - nicht daran zu zweifeln, dass es bei dieser Ausgangslage dennoch gehalten war, eine Beurteilung der Rechts- und Sachlage vorzunehmen, die es dem Zwischenentscheid zugrunde legen musste. Andererseits aber durfte es infolge Verzichts der IV-Stelle auf eine Stellungnahme zulässigerweise deren Zustimmung zur beantragten vorsorglichen Massnahme annehmen, womit es ohne Verletzung des Vertrauensgrundsatzes davon ausgehen konnte, dass eine schriftliche Darlegung der Entscheidgründe bei ohnehin fehlendem Anfechtungsinteresse der Parteien obsolet sei. Im Übrigen sieht Art. 20 lit. a der kantonalen Verordnung über die Verwaltungsrechtspflege (VRPV) vom 23. März 1994 (Urner Rechtsbuch 2.2345) vor, dass die Behörde ihre Verfügung ohne Begründung eröffnen kann, soweit den Begehren voll entsprochen wird und weder die Parteien noch betroffene Dritte eine Begründung verlangen. Eine Verletzung der Begründungspflicht liegt mit Blick auf diese spezielle Ausgangslage nicht vor. Der Vorwurf der IV-Stelle, das kantonale Gericht würde ihr faktisch den Weiterzug von Zwischenentscheiden verunmöglichen, zielt bei diesem Bedeutungsgehalt der ausgebliebenen Stellungnahme ins Leere, hätte die Verwaltung doch die Möglichkeit gehabt, sich abschlägig zur beantragten Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu äussern. In diesem Fall wäre die Vorinstanz verpflichtet gewesen, ihre Entscheidmotive schriftlich darzulegen. Auch in der vorliegend zu beurteilenden Konstellation konnte eine schriftliche Begründung von ihr erwartet werden. Dass sie darauf verzichtet hat, ist jedoch aus den angeführten Gründen nicht als Verletzung verfassungsmässiger Rechte zu qualifizieren.
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4. Die Beschwerdeführerin wird bei diesem Verfahrensausgang kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Uri, Verwaltungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 20. August 2019
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz
 
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