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Informationen zum Dokument  BGer 1B_275/2019  Materielle Begründung
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BGer 1B_275/2019 vom 12.08.2019
 
 
1B_275/2019
 
 
Urteil vom 12. August 2019
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Chaix, Präsident,
 
Bundesrichter Merkli, Kneubühler,
 
Gerichtsschreiber Uebersax.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
Staats- und Jugendanwaltschaft des Kantons Glarus,
 
Postgasse 29, 8750 Glarus.
 
Gegenstand
 
Strafverfahren; Entsiegelung,
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Kantonsgerichts
 
Glarus, Zwangsmassnahmengericht, vom 29. Mai 2019
 
(SG.2019.00052).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Am 20. April 2019 führte die Kantonspolizei Glarus am Wohnort von A.________ und deren Lebenspartner B.________ eine Hausdurchsuchung wegen des Verdachts von Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittel- und das Heilmittelgesetz durch. Dabei wurde unter anderem ein A.________ gehörendes Mobiltelefon der Marke iPhone sichergestellt. Die beschuldigte A.________ verlangte die Siegelung des entsprechenden Datenträgers. Am 2. Mai 2019 beantragte die Staats- und Jugendanwaltschaft des Kantons Glarus beim Zwangsmassnahmengericht am Kantonsgericht Glarus die Entsiegelung des Datenträgers.
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B. Am 29. Mai 2019 traf der Präsident des Zwangsmassnahmengerichts als Einzelrichter die folgende Verfügung:
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"1. Das Mobiltelefon der Marke iPhone mit der IMEI-Nummer... wird mit Wirkung ab 13. Juni 2019 entsiegelt.
3
..."
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, die Hausdurchsuchung und die Sicherstellung des Mobiltelefons seien rechtmässig erfolgt. Die Beschuldigte bringe vor, auf dem versiegelten Mobiltelefon befänden sich besonders schützenswerte Daten wie unter anderem Arztzeugnisse, Krankmeldungen und Betriebsgeheimnisse. Um abzuklären, ob der versiegelte Datenträger verfahrensrelevante Informationen enthalte, müsse dessen Inhalt geprüft werden. Entgegen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sei die entsprechende Aussonderung der Daten nicht vom Zwangsmassnahmengericht vorzunehmen, sondern den Strafverfolgungsbehörden zu übertragen, die ebenfalls dem Amtsgeheimnis unterstünden.
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C. Mit Beschwerde an das Bundesgericht vom 4. Juni 2019 macht A.________ geltend, die Triage der Daten durch die Anklagebehörde widerspreche der bundesgerichtlichen Rechtsprechung und sei daher bundesrechtswidrig. Es sei nicht zulässig, dass die Untersuchungsbehörden Kenntnis von nicht verfahrensrelevanten und der privaten Geheimsphäre unterliegenden Daten erhielten.
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Die Staats- und Jugendanwaltschaft beantragt, auf die Beschwerde nicht einzutreten; eventuell sei sie abzuweisen. Das Kantonsgericht verzichtete auf eine Stellungnahme.
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D. Mit verfahrensleitender Verfügung vom 25. Juni 2019 erteilte der Instruktionsrichter der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts der Beschwerde die aufschiebende Wirkung.
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Erwägungen:
 
1. Angefochten ist eine kantonal letztinstanzliche Verfügung über die Entsiegelung von Daten, die in Anwendung von Art. 246 ff. StPO in einem Strafverfahren sichergestellt wurden. Dagegen steht grundsätzlich die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht nach Art. 78 ff. BGG offen. Es handelt sich um einen Zwischenentscheid, der einen auch durch einen Endentscheid in Strafsachen nicht mehr korrigierbaren möglichen Eingriff in die Geheimsphäre der Beschwerdeführerin mit sich bringt. Damit droht dieser ein nicht wieder gutzumachender Nachteil, weshalb die Beschwerde zulässig ist (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG; vgl. BGE 135 I 261 E. 1.2 S. 263 mit Hinweisen; nicht amtl. publ. E. 1 von BGE 144 IV 74 und E. 2.1 von BGE 143 IV 270). Die Beschwerdeführerin ist Inhaberin des sichergestellten Mobiltelefons sowie der vom angefochtenen Entsiegelungsentscheid betroffenen Daten. Sie ist daher zur Beschwerde legitimiert (vgl. Art. 81 Abs. 1 BGG). Mit der Beschwerde an das Bundesgericht kann namentlich die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 Abs. 1 lit. a BGG).
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Erwägung 2
 
2.1. Die Staats- und Jugendanwaltschaft macht geltend, die Beschwerdeführerin stelle keinen rechtsgenüglichen Antrag und ihre Beschwerdebegründung erfülle die gesetzlichen Anforderungen nicht.
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2.2. Nach Art. 42 Abs. 1 BGG haben die Rechtsschriften an das Bundesgericht unter anderem die Begehren und deren Begründung zu enthalten. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), prüft jedoch unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) nur die geltend gemachten Vorbringen, sofern rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 142 I 135 E. 1.5 S. 144).
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2.3. Die eingereichte Beschwerdeschrift enthielt in erster Linie prozessuale Begehren wie ein solches auf Erteilung der aufschiebenden Wirkung und auf Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Zwar stellte die Beschwerdeführerin keinen ausdrücklichen Antrag in der Sache und ging die von ihr in Aussicht gestellte Beschwerdeergänzung nie beim Bundesgericht ein. Indessen geht aus den Ausführungen in der Beschwerdeschrift hinreichend klar hervor, dass die Beschwerdeführerin insoweit die Aufhebung des angefochtenen Entscheids anstrebt, als das Zwangsmassnahmengericht davon absieht, selbst die Triage der zu entsiegelnden Daten vorzunehmen. Mit Blick darauf, dass es sich um eine Laienbeschwerde handelt, liegt damit ein ausreichendes Rechtsbegehren vor.
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2.4. Analoges gilt für die Beschwerdebegründung. Daraus geht nachvollziehbar hervor, dass die Beschwerdeführerin die Bundesrechtswidrigkeit des angefochtenen Entscheids rügt. Diese sieht sie in einer Verletzung des Grundsatzes der Trennung von Anklage und Gericht. Das genügt für eine Laienbeschwerde. Im Übrigen wäre die Beschwerde nur schon deswegen zulässig, weil der angefochtene Entscheid diesbezüglich offensichtlich gegen Bundesrecht verstösst (vgl. die nachfolgende E. 3). Soweit die Beschwerdeführerin sonstige Rügen, wie etwa die Unzulässigkeit der Hausdurchsuchung oder der Siegelung als solche, erhebt, genügen ihre Ausführungen hingegen nicht und kann auf die Beschwerde nicht eingegangen werden.
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Erwägung 3
 
3.1. Die Staats- und Jugendanwaltschaft macht geltend, die Vorinstanz vermische Sicherstellung, Siegelung, Entsiegelung und Beschlagnahme, ihr Entscheid sei aber bei richtiger Lesart dennoch mit dem Bundesrecht vereinbar. Indessen setzt sich das Zwangsmassnahmengericht bewusst und ausdrücklich in Widerspruch zur bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Der angefochtene Entscheid lässt sich daher insoweit nicht korrigierend ganz oder teilweise bundesrechtskonform auslegen.
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3.2. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind Aufzeichnungen und Gegenstände, die nach Angaben der Inhaberin oder des Inhabers wegen eines Aussage- oder Zeugnisverweigerungsrechts oder aus anderen Gründen nicht durchsucht oder beschlagnahmt werden dürfen, zu versiegeln und dürfen von den Strafbehörden weder eingesehen noch verwendet werden (Art. 248 Abs. 1 StPO). Stellt die Staatsanwaltschaft im Vorverfahren ein Entsiegelungsgesuch, hat das Zwangsmassnahmengericht im Entsiegelungsverfahren zu prüfen, ob schutzwürdige Geheimnisinteressen oder andere gesetzliche Entsiegelungshindernisse einer Durchsuchung entgegenstehen (Art. 248 Abs. 2-4 StPO; vgl. BGE 144 IV 74 E. 2.2 S. 77; 142 IV 372 E. 3 S. 374 ff.; 141 IV 77 E. 4.1 S. 81).
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3.3. In E. 3.4 des angefochtenen Entscheids begründet das Zwangsmassnahmengericht ausdrücklich, weshalb es von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (dazu ausführlich BGE 142 IV 372 E. 3.1 S. 374 f.) abweicht und die Kantonspolizei als Organ der Strafverfolgungsbehörden damit beauftragt, die angeordnete Aussonderung vorzunehmen. Die vorgebrachten Argumente überzeugen jedoch nicht. Der Wortlaut von Art. 248 StPO ist in dem Sinne doppelt eindeutig, als er festhält, dass auszusondernde Aufzeichnungen von den Strafbehörden nicht nur nicht verwendet, sondern auch nicht eingesehen werden dürfen (Abs. 1) und dass über ein Entsiegelungsgesuch im Vorverfahren das Zwangsmassnahmengericht bzw. ansonsten das Gericht, bei dem der Fall hängig ist, zu entscheiden hat (Abs. 3); das Gericht kann dafür überdies eine sachverständige Person beiziehen (Abs. 4), wird also gesetzlich ermächtigt, sich Unterstützung zu organisieren. Zwar unterstehen sowohl die Strafverfolgungsbehörden als auch das Zwangsmassnahmengericht der Anzeigepflicht nach Art. 302 Abs. 1 StPO sowie dem Amtsgeheimnis gemäss Art. 320 Ziff. 1 StGB. Die in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung bestätigte Zuständigkeit des Zwangsmassnahmengerichts für die Aussonderung dient aber nicht allein der Verhinderung von Zufallsfunden, sondern der Wahrung der unter verfassungsrechtlichem Schutz stehenden Privat- und Geheimsphäre (vgl. Art. 13 BV). Nur schon daher rechtfertigt es sich, dass ein Gericht und nicht eine Strafverfolgungsbehörde über die Massgeblichkeit sichergestellter Informationen entscheidet. In der Literatur wird dazu ausdrücklich festgehalten, "Ziel des Entsiegelungsverfahrens" sei es, "zu verhindern, dass Informationen zur Kenntnis der Strafbehörden gelangen, wenn die diesbezüglichen Voraussetzungen aufgrund der dem Gesetz inhärenten Interessenabwägungen nicht gegeben" seien (THORMANN/BRECHBÜHL, in: Niggli et al. [Hrsg.], Schweizerische Strafprozessordnung, Basler Kommentar, 2. Aufl., 2014, Art. 248 N. 40) bzw. "der Zweck der Siegelung" setze voraus, "dass ein neutraler, d.h. mit der Sachverhaltsermittlung nicht befasster, Richter über die Zulässigkeit der Durchsuchung vor deren Durchführung" entscheide, und die Zuständigkeit des Zwangsmassnahmengerichts erfülle diese Voraussetzung (THORMANN/BRECHBÜHL, a.a.O., Art. 248 N. 30). Dass hierbei allenfalls zwischen der Anordnung und der Vornahme der Entsiegelung zu unterscheiden sei, wird nicht ausgeführt.
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Inwiefern eine Aussonderung durch die Untersuchungsbehörden sodann effizienter und kostengünstiger sein sollte, wie die Vorinstanz ebenfalls geltend macht, ist nicht ersichtlich. Der Aufwand ist für das Zwangsmassnahmengericht grundsätzlich derselbe, wobei es, wie dargelegt, gesetzlich ermächtigt ist, sachverständige Unterstützung beizuziehen. Im Übrigen würde sich selbst ein gewisser Mehraufwand mit Blick auf die zu schützenden Privat- und Geheimhaltungsinteressen rechtfertigen. Das steht nicht im Widerspruch zu Art. 43a Abs. 5 BV, wonach staatliche Aufgaben bedarfsgerecht und wirtschaftlich erfüllt werden müssen. Die staatliche Aufgabenerfüllung steht so oder so unter dem Vorbehalt der Beachtung der Grundrechte (vgl. Art. 35 Abs. 1 und 2 BV) und der für deren Verwirklichung erforderlichen organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen (dazu etwa BERNHARD WALDMANN, in Waldmann et al. [Hrsg.], Bundesverfassung, Basler Kommentar, 2015, Art. 35 N. 49), was von Art. 43a Abs. 5 BV nicht eingeschränkt wird. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung ist daher wohl begründet und es besteht kein Anlass, davon abzuweichen. Im angefochtenen Entscheid wird denn auch keinerlei wissenschaftliche Kritik daran angerufen. Im Gegenteil wird im Schrifttum im Einklang damit etwa ausdrücklich festgehalten, "der Entsiegelungsrichter" (und nicht die Strafverfolgungsbehörden) habe, "sofern notwendig, die geheimnisgeschützten Aufzeichnungen und Gegenstände auszusondern" (THORMANN/BRECHBÜHL, a.a.O., Art. 248 N. 41).
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3.4. Der angefochtene Entscheid verstösst somit gegen Bundesrecht. Das Zwangsmassnahmengericht wird die Prüfung, wieweit das sichergestellte Mobiltelefon auszusondernde Informationen enthält, sowie die allfällige Aussonderung solcher Informationen selbst durchzuführen und in der Folge einen neuen Entscheid in der Sache zu fällen haben. Dabei wird das Gericht alle Daten, deren Verfahrensrelevanz die Beschwerdeführerin in Frage stellt, konkret dahingehend zu prüfen haben, ob sie entsiegelt werden dürfen.
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4. Die Beschwerde erweist sich als begründet und ist gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben. Die Streitsache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen.
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Bei diesem Verfahrensausgang sind für das bundesgerichtliche Verfahren keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Damit ist das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege im bundesgerichtlichen Verfahren als gegenstandslos abzuschreiben. Eine Parteientschädigung fällt praxisgemäss ausser Betracht, nachdem die Beschwerdeführerin nicht anwaltlich vertreten ist und im vorliegenden Fall kein besonderer Aufwand angefallen und belegt ist (vgl. BGE 133 III 439 E. 4 S. 446; 129 V 113 E. 4.1 S. 116).
20
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, und die Verfügung des Kantonsgerichts Glarus, Zwangsmassnahmengericht, vom 29. Mai 2019 wird aufgehoben. Die Streitsache wird an das Kantonsgericht Glarus, Zwangsmassnahmengericht, zurückgewiesen zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen.
 
2. Es werden keine Kosten erhoben.
 
3. Das Gesuch um Erteilung der unentgeltlichen Rechtspflege wird als gegenstandslos abgeschrieben.
 
4. Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staats- und Jugendanwaltschaft des Kantons Glarus und dem Kantonsgericht Glarus, Zwangsmassnahmengericht, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 12. August 2019
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Chaix
 
Der Gerichtsschreiber: Uebersax
 
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