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Informationen zum Dokument  BGer 9C_282/2019  Materielle Begründung
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BGer 9C_282/2019 vom 31.07.2019
 
 
9C_282/2019
 
 
Urteil vom 31. Juli 2019
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
 
Bundesrichter Meyer, Parrino,
 
Gerichtsschreiber Fessler.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________, handelnd durch seine Eltern B.________ und C.________, und diese vertreten durch Sail GmbH und Rechtsanwalt Dr. Patrick Sutter,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle Schwyz, Rubiswilstrasse 8, 6438 Ibach,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz vom 14. März 2019 (I 2018 82).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Der 2013 geborene A.________ leidet an frühkindlichem Autismus (ICD-10 F84.0). Nach Abklärungen sprach ihm die IV-Stelle Schwyz mit Verfügung vom 11. Juli 2018 vom 1. Januar bis 31. Dezember 2017 eine Hilflosenentschädigung für leichte Hilflosigkeit und ab 1. Januar 2018 für mittelschwere Hilflosigkeit zu. Weiter stellte sie fest, dass die Voraussetzungen für die Zusprechung eines Intensivpflegezuschlags nicht erfüllt seien.
1
B. Die Beschwerde des A.________ mit dem hauptsächlichen Rechtsbegehren, es sei ihm eine Hilflosenentschädigung für schwere Hilflosigkeit sowie ein Intensivpflegezuschlag zuzusprechen, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz mit Entscheid vom 14. März 2019 ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, der Entscheid vom 14. März 2019 sei aufzuheben; es sei ihm eine Entschädigung wegen Hilflosigkeit schweren Grades (inkl. Intensivpflegezuschlag) zuzusprechen, eventualiter die Sache für zusätzliche Sachverhaltsabklärungen und den Erlass eines neuen Entscheids an die Vorinstanz zurückzuweisen, unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
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Die IV-Stelle Schwyz ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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A.________ hat sich zu den Ausführungen der IV-Stelle geäussert.
5
 
Erwägungen:
 
1. 
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1.1. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. wegen Verletzung von Bundesrecht erhoben werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig (willkürlich; BGE 142 II 433 E. 4.4 S. 444) ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106   Abs. 1 BGG; zur Rüge- und Begründungspflicht der Parteien: Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 138 I 171 E. 1.4 S. 176; 133 II 249 E. 1.4.1 und E. 1.4.2 S. 254).
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1.2. In der Beschwerde wird eine "Bestandesaufnahme" von D.________, Leiterin Innere Medizin Spital E.________, im Wortlaut wiedergegeben. Diese nach Erlass des angefochtenen Entscheids verfassten Darlegungen haben ausser Acht zu bleiben (Art. 105 Abs. 1 BGG; BGE 140 V 543 E. 3.2.2.2 S. 548). Soweit die fragliche "Bestandesaufnahme" als (integrierender) Bestandteil der Beschwerde zu betrachten ist, gelten die Begründungsanforderungen nach Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG (Urteil 9C_748/2014 vom 14. April 2015 E. 2.2.2). Die Ausführungen von D.________ nehmen indessen nicht Bezug auf die vorinstanzlichen Erwägungen und zeigen nicht auf, inwiefern diese (Bundes-) Recht verletzen sollen. Darauf ist somit nicht einzugehen.
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1.3. Im Weitern kann offenbleiben, ob die in diesem Verfahren eingereichte Broschüre "Stellt Autismus ins Leben" (Erscheinungsdatum: März 2018; Hrsg.: Sail Gmbh, Trachslau) ein unzulässiges Novum im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG ist (Urteil 9C_748/2014 vom 14. April 2015 E. 2.1). Es ändert nichts am Ergebnis.
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2. Streitgegenstand bildet der Anspruch des minderjährigen Beschwerdeführers auf eine Hilflosenentschädigung für schwere Hilflosigkeit   (Art. 42 IVG und Art. 37 Abs. 1 IVV) sowie einen Intensivpflegezuschlag (Art. 42ter Abs. 3 IVG und Art. 39 IVV) für die Zeit ab 1. Januar 2017.
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3. Im angefochtenen Entscheid werden die für die Beurteilung der Streitsache massgeblichen Rechtsgrundlagen richtig wiedergegeben. Darauf wird verwiesen. Zu erwähnen ist namentlich die Rechtsprechung zu den Anforderungen, welchen Abklärungen zur Hilflosigkeit in den sechs alltäglichen Lebensverrichtungen (BGE 127 V 94 E. 3c S. 97) und zum zusätzlichen Betreuungsbedarf zu genügen haben (vgl. BGE 140 V 543 E. 3.2.1 S. 547 und Urteil 8C_741/2017 vom 17. Juli 2018 E. 5.1).
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4. Die Vorinstanz hat erwogen, gemäss dem Bericht über die Abklärung an Ort und Stelle vom 5. Februar 2018 und der Stellungnahme der Abklärungsperson zum Einwand gegen den Vorbescheid sei ab Januar 2016 ein relevanter Unterstützungsbedarf in den Lebensbereichen "An-/Auskleiden", "Essen", "Verrichten der Notdurft" und (ab Januar 2018) "Fortbewegung" sowie ein persönlicher Überwachungsbedarf anerkannt. Für den Bereich "Aufstehen/Absitzen/Abliegen" hätten die Eltern des Versicherten bei der Anmeldung für eine Hilflosenentschädigung die Frage nach einem regelmässigen Unterstützungsbedarf verneint, ebenso analog bei der Befragung durch die Abklärungsperson. Sodann werde vor dem 6. Altersjahr der Bereich "Körperpflege" grundsätzlich ausgeklammert, da praxisgemäss bei gesunden Kindern gleichen Alters ebenfalls eine altersentsprechende Hilfe anfalle. Es sei somit nicht zu beanstanden, dass in der angefochtenen Verfügung keine Hilflosenentschädigung für schwere Hilflosigkeit zugesprochen worden sei. Im Weitern habe die Abklärungsperson einen täglichen Betreuungsmehraufwand im Sinne von Art. 42ter Abs. 3 IVG und Art. 39 IVV von drei Stunden und fünf Minuten ermittelt. Auch wenn in einem einzelnen Bereich unter Umständen ein etwas höherer Aufwand vertretbar wäre, reiche dies noch nicht aus, um die Schwelle von mindestens vier Stunden zu erreichen. Abgesehen davon sei der Abklärungsperson bei der Evaluierung des Mehraufwandes ein erheblicher Beurteilungsspielraum einzuräumen.
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5. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Die Vorinstanz habe ohne Begründung auf die beantragte Befragung von D.________ als Expertin in Autismusfragen verzichtet. Die Rüge ist im Zusammenhang mit seinem hauptsächlichen Vorbringen zu sehen, der Bericht über die Abklärung an Ort und Stelle und die Stellungnahme der Abklärungsperson zum Einwand gegen den Vorbescheid stellten keine tragfähige Grundlage dar für die Beurteilung der Hilflosigkeit und des zusätzlichen Betreuungsbedarfs. Allgemein könne, namentlich aufgrund der enormen Vielfalt und der Schwere der Störung Autismus bezogen auf den einzelnen Betroffenen und den Auswirkungen auf das tägliche Leben, die Hilfsbedürftigkeit von Personen mit einer solchen Behinderung nur durch besonders geschulte bzw. ausgebildete Fachpersonen auf der Basis der einschlägigen spezifischen Assessements bestimmt werden, was ein entsprechendes (psychologisches) Fachwissen voraussetze. Es komme dazu, dass die Bezugspersonen in den allermeisten Fällen nur unzureichend über Autismus und seine Darstellung und Ausprägung informiert seien. Es werde Eltern geben, die nie in der Lage sein würden, die Defizite ihrer Kinder wahrzunehmen und zu benennen. Ihre Aussagen müssten entsprechend hinterfragt werden. Das treffe auf seine Eltern zu. Aus sprachlichen und kulturellen Gründen sowie mangels autismusspezifischer Kenntnisse sei deren Befragung nicht ausreichend, um festzustellen, "was das Kind als Hilfe braucht".
13
6. 
14
6.1. Die Vorinstanz hat zur Kritik an der geltenden Gerichts- und Verwaltungspraxis zur Bemessung der Hilflosigkeit (Art. 37 IVV) und des zusätzlichen Betreuungsbedarfs (Art. 39 IVV) erwogen, die unlängst in Kraft getretene Verordnung des BSV vom 17. Oktober 2018 über den Pilotversuch "Intensive Frühintervention bei Kindern mit frühkindlichem Autismus" (SR 831.201.74) lasse darauf schliessen, dass die Aufsichtsbehörde einen Handlungsbedarf anerkenne. Es sei nicht ausgeschlossen, dass in absehbarer Zeit andere Abklärungsmethoden, wie z.B. Beurteilung durch entsprechend ausgebildete Fachpersonen der Psychologie, als massgebend erklärt werden, was indes derzeit nach der aktuellen Praxis nicht der Fall sei. Es sei daher nicht zu beanstanden, dass die Beschwerdegegnerin die betreffenden Abklärungen nach der bisherigen Vorgehensweise vorgenommen habe.
15
 
Erwägung 6.2
 
6.2.1. Weder Gesetz noch Rechtsprechung verlangen, dass die Abklärung der Hilfsbedürftigkeit und des zusätzlichen Betreuungsbedarfs im Hinblick auf den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung und allenfalls einen Intensivpflegezuschlag durch eine Person durchzuführen ist, die in Bezug auf die der Behinderung zugrunde liegende Erkrankung über ein spezifisches Fachwissen verfügt. Namentlich enthält das Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH) keine Sonderregelung bei Autismus. Es genügt grundsätzlich, dass die Berichterstatterin oder der Berichterstatter "Kenntnis der örtlichen und räumlichen Verhältnisse sowie der aus den seitens der Mediziner gestellten Diagnosen sich ergebenden Beeinträchtigungen und Hilfsbedürftigkeiten" hat (Urteil 8C_741/2017 vom 17. Juli 2018 E. 5.1). Daran ist auch mit Blick auf das Nachstehende festzuhalten (zu den Voraussetzungen für eine Praxisänderung BGE 141 II 297 E. 5.5.1 S. 303; 137 V 417 E. 2.2.2 S. 422; je mit Hinweisen).
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6.2.2. Die Art der Erkrankung bestimmt massgeblich das Ausmass der Hilfsbedürftigkeit und eines allfälligen zusätzlichen Betreuungsbedarfs. Bestehen diesbezüglich Unklarheiten insbesondere über die Auswirkungen der gesundheitlichen Beeinträchtigung auf die alltäglichen Lebensverrichtungen, sind Rückfragen an die medizinischen Fachpersonen nicht nur zulässig, sondern notwendig (Urteil 8C_741/2017 vom 17. Juli 2018 E. 5.1). Steht ein psychisches Leiden im Vordergrund und widerspricht das Ergebnis der Abklärung an Ort und Stelle den fachmedizinischen Feststellungen zur Hilfsbedürftigkeit und zum zusätzlichen Betreuungsbedarf, ist diesen grundsätzlich grösseres Gewicht beizumessen (vgl. Urteile 8C_157/2017 vom 6. November 2017 E. 4.3, in: SVR 2018 IV Nr. 7 S. 23, und 9C_201/2011 vom 5. September 2011 E. 2 mit Hinweisen, in: SVR 2012 IV Nr. 19 S. 86).
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Der Beschwerdeführer leidet an frühkindlichem Autismus nach ICD-10 F84.0. Dabei handelt es sich um eine psychische Erkrankung aus dem Formenkreis der Autismus-Spektrum-Störungen im Sinne von Ziffer 405 Anhang GgV, unter welchem Titel die Invalidenversicherung denn auch die Behandlung übernimmt (vgl. Art. 13 f. IVG). Im Einwand gegen den Vorbescheid nahmen D.________ (vgl. E. 5 hiervor) und eine Psychologin FSP ausführlich Stellung zum Bericht über die Abklärung an Ort und Stelle. Dabei wiesen sie auf ihre autismusspezifischen Kenntnisse hin und hielten fest, selber ergänzende Abklärungen vorgenommen zu haben. Sie kamen zum Ergebnis, dass die Hilflosigkeit des Versicherten im Vergleich zu neurotypischen Gleichaltrigen als schwer zu "klassifizieren" sei. Des Weitern sei aufgrund der intensiven Betreuung von einem "Intensivpflegezuschlag von mindestens 6 Stunden" auszugehen. Die Vorinstanz hat sich zu den in der Beschwerde wortwörtlich wiedergegebenen Ausführungen der beiden Fachpersonen Im Einwand gegen den Vorbescheid nicht geäussert, sondern bei der Frage, ob Anspruch auf einen Intensivpflegzuschlag bestehe, auf die Vorbringen der IV-Stelle in ihrer Vernehmlassung verwiesen.
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Unter diesen Umständen durfte die Beschwerdegegnerin nicht ohne Weiteres auf den Bericht über die Abklärung an Ort und Stelle und die Stellungnahme der Abklärungsperson zum Einwand gegen den Vorbescheid abstellen, um die Hilfsbedürftigkeit des Beschwerdeführers und den zusätzlichen Betreuungsbedarf abschliessend festzusetzen. Vielmehr hätte sie eine Fachperson in Autismus in die Abklärungen miteinbeziehen oder zumindest das Abklärungsergebnis einer solchen Fachperson zur Stellungnahme unterbreiten müssen.
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6.3. Die Sache ist somit nicht spruchreif. Die Beschwerdegegnerin wird im Sinne der vorstehenden Erwägungen ergänzende Abklärungen vorzunehmen haben. Danach wird sie über den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Hilflosenentschädigung (für schwere Hilflosigkeit) und einen Intensivpflegezuschlag für die Zeit ab 1. Januar 2017 neu verfügen.
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Die Beschwerde ist im Eventualstandpunkt begründet.
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7. Ausgangsgemäss hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist demzufolge gegenstandslos.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz vom 14. März 2019 und die Verfügung der IV-Stelle Schwyz vom 11. Juli 2018 werden aufgehoben. Die Sache wird an die Beschwerdegegnerin zu neuer Verfügung im Sinne der Erwägungen zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3. Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
 
4. Die Sache wird zur Neuverlegung der Gerichtskosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz zurückgewiesen.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 31. Juli 2019
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Pfiffner
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler
 
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