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Informationen zum Dokument  BGer 9C_354/2019  Materielle Begründung
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BGer 9C_354/2019 vom 01.07.2019
 
 
9C_354/2019
 
 
Urteil vom 1. Juli 2019
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
 
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino,
 
Gerichtsschreiber Fessler.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
handelnd durch seine Mutter B.________ und diese vertreten durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Hardy Landolt,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle Glarus,
 
Burgstrasse 6, 8750 Glarus,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Glarus vom 11. April 2019 (VG.2018.00128/129).
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________ leidet an einer Autismus-Spektrum-Störung. Er bezieht verschiedene Leistungen der Invalidenversicherung, u.a. Hilflosenentschädigung für schwere Hilflosigkeit, einen Intensivpflegezuschlag sowie einen Assistenzbeitrag. Mit zwei Verfügungen vom 21. November 2018 setzte die IV-Stelle Glarus den Assistenzbeitrag für den Monat Dezember auf Fr. 3'880.75 und für die Monate Januar bis September 2018 auf jeweils Fr. 3'614.90, maximal Fr. 39'763.90 im Jahr (11 x Fr. 3'614.90), fest.
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B. In teilweiser Gutheissung der von A.________ gegen beide Verfügungen erhobenen Beschwerden setzte das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus mit Entscheid vom 11. April 2019 den Assistenzbeitrag für den Monat Dezember auf Fr. 4'543.45 und für die Monate Januar bis September 2018 auf jeweils Fr. 4'277.60 (maximal Fr. 47'053.60 im Jahr [11 x Fr. 4'277.60]) fest.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, der Entscheid des kantonalen Verwaltungsgerichts vom 11. April 2019 sei aufzuheben und die Sache im Sinne der Erwägungen an dieses zurückzuweisen.
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Erwägungen:
 
1. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem wegen Verletzung von Bundesrecht erhoben werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig [wie die Beweiswürdigung willkürlich; BGE 142 II 433 E. 4.4 S. 444] ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG).
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2. Streitgegenstand bildet der Assistenzbeitrag für den Beschwerdeführer für die Zeit vom 1. Dezember 2017 bis 30. September 2018.
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3. 
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3.1. Der Assistenzbeitrag ist in Art. 42quater ff. IVG und Art. 39a ff. IVV geregelt. Nach Art. 42quinquies IVG wird ein Assistenzbeitrag gewährt für Hilfeleistungen, die von der versicherten Person benötigt und regelmässig von einer natürlichen Person (Assistenzperson) erbracht werden (Ingress). In den folgenden Bereichen kann Hilfebedarf anerkannt werden: a. alltägliche Lebensverrichtungen; b. Haushaltsführung;   c. gesellschaftliche Teilhabe und Freizeitgestaltung; d. Erziehung und Kinderbetreuung; e. Ausübung einer gemeinnützigen oder ehrenamtlichen Tätigkeit; f. berufliche Aus- und Weiterbildung; g. Ausübung einer Erwerbstätigkeit auf dem regulären Arbeitsmarkt; h. Überwachung während des Tages; i. Nachtdienst (Art. 39c IVV).
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3.2. Nach Art. 42sexies IVG ist Grundlage für die Berechnung des Assistenzbeitrags die für die Hilfeleistungen benötigte Zeit. Davon abgezogen wird die Zeit, die u.a. der Hilflosenentschädigung nach den Artikeln 42-42 ter, [seit 1. Januar 2018] mit Ausnahme des Intensivpflegezuschlags nach Artikel 42ter Absatz 3, und dem für die Grundpflege ausgerichteten Beitrag der obligatorischen Krankenpflegeversicherung an Pflegeleistungen nach Artikel 25a KVG entspricht (Abs. 1 Ingress sowie lit. a und c). Der Bundesrat legt u.a. die Bereiche und die minimale und maximale Anzahl Stunden, für die ein Assistenzbeitrag ausgerichtet wird, sowie die Pauschalen für Hilfeleistungen pro Zeiteinheit im Rahmen des Assistenzbeitrags fest (Abs. 4 lit. a und b).
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Art. 39e IVV regelt die Bestimmung des anerkannten monatlichen Hilfebedarfs in Stunden, Art. 39f IVV die Höhe des Assistenzbeitrages. Nach Art. 39g IVV berechnet die IV-Stelle die Höhe des Assistenzbeitrages pro Monat und pro Jahr (Abs. 1). Der Assistenzbeitrag pro Jahr beträgt: a. das Zwölffache des Assistenzbeitrags pro Monat;  b. das Elffache des Assistenzbeitrags pro Monat, wenn: 1. die versicherte Person mit der Person, mit der sie verheiratet ist oder in eingetragener Partnerschaft lebt oder eine faktische Lebensgemeinschaft führt oder in gerader Linie verwandt ist, im selben Haushalt lebt, und 2. die Person, mit der sie im selben Haushalt lebt, volljährig ist und selber keine Hilflosenentschädigung bezieht (Abs. 2).
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4. Die Vorinstanz ermittelte für den Zeitraum vom 1. Dezember 2017 bis 30. September 2018 einen monatlichen Hilfebedarf von 186.31 Stunden am Tag. Davon zog sie 55.89 Stunden für die Hilflosenentschädigung ab. Für den Monat Dezember 2017 rechnete sie zudem 41.92 Stunden für den Intensivpflegezuschlag ab. Für die Monate Januar bis September 2018 zog sie jeweils 50 Stunden für die Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für Massnahmen der Grundpflege (Art. 7 Abs. 2 lit. c Ziffer 1 KLV) ab. Daraus ergab sich bei einem Hilfebedarf von 29.75 Stunden für den Nachtdienst ein Assistenzbeitrag von Fr. 4'543.45 (88.5 Stunden x Fr. 32.90/Stunde + 29.75 Stunden x Fr. 54.85/Stunde) für Dezember 2017 und Fr. 4'277.60 (80.42 Stunden x Fr. 32.90/Stunde + 29.75 Stunden x Fr. 54.85/Stunde) für Januar bis September 2018. Weiter legte die Vorinstanz dar, dass in Anwendung von Art. 39g Abs. 2 lit. b IVV der monatliche Assistenzbeitrag dem Beschwerdeführer elfmal pro Jahr zustehe.
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Der Beschwerdeführer bestreitet die Kürzung des Assistenzbeitrages um einen Monat. Seiner Mutter sei es weder objektiv noch subjektiv zumutbar, die von den angestellten Assistenzpersonen nicht abgedeckten Zeiträume zusätzlich zu ihrem eigenen Betreuungspensum zu übernehmen. Sodann verletze es Art. 42sexies Abs. 1 lit. c IVG, wenn die durch sie als Angestellte einer Organisation der Krankenpflege und Hilfe zu Hause (Art. 7 Abs. 1 lit. b KLV i.V.m. Art. 51 KVV) erbrachten, im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vergüteten 50 Stunden im Monat für Massnahmen der Grundpflege nach Art. 7 Abs. 2 lit. c Ziffer 1 KLV abgezogen würden.
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5. 
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5.1. Das Bundesgericht hat sich in BGE 141 V 642 E. 4 S. 647 ff. einlässlich zu Bedeutung und Tragweite von Art. 39g Abs. 2 lit. b IVV geäussert. Danach wird mit dieser Verordnungsbestimmung der Grundsatz der Schadenminderungspflicht konkretisiert (E. 4.3.1). Durch die schematische Herabsetzung des Anspruchs, bezogen auf ein Jahr, im Umfang von einem Zwölftel erfolgt eine Anrechnung der "Pflicht zur grundsätzlichen Mithilfe von Angehörigen bei der Betreuung und  Pflege von Versicherten in standardisierter Form (...) ". Eine derartige Vorgehensweise lässt sich so weit und so lange nicht beanstanden, als eine solche Hilfestellung im Einzelfall objektiv tatsächlich möglich und zumutbar ist (E. 4.3.3).
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5.2. Die Vorinstanz hat die Anwendbarkeit von Art. 39g Abs. 2 lit. b IVV im vorliegenden Fall im Wesentlichen wie folgt begründet: Nach der Rechtsprechung sei massgebend, ob eine schadenmindernde Mithilfe Angehöriger im Einzelfall objektiv tatsächlich möglich und zumutbar ist. Das sei unter den gegebenen Umständen für die im selben Haushalt lebende Mutter des Beschwerdeführers zu bejahen. Diese sei von der Hausärztin wegen Überlastung zwar (sogar) über Monate krank geschrieben worden. Das betreffende Arztzeugnis beziehe sich jedoch auf die Zeit vor der Erhöhung des Assistenzbeitrages im Dezember 2017. Durch die Zunahme des Hilfebedarfs (ohne Abzug) von 156.01 Stunden auf 186.31 Stunden werde die Mutter zweifellos entlastet. Zu berücksichtigen sei sodann, dass sie (lediglich) ein Arbeitspensum von 40 % ausübe. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers müsse schliesslich seine Mutter nicht zwingend die Ferienabwesenheiten der Assistenzperson (en) am Stück abdecken. Leiste sie nämlich während des ganzen Jahres einen Teil der von ihrem Sohn benötigten Hilfe selber, könne mit dem dadurch eingesparten Anteil des Assistenzbeitrags (der nicht in Rechnung gestellt wird), eine Vertretung eingestellt werden (vgl. Urteil 8C_225/2914 vom 21. November 2014 E. 8.4.1).
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5.3. Der Beschwerdeführer setzt sich mit diesen Erwägungen nicht substanziiert, d.h. nicht in der von Gesetz (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG) und Rechtsprechung (BGE 138 I 171 E. 1.4 S. 176; 133 II 249 E. 1.4.1 und E. 1.4.2 S. 254) geforderten Weise auseinander. Insbesondere bestreitet er die Feststellung der Vorinstanz nicht, dass sich der (anerkannte) Hilfebedarf ab Dezember 2017 von 156.01 Stunden auf 186.31 Stunden erhöht hat, was zu einer entsprechenden Entlastung der Mutter führe. Sodann spricht der Umstand, dass sie seit 1. Januar 2018 als Angestellte einer Spitex-Organisation Leistungen der Grundpflege nach Art. 7 Abs. 2 lit. c Ziffer 1 KLV im Umfang von 50 Stunden im Monat erbrachte (E. 4), gegen die Unzumutbarkeit der Mithilfe bei der Betreuung und Pflege ihres Sohnes und damit für die Anwendung von Art. 39g Abs. 2 lit. b IVV. Die betreffende Arbeit konnte auch von einer anderen Person gemacht werden, ohne dass dem Beschwerdeführer nennenswerte Kosten entstanden wären. Die hierfür veranschlagten 50 Stunden im Monat sind daher bei der Beurteilung der Belastungssituation der Mutter ausser Acht zu lassen. Im Übrigen ist nicht ersichtlich und der Beschwerdeführer legt nicht dar, inwiefern eine Befragung seiner Mutter zu einer anderen Beurteilung führen könnte. Der Verzicht der Vorinstanz auf die Abnahme dieses beantragten Beweises ist von Bundesrechts wegen nicht zu beanstanden (vgl. Urteil 9C_867/2018 vom 28. Mai 2019 E. 5.1.1 zum Recht auf Beweis).
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6. Wie das Bundesgericht sodann in BGE 140 V 543 entschieden hat, umfassen die Höchstansätze von Art. 39e IVV die durch die Hilflosenentschädigung und allfällige Beiträge für Dienstleistungen Dritter oder an Grundpflege nach Art. 25a KVG zu deckende Zeit, d.h. es sind die entsprechenden Stunden davon bzw. vom Gesamtbedarf, wenn dieser kleiner ist, in Abzug zu bringen ( vgl. auch BGE 141 V 642 E. 3.2.1   S. 645 sowie die in diesem Sinne lautenden Rz. 4105 ff. des Kreisschreibens über den Assistenzbeitrag [KSAB]). Die Berechnungsweise der Vorinstanz (E. 3) hält sich an diese Vorgaben. Der Beschwerdeführer geht mit keinem Wort auf die bundesgerichtliche Begründung in BGE 140 V 543 E. 3.6 S. 556 ff. ein. Seine Vorbringen geben keinen Anlass zu einer vertieften Auseinandersetzung mit den betreffenden Erwägungen. Entgegen seiner Auffassung besteht der Sinn von Art. 42sexies Abs. 1 lit. c IVG nicht (einzig) darin sicherzustellen, dass Grundpflegeleistungen, welche von anerkannten Assistenzpersonen erbracht werden, wozu seine im selben Haushalt lebende Mutter nicht gehört (Art. 42quinquies lit. b IVG), nicht doppelt abgerechnet werden.
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7. Nach dem Gesagten verletzt der angefochtene Entscheid kein (Bundes-) Recht. Die Beschwerde ist unbegründet.
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8. Ausgangsgemäss wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 1. Juli 2019
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Pfiffner
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler
 
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