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Informationen zum Dokument  BGer 9C_104/2019  Materielle Begründung
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BGer 9C_104/2019 vom 27.06.2019
 
 
9C_104/2019
 
 
Urteil vom 27. Juni 2019
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
 
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino,
 
Gerichtsschreiberin N. Möckli.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________,
 
vertreten durch Advokat Georg Ranert,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 18. Dezember 2018 (IV 2016/361).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen sprach der 1974 geborenen, zuletzt als Raumpflegerin tätigen A.________, nachdem die medizinischen Akten durch den Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) geprüft worden waren (Stellungnahmen vom 2. November 2006 und  4. Januar 2007), ab 1. Mai 2006 eine Viertelsrente und ab 1. August 2006 eine ganze Rente zu (Verfügung vom 21. Mai 2007).
1
A.b. Aufgrund eines anonymen Hinweises im August 2014 leitete die Verwaltung ein Revisionsverfahren in die Wege. Die IV-Stelle liess die Versicherte überwachen und holte, nachdem A.________ mit den Erkenntnissen der Observation konfrontiert worden war, eine medizinische Expertise ein, welche die Dres. med. B.________ (Facharzt für Neurologie) und C.________ (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) am 24. Mai 2016 bzw. 1. Juni 2016 erstatteten. Nach Rücksprache mit dem RAD und durchgeführtem Vorbescheidverfahren verfügte die IV-Stelle am 26. September 2016 die Renteneinstellung.
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen teilweise gut, indem es die angefochtene Verfügung aufhob und die Sache zur Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurückwies (Entscheid vom 18. Dezember 2018).
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten fordert die IV-Stelle, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die Verfügung vom 26. September 2016 zu bestätigen. Eventualiter sei eine sanktionsweise Renteneinstellung anzuordnen.
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A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Zudem ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege. Die Vorinstanz beantragt, es sei auf die Beschwerde nicht einzutreten, eventuell sei diese abzuweisen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.
5
 
Erwägungen:
 
1. 
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1.1. Die Beschwerde an das Bundesgericht ist zulässig gegen Endentscheide, das heisst gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen (Art. 90 BGG), und gegen Teilentscheide, die nur einen Teil der gestellten Begehren behandeln, wenn diese unabhängig von den anderen beurteilt werden können, oder die das Verfahren nur für einen Teil der Streitgenossen und Streitgenossinnen abschliessen (Art. 91 BGG). Gegen selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide ist hingegen die Beschwerde nur zulässig, wenn sie die Zuständigkeit oder den Ausstand betreffen (Art. 92 BGG), einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG). Dabei stellt es einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil dar, wenn eine Behörde durch einen Rückweisungsentscheid gezwungen wird, entgegen ihrer Auffassung eine neue Anordnung zu erlassen (BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483 ff.).
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1.2. Beim vorinstanzlichen Rückweisungsentscheid handelt es sich um einen Zwischenentscheid (BGE 133 V 477 E. 4.2 S. 481). Er kann daher nur unter den Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 BGG selbstständig angefochten werden.
8
In Dispositivziffer 1 des vorinstanzlichen Entscheids wird die Revisionsverfügung vom 26. September 2016 aufgehoben und die Sache zur Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurückgewiesen. Den Erwägungen ist weiter zu entnehmen, das Gutachten belegte nur die Tatsache, dass der medizinische Sachverhalt mangels ausreichender Mitwirkung der Versicherten nicht habe erhoben werden können. Der Nachweis einer unbeeinträchtigten Gesundheit und Arbeitsfähigkeit fehle jedoch. Die IV-Stelle habe ein Mahn- und Bedenkzeitverfahren durchzuführen und die seit November 2016 zurückbehaltenen Renten nachzuzahlen sowie eine laufende Rente auszurichten bis das Verwaltungsverfahren abgeschlossen sei.
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Mit dem vorinstanzlichen Entscheid wird die IV-Stelle gezwungen - zumindest vorübergehend - von einer Rentenaufhebung abzusehen und der Versicherten weiterhin eine Rente auszurichten. In dieser Weisung des kantonalen Gerichts ist ein nicht wieder gutzumachender Nachteil zu erblicken, weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist (vgl. Urteile 8C_579/2015 vom 14. April 2016 E. 1.2 und 9C_231/2015 vom 7. September 2015 E. 1.1).
10
2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
11
 
Erwägung 3
 
3.1. Strittig ist, ob der kantonale Entscheid Bundesrecht verletzt, indem darin die revisionsweise Renteneinstellung durch die IV-Stelle mit Verfügung vom 26. September 2016 aufgehoben und die Angelegenheit zur erneuten Begutachtung nach vorgängig durchgeführtem Mahn- und Bedenkzeitverfahren an die Verwaltung zurückgewiesen wurde.
12
3.2. 
13
3.2.1. Der Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung setzt unter anderem voraus, dass die versicherte Person invalid oder von Invalidität unmittelbar bedroht ist. Invalidität ist gemäss Art. 8 Abs. 1 ATSG die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit.
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Rechtsprechungsgemäss liegt allerdings regelmässig dann kein versicherter Gesundheitsschaden vor, wenn die Leistungseinschränkung auf Aggravation oder einer ähnlichen Konstellation beruht. Dies trifft namentlich zu, wenn: eine erhebliche Diskrepanz zwischen den geschilderten Schmerzen oder Einschränkungen und dem gezeigten Verhalten oder der Anamnese besteht; intensive Schmerzen angegeben werden, deren Charakterisierung jedoch vage bleibt; keine medizinische Behandlung und Therapie in Anspruch genommen wird; demonstrativ vorgetragene Klagen auf den Sachverständigen unglaubwürdig wirken; schwere Einschränkungen im Alltag behauptet werden, das psychosoziale Umfeld jedoch weitgehend intakt ist. Nicht per se auf Aggravation weist blosses verdeutlichendes Verhalten hin (BGE 141 V 281 E. 2.2.1 S. 287; Urteil 9C_296/2016 vom 29. Juni 2016   E. 3.1).
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3.2.2. Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin erheblich, so wird gemäss Art. 17 Abs. 1 ATSG die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben.
16
4. 
17
4.1. Die Vorinstanz stellte fest - und insoweit ist der Sachverhalt auch unbestritten -, dass im Rahmen des Revisionsverfahrens der Versuch, den aktuellen medizinischen Zustand mittels eines bidisziplinären Gutachtens zu ermitteln, am Verhalten der Versicherten gescheitert war: Das kantonale Gericht erwog, der Neuropsychologe habe dargelegt, die Resultate der Symptomvalidierungstests seien derart auffällig gewesen, dass eine krankhafte Erklärung für die schlechten Resultate nicht in Frage komme; die Versicherte müsse bewusst oder wenigstens bewusstseinsnah falsche Antworten geliefert haben. Der psychiatrische Sachverständige habe ausführlich aufgezeigt, dass die Versicherte in der Exploration inkonsistente und teilweise widersprüchliche Angaben gemacht habe und dass diese sich auch inkonsistent verhalten habe, ohne dass Hinweise auf eine krankheitsbedingte Ursache für diese Inkonsistenzen vorgelegen hätten. Die Widersprüchlichkeit könne nur durch einen bewussten oder bewusstseinsnahen Prozess erklärt werden. Das werde auch durch das in den Observationsvideos gezeigte unauffällige Verhalten der Versicherten im vermeintlich unbeobachteten Alltag "abgerundet". Auch der Neurologe habe darauf hingewiesen, dass er sich angesichts der mangelnden Mitwirkung der Versicherten ausser Stande gesehen habe, einen zuverlässigen objektiven klinischen Befund zu erheben. Die kantonlen Schlussfolgerungen sind insoweit zu vervollständigen dass sowohl der Psychiater als auch der Neurologe davon ausgingen, bei der Explorandin liege ein bewusstseinsnaher Prozess der Täuschung vor, mit dem die Versicherte erreichen möchte, dass ihr weiterhin eine Rente ausgerichtet werde.
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Diese gutachterlichen Feststellungen, auf die auch die Vorinstanz abstellte, ergeben, dass die Versicherte im Rahmen des Revisionsverfahrens ein täuschendes Verhalten in Bezug auf ihren Gesundheitszustand präsentierte. Diese Tatsache führt zum rechtlichen Schluss, dass kein invalidisierender Gesundheitsschaden als ausgewiesen erachtet werden kann (Ausschlussgrund; BGE 141 V 281  E. 2.2.1 S. 287). Dies insbesondere auch deshalb, weil die Gutachter losgelöst von diesem Verhalten keinen Gesundheitsschaden mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit feststellen konnten. Inwiefern bei dieser Ausgangslage eine erneute Begutachtung neue Erkenntnisse liefern könnte, ist nicht ersichtlich. Dies verkennen Vorinstanz und Versicherte mit der von ihnen vertretenen Ansicht, es müsse ein Mahn- und Bedenkzeitverfahren (Art. 43 Abs. 3 ATSG) durchgeführt werden. Der Versicherten ist denn auch nicht in erster Linie eine qualifizierte Verletzung der Mitwirkungspflicht vorzuwerfen, hat sie sich doch der Begutachtung unterzogen. Die Durchführung eines Mahn- und Bedenkzeitverfahrens erübrigt sich daher zum Vornherein, da die Begutachtung, während welcher die Versicherte ein täuschendes Verhalten an den Tag legte, zu jenem Zeitpunkt bereits abgeschlossen war. Eine nachträgliche Abmahnung macht bei einer solchen Konstellation keinen Sinn (Urteil 8C_209/2015 vom 17. August 2015 E. 6.3.3). Soweit im vorinstanzlichen Entscheid Gegenteiliges ausgeführt wird, verstösst dies gegen Bundesrecht.
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4.2. Nachdem die Versicherte im Revisionszeitpunkt unbestrittenermassen - anders als bei der Rentenzusprache - einer Erwerbstätigkeit in einem 100%-Pensum nachgehen würde (vgl. Gesprächsprotokoll vom 11. November 2015, Eingabe der Versicherten vom 28. April 2017), ist ein Revisionsgrund ausgewiesen (BGE 144 I 28 E. 2.2   S. 30). Es kann daher darauf verzichtet werden zu prüfen, ob seit der Verfügung vom 21. Mai 2007 eine gesundheitliche Veränderung eingetreten ist.
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4.3. Die von der IV-Stelle verfügte Renteneinstellung erweist sich, da kein invalidisierender Gesundheitsschaden ausgewiesen ist, als rechtens. In Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids ist die rentenaufhebende Verfügung vom 26. September 2016 zu bestätigen.
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5. Bei diesem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist stattzugeben, da die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in der Lage ist.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen, Abteilung II, vom 18. Dezember 2018 wird aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons   St. Gallen vom 26. September 2016 bestätigt.
 
2. Der Beschwerdegegnerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Advokat Georg Ranert wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
 
4. Dem Rechtsvertreter der Beschwerdegegnerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'400.- ausgerichtet.
 
5. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, Abteilung II, zurückgewiesen.
 
6. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, Abteilung II, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 27. Juni 2019
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Pfiffner
 
Die Gerichtsschreiberin: Möckli
 
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