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Informationen zum Dokument  BGer 8C_872/2018  Materielle Begründung
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BGer 8C_872/2018 vom 24.04.2019
 
 
8C_872/2018
 
 
Urteil vom 24. April 2019
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichter Frésard, Wirthlin,
 
Gerichtsschreiberin Durizzo.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Beatrice Gurzeler,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle Bern,
 
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 8. November 2018 (200 18 460 IV).
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________, geboren 1991, wurde von ihren Eltern im April 1992 wegen eines Hüftleidens erstmals bei der Invalidenversicherung angemeldet. Die IV-Stelle Bern sprach ihr medizinische Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens Nr. 183 zu. Vom 19. Mai 1994 bis zum 31. Juli 1998 gewährte sie zudem Sonderschulmassnahmen (heilpädagogische Früherziehung). Ab 2005 wurde A.________ wegen einer Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ADS) durch Dr. med. B.________, Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie/Psychiatrie und Psychotherapie FMH, sowie Frau C.________, Fachpsychologin für Psychotherapie, betreut. Sie absolvierte eine zweijährige Ausbildung zur Büroassistentin EBA. Eine Lehre zur Detailhandelsfachfrau in einer Bäckerei-Konditorei brach sie ab und arbeitete in der Folge jeweils während weniger Monate an verschiedenen Stellen als Büropraktikantin, in der Gastronomie, in der Meringues-Produktion sowie in einer Spielgruppe. Ab Mai 2012 war sie gemäss Dr. med. B.________ zu 100 % arbeitsunfähig. Vom 12. Mai bis zum 9. Juni 2015 wurde sie stationär durch die psychiatrischen Dienste D.________ betreut (Bericht vom 4. Juni 2015). Ein im Juli 2012 gestelltes Gesuch um Gewährung beruflicher Massnahmen lehnte die IV-Stelle des Kantons Solothurn am 1. März 2013 ab wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht.
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Im Juni 2015 meldete sie sich erneut bei der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle Bern legte die Akten dem Regionalen ärztlichen Dienst (RAD) vor (Bericht vom 19. November 2015) und gewährte berufliche Massnahmen. A.________ absolvierte vom 14. März bis 13. Dezember 2016 ein Belastbarkeits-, ein Aufbau- und ein Arbeitstraining (Berichte der Stiftung für berufliche Integration E.________ vom 26. September und vom 19. Dezember 2016) und im Anschluss daran einen externen Arbeitsversuch. Im Call-Service-Center F.________ bearbeitete sie vom 14. Dezember 2016 bis 20. April 2017 insbesondere Leasingzessionen (Bericht vom 8. Mai 2017). Danach gewährte die IV-Stelle Beratung und Unterstützung bei der Stellensuche. Des Weiteren holte sie ein Gutachten des Dr. med. G.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 1. September 2017 ein (mit Ergänzung vom 23. Januar 2018). Am 15. November 2017 schloss sie die Arbeitsvermittlung ab, nachdem sich A.________ nicht mehr gemeldet hatte. Mit Verfügung vom 17. Mai 2018 lehnte sie den Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung ab.
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde, mit der die Rückweisung zur Einholung eines psychiatrisch-neuropsychologischen Gutachtens, eventualiter die Zusprechung mindestens einer Viertelsrente beantragt wurde, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 8. November 2018 ab.
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C. A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen. Sie wiederholt ihr Begehren auf Einholung eines bidisziplinären Gutachtens. Eventualiter sei ihr eine Rente, subeventualiter seien berufliche Massnahmen zu gewähren.
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Das Bundesgericht verzichtet auf die Durchführung eines Schriftenwechsels.
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Erwägungen:
 
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Eine - für den Ausgang des Verfahrens entscheidende (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG) - vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung kann das Bundesgericht nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).
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2. Die Beschwerdeführerin beantragt letztinstanzlich die Gewährung beruflicher Massnahmen. Dieses neue Begehren ist vor Bundesgericht nach Art. 99 Abs. 2 BGG unzulässig. Es ist insoweit auf die Beschwerde nicht einzutreten.
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3. Streitig und zu prüfen ist, ob die vorinstanzlich bestätigte Ablehnung eines Rentenanspruchs vor Bundesgericht standhält. In Frage steht dabei insbesondere die der Ermittlung des Invaliditätsgrades zugrunde liegende Arbeitsfähigkeit.
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4. Das kantonale Gericht hat die für die Beurteilung des Rentenanspruchs nach Art. 28 IVG massgeblichen Bestimmungen, insbesondere zur Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) und zur Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG), namentlich bei psychischen Leiden (BGE 143 V 409 E. 4.2.1 S. 413), sowie zu den hinsichtlich des Beweiswerts eines ärztlichen Berichts oder Gutachtens zu beachtenden Regeln (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352), zutreffend dargelegt. Gleiches gilt bezüglich der Praxis zur Befangenheit (BGE 132 V 93 E. 7.1 S. 109 f.; SVR 2015 IV Nr. 23 S. 69, 8C_531/2014 E. 6.1.1). Es wird darauf verwiesen.
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5. Nach der Vorinstanz war das psychiatrische Gutachten des Dr. med. G.________ vom 1. September 2017 mit Ergänzung vom 23. Januar 2018 voll beweiskräftig. Gestützt auf die von ihm attestierte Arbeitsunfähigkeit von maximal 20 % in der angestammten Tätigkeit schloss sie auf einen rentenausschliessenden Invaliditätsgrad.
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6. Die Beschwerdeführerin erneuert ihre Einwände zur Schlüssigkeit des Gutachtens. Dr. med. G.________ habe der - schon in der Schulzeit, nun in der Arbeitswelt gezeigten - Schwere ihrer Beeinträchtigungen durch das ADS nicht hinreichend Rechnung getragen. Auf weitere Abklärungen zu deren Einschätzung wie insbesondere eine neuropsychologische Mitbegutachtung sowie eine eingehende Persönlichkeitsdiagnostik habe er zu Unrecht verzichtet.
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6.1. Im Vorbescheidverfahren berief sie sich auf einen Bericht ihres langjährigen behandelnden Arztes Dr. med. B.________ vom 10. November 2017. Der Gutachter wurde von der IV-Stelle um eine Stellungnahme dazu gebeten. Diese Ergänzung war nach Auffassung der Beschwerdeführerin wegen Befangenheit nicht verwertbar. Allein der Umstand der Vorbefassung vermag bei Einholung eines Ergänzungsgutachtens rechtsprechungsgemäss nicht von vornherein den Anschein der Befangenheit zu begründen (BGE 132 V 93 E. 7.2.2 S. 110; SVR 2013 IV Nr. 30 S. 87, 8C_978/2012 E. 5.3.2; SVR 2009 IV Nr. 16 S. 41, 8C_89/2007 E. 6.2). Die Schlüssigkeit sowohl seines Gutachtens wie auch der von ihm abgegebenen Ergänzung dazu war von den rechtsanwendenden Behörden zu beurteilen (dazu sogleich E. 6.2). Auch ist nicht erkennbar, inwiefern die IV-Stelle das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin oder andere bundesrechtliche Bestimmungen verletzt haben soll, indem sie auf den Einbezug des RAD verzichtete, als sie dem Experten die gegen sein Gutachten erhobenen Einwände unterbreitete. Daran ändert nichts, dass das Bundesamt für Sozialversicherungen in den einschlägigen Weisungen eine Beurteilung der Gutachten, auch zur Qualitätssicherung, vor Erlass des Vorbescheides vorsieht, die hier unterblieben sein mag.
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Erwägung 6.2
 
6.2.1. Der psychiatrische Gutachter stützte sich auf die Vorgaben von BGE 141 V 281. Die Schwere des Gesundheitsschadens beurteilte er anhand des Mini-ICF-Ratings für Aktivitäts- und Partizipationsstörungen bei psychischen Erkrankungen (Mini-ICF-APP). Er gelangte zum Schluss, dass die Beschwerdeführerin durch das ADS (bei anamnestisch rezidivierender depressiver Störung, gegenwärtig remittiert) in den angestammten Tätigkeiten als Büroassistentin und im Gastgewerbe zu 10 bis 20 % arbeitsunfähig sei, wobei mit adäquater medikamentöser Behandlung eine Verbesserung um 10 bis 20 % zu erwarten sei. Darauf stellte die Vorinstanz ab unter Verweis auf die praxisgemässe Beweiskraft von Gutachten, die nach Art. 44 ATSG im Verwaltungsverfahren eingeholt wurden (BGE 137 V 210 E. 1.3.4 S. 227; 125 V 351 E. 3b/bb S. 353), sowie auf die unterschiedliche Natur von Behandlungs- und Begutachtungsauftrag (BGE 124 I 170 E. 4 S. 175; Urteil 8C_29/2018 vom 6. Mai 2018 E. 5.2.2). Inwiefern sie damit Beweiswürdigungsregeln verletzt hätte, ist nicht erkennbar. Dies gilt namentlich auch insoweit, als gerügt wird, dass zur Diagnostik neben den vom Gutachter durchgeführten noch weitere Testverfahren hätten angewendet und die Einschränkung noch zusätzlich durch eine neuropsychologische Abklärung hätte verifiziert werden müssen. Gemäss Gutachter liess sich die Diagnose einer histrionischen Persönlichkeitsstörung nicht bestätigen. Die damit verbundenen Schwierigkeiten seien, soweit bei der Beschwerdeführerin vorhanden und nicht invaliditätsfremd, im Rahmen des ADS zu sehen. Das kantonale Gericht stellte diesbezüglich für das Bundesgericht verbindlich fest, dass der behandelnde Arzt keine Aspekte aufgezeigt habe, die im Rahmen der Begutachtung, soweit für die Beurteilung der Schwere der Einschränkungen erforderlich, unerkannt oder ungewürdigt geblieben seien.
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6.2.2. Die Vorinstanz verzichtete auf eine vertiefende Befassung mit dem Leistungsvermögen der Beschwerdeführerin im Lichte der normativen Vorgaben gemäss BGE 141 V 281. Dazu bestand auch insofern keine Veranlassung, als das Gutachten des Dr. med. G.________ bereits unter Bezugnahme auf die entsprechenden Anforderungen an ein strukturiertes Beweisverfahren erstattet wurde. Darum durfte die Vorinstanz gestützt auf seine beweiskräftige Angabe einer höchstens 20%igen Arbeitsunfähigkeit in den angestammten Tätigkeiten, ohne Bundesrecht zu verletzen, zum Ergebnis eines rentenausschliessenden Invaliditätsgrades gelangen.
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6.3. Die Beschwerdeführerin macht schliesslich geltend, dass das kantonale Gericht eine Frühinvalidität zu Unrecht verneint habe. Inwiefern der vorinstanzliche Schluss, dass sie mit der absolvierten Lehre als Büroassistentin EBA mit Berufsattest zureichende berufliche Kenntnisse im Sinne von Art. 26 Abs. 1 IVV erworben habe, bundesrechtswidrig wäre, ist nicht erkennbar. Dass sich diese wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigung wirtschaftlich nicht verwerten liesse, hat das kantonale Gericht unter Hinweis auf die diesbezüglich einschlägige Rechtsprechung (SZS 2015 S. 261, 9C_611/2014 E. 4 und 5.1; ZAK 1974 S. 548) mit der Feststellung einer mindestens 80%igen Arbeitsfähigkeit im erlernten Beruf zu Recht verneint.
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7. Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 24. April 2019
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo
 
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