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Informationen zum Dokument  BGer 8C_820/2018  Materielle Begründung
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BGer 8C_820/2018 vom 17.04.2019
 
 
8C_820/2018
 
 
Urteil vom 17. April 2019
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine,
 
Gerichtsschreiberin Elmiger-Necipoglu.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________,
 
vertreten durch Procap Schweiz,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
 
vom 6. November 2018 (IV 2016/131).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die 1974 geborene A.________ war zuletzt als Pflegemitarbeiterin in einem Pflege- und Betagtenheim in einem Pensum von 40 % erwerbstätig. Am 5. August 2011 meldete sie sich bei der IV-Stelle des Kantons St. Gallen zum Leistungsbezug an. Diese veranlasste u.a. ein polydisziplinäres Gutachten beim BEGAZ (Begutachtungszentrum Basel-Landschaft, Binningen), das am 20. Februar 2015 erstattet wurde. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach sie der Versicherten mit Verfügung vom 22. März 2016 ab dem 1. September 2014 eine Viertelsrente, ab dem 1. Dezember 2014 eine halbe Invalidenrente und ab dem 1. April 2015 wiederum eine Viertelsrente zu.
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B. Die von A.________ hiergegen geführte Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 6. November 2018 gut und sprach ihr mit Wirkung ab dem 1. Juni 2012 eine halbe Rente zu.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die IV-Stelle, der vorinstanzliche Entscheid sei dahingehend aufzuheben, als der Versicherten erst ab 1. Januar 2014 eine halbe IV-Rente zuzusprechen sei. Zudem beantragt sie in diesem Umfang die Erteilung der aufschiebenden Wirkung.
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Die Vorinstanz schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Die Beschwerdegegnerin verzichtet auf eine Stellungnahme. Das Bundesamt für Sozialversicherungen beantragt die Gutheissung der Beschwerde.
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Erwägungen:
 
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). Unter Berücksichtigung der Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) prüft es nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind, und ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr aufgegriffen werden (BGE 144 V 388 E. 2 S. 394 mit Hinweisen).
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Erwägung 2
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, als sie der Versicherten bereits ab dem 1. Juni 2012 eine halbe Invalidenrente zusprach. Unstrittig ist indessen, dass ihr dieser Anspruch spätestens ab Januar 2014 zusteht.
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2.2. Aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ist hierbei insbesondere zu prüfen, nach welcher Methode die Invalidität der Beschwerdegegnerin zu ermitteln ist. Während die IV-Stelle die gemischte Methode (Art. 28a Abs. 3 IVG) mit einem 60%igen Anteil Erwerb und 40%igen Anteil Haushalt zugrunde legen will, hält die Vorinstanz die Einkommensvergleichsmethode (Art. 28a Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 16 ATSG) für anwendbar, da es der Versicherten objektiv zumutbar wäre, im Gesundheitsfall einer ganztägigen Erwerbstätigkeit nachzugehen.
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2.3. Die Frage nach der anwendbaren Methode der Invaliditätsbemessung (Einkommensvergleich mit den beiden Untervarianten Schätzungs- und Prozentvergleich sowie ausserordentliches Bemessungsverfahren, Betätigungsvergleich, gemischte Methode) ist eine Rechtsfrage und vom Bundesgericht frei überprüfbar (Urteil 8C_753/2018 vom 4. Februar 2019 E. 5.2). In welchem Ausmass eine im Aufgabenbereich Haushalt tätige versicherte Person (Art. 5 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 3 ATSG und Art. 27 IVV) ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erwerbstätig wäre, ist hingegen Tatfrage, soweit sie auf Beweiswürdigung beruht, selbst wenn darin auch Schlussfolgerungen aus der allgemeinen Lebenserfahrung berücksichtigt werden (BGE 144 I 28 E. 2.4 S. 31; Urteil 8C_525/2018 vom 16. November 2018 E. 3.2).
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Erwägung 3
 
3.1. Die Vorinstanz stellt sich auf den Standpunkt, die IV-Stelle habe den Invaliditätsgrad falsch bemessen, indem sie die gemischte Methode angewendet habe, statt einen reinen Einkommensvergleich vorzunehmen. Dieses Vorgehen sei nach Praxis der Vorinstanz rechtswidrig, denn es stehe im Widerspruch zum Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 IVG sowie des Art. 8 Abs. 3 ATSG, zum Sinn und Zweck der Invalidenrente, zum Rentensystem der Invalidenversicherung und zum Willen des historischen Gesetzgebers. Für die Bestimmung des Valideneinkommens sei also massgebend, was die Beschwerdegegnerin in einem Vollpensum hätte verdienen können.
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3.2. Die IV-Stelle wendet in ihrer Beschwerde zu Recht ein, die vorinstanzliche Auffassung verstosse gegen die konstante Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 141 V 15 E. 3.1 S. 20; 137 V 334 E. 3.2 S. 338; 125 V 146 E. 2c S. 150; 117 V 194 E. 3b S. 194 f.; je mit Hinweisen) : Ob eine versicherte Person als ganztägig oder zeitweilig erwerbstätig oder als nicht erwerbstätig einzustufen ist, was je zur Anwendung einer andern Methode der Invaliditätsbemessung (Einkommensvergleich, gemischte Methode, Betätigungsvergleich) führt, ergibt sich aus der Prüfung, was die Person bei im Übrigen unveränderten Umständen täte, wenn keine gesundheitliche Beeinträchtigung bestünde. Entscheidend ist somit nicht, welches Ausmass der Erwerbstätigkeit der versicherten Person im Gesundheitsfall zugemutet werden könnte, sondern in welchem Pensum sie hypothetisch (unter Berücksichtigung der gesamten persönlichen, familiären, beruflichen und sozialen Situation) erwerbstätig wäre. Es ist nicht Sache der Invalidenversicherung, die Einbusse in einer Tätigkeit auszugleichen, welche im hypothetischen Gesundheitsfall nicht ausgeübt würde (mit einer eingehenden Auseinandersetzung der St. Galler Praxis: Urteile 9C_49/2008 vom 28. Juli 2008 E. 3.3; vgl. auch die dieselbe Vorinstanz betreffenden BGE 133 V 477 E. 6.3 S. 486 f. und 504 E. 3.3 S. 507 f. sowie Urteile 8C_525/2018 vom 16. November 2018 E. 4.2; 8C_504/2018 vom 19. Oktober 2018 E. 3.2; 9C_823/2017 vom 18. September 2018; 9C_295/2018 vom 26. Juli 2018 E. 3.1.1; 9C_552/2016 vom 9. März 2017 E. 4.2; 9C_491/2008 vom 21. April 2009 E. 4; vgl. auch MEYER/REICHMUTH, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], 3. Aufl. 2014, Rz. 5 f. zu Art. 28a IVG). An dieser Stelle ist auf die weiterhin geltende bundesgerichtliche Rechtsprechung zu verweisen.
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3.3. Entgegen den Erwägungen im angefochtenen Entscheid führt das am 1. Januar 2018 für die Invaliditätsbemessung Teilerwerbstätiger mit Aufgabenbereich neu eingeführte Berechnungsmodell (neu in Kraft getretene Absätze 2-4 von Art. 27bis IVV) zu keiner anderen Betrachtungsweise. Die von der Vorinstanz vertretene Ansicht einer "umfassenden sofortigen Anwendbarkeit" der Verordnungsbestimmung scheitert bereits an den allgemein gültigen Grundsätzen, wonach diejenigen Rechtsgrundlagen Anwendung finden, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhaltes galten (BGE 138 V 475 E. 3.1 S. 478; Urteil 9C_583/2018 vom 3. Dezember 2018 E. 4.3), und das Sozialversicherungsgericht den Rentenanspruch des Versicherten bis zum Verfügungserlass, d.h. hier bis zum 22. März 2016, zu beurteilen hat (BGE 134 V 392 E. 6 S. 397; 132 V 215 E. 3.1.1 S. 220 mit Hinweisen). Das Bundesgericht hat denn auch unlängst bestätigt, dass die Invaliditätsbemessung nach dem neuen Berechnungsmodell gemäss Art. 27bis Abs. 2-4 IVV im Hinblick auf eine einheitliche und rechtsgleiche Behandlung der Versicherten erst ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung, d.h. am 1. Januar 2018, erfolgen könne (Urteile 9C_553/2017 vom 18. Dezember 2017 E. 6.2 und 8C_462/2017 vom 30. Januar 2018 E. 5.3). An dieser Rechtslage vermag schliesslich weder der vorinstanzliche Verweis auf die Übergangsbestimmungen zur Änderung vom 1. Dezember 2017 der Verordnungsbestimmungen, noch jener auf das EGMR-Urteil vom 2. Februar 2016 (Verfahren 7186/09) etwas zu ändern, zumal es sich vorliegend um eine erstmalige Rentenzusprache an eine während des ganzen massgebenden Beurteilungszeitraums als teilerwerbstätig mit Aufgabenbereich zu qualifizierende Person geht (BGE 143 I 50 E. 4.4 S. 60; Urteil 9C_552/2016 vom 9. März 2017 E. 4.3.2).
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3.4. In sachverhaltlicher Hinsicht hielt die Vorinstanz lediglich fest, dass die Beschwerdegegnerin vor Eintritt des Gesundheitsschadens (zu 40 %) erwerbstätig gewesen sei, was unbestritten ist. Zur relevanten Frage, in welchem Ausmass die Versicherte im Zeitraum von Juni 2012 bis Dezember 2013 ohne Gesundheitsschaden erwerbstätig gewesen wäre, äusserte sich die Vorinstanz nicht. Das Bundesgericht kann den Sachverhalt diesbezüglich ergänzen, da die Akten insoweit liquid sind (vgl. hiervor E. 1; BGE 143 V 19 E. 6.1.3 in fine S. 32). Im Fragebogen zur Haushaltsabklärung gab die Beschwerdegegnerin am 10. Juli 2013 an, dass sie ohne Behinderung zu 60 % als (Fuss-) Pflegerin tätig wäre. Im Rahmen des BEGAZ-Gutachtens bestätigte sie diese Aussage. Diese Angaben, zusammen mit den übrigen Akten, stützen die von der IV-Stelle angenommene Aufteilung zwischen Erwerb und Haushalt in einem Verhältnis von 60 % zu 40 %. Daran ändert nichts, dass die Beschwerdegegnerin im Rahmen des vorinstanzlichen Verfahrens geltend gemacht hat, dass sie eine Ausbildung zur Fachangestellten Gesundheit in einem Pensum von 20 % absolviert hätte, was zum erwerblichen Anteil zu addieren sei. Wie die Vorinstanz diesbezüglich nicht offensichtlich unrichtig feststellte, ist es wenig plausibel, dass die Versicherte angesichts der konkreten Umstände eine berufsbegleitende Ausbildung zur Fachangestellten Gesundheit absolviert hätte.
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4. Somit ist festzuhalten, dass die IV-Stelle die Invaliditätsbemessung rechtsprechungsgemäss zutreffend anhand der gemischten Methode vornahm. Demzufolge ist die Versicherte für den Zeitraum von Juni 2012 bis Dezember 2013 im Gesundheitsfall als Teilerwerbstätige im Umfang von 60 % mit Aufgabenbereich Haushalt zu 40 % einzustufen. Gestützt auf die von der IV-Stelle ansonsten unbestrittenen Parameter des Einkommensvergleichs besteht für den massgeblichen Zeitraum kein Rentenanspruch. Die Beschwerde ist begründet.
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5. Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos.
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6. Das Verfahren ist kostenpflichtig. Die Gerichtskosten und eine allfällige Parteientschädigung hätte grundsätzlich die unterliegende Partei zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG; BGE 133 V 642). Unnötige Kosten hat indessen zu bezahlen, wer sie verursacht (Art. 66 Abs. 3 und Art. 68 Abs. 4 BGG). Dies gestattet auch ausnahmsweise die Gerichts- und Parteikosten der Vorinstanz resp. dem Gemeinwesen, dem diese angehört, aufzuerlegen. Die Vorinstanz missachtet wider besseres Wissen systematisch die hier anwendbare Rechtsprechung des Bundesgerichts (E. 3 hievor). Damit hat sie die IV-Stelle zum Gang vor das Bundesgericht gezwungen, was zu einer unnötigen Verlängerung des Verfahrens führte. Dieser Umstand kann nicht der Versicherten angelastet werden. Demnach sind dem Kanton St. Gallen die Gerichts- und Parteikosten aufzuerlegen (vgl. Urteile 9C_295/2018 vom 26. Juli 2018 E. 6; 8C_504/2018 vom 19. Oktober 2018 E. 6; 8C_525/2018 vom 16. November 2018 E. 5.1).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 6. November 2018 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 22. März 2016 werden insoweit abgeändert, als ein Anspruch auf eine halbe Invalidenrente mit Wirkung ab dem 1. Januar 2014 besteht.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Kanton St. Gallen auferlegt.
 
3. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 17. April 2019
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Die Gerichtsschreiberin: Elmiger-Necipoglu
 
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