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Informationen zum Dokument  BGer 8C_561/2018  Materielle Begründung
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BGer 8C_561/2018 vom 04.03.2019
 
 
8C_561/2018
 
 
Urteil vom 4. März 2019
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Frésard, präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
 
Gerichtsschreiberin Durizzo.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Nadeshna Ley,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
 
vom 15. Juni 2018 (IV 2016/147).
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________, geboren 1968, gelernter Tischler, war von 1998 bis am 30. April 2007 als Mitarbeiter Galvanik bei der B.________ AG, tätig gewesen und arbeitete ab dem 1. Mai 2007 als Abkanter bei der C.________ AG. Am 2. Juli 2007 verletzte er sich bei einem Werkzeugwechsel an der Abkantpresse durch den Schlag eines Eisenträgers am Kopf und fiel rückwärts zu Boden. Im April 2008 meldete er sich unter Hinweis auf eine Arbeitsunfähigkeit wegen Kopfschmerzen seit dem Unfall bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen veranlasste eine berufliche Abklärung vom 18. August bis zum 19. Dezember 2008. In der Folge arbeitete A.________ ab dem 1. April 2009 bei der D.________, in E.________ nach Bedarf auf der Basis einer stundenweisen Entlöhnung. Ab dem 23. Januar 2012 befand er sich in psychiatrischer Behandlung bei Frau Dr. med. F.________ (Bericht vom 11. Juli 2012). Die IV-Stelle holte ein Gutachten des Ärztlichen Begutachtungsinstituts ABI, Basel, mit orthopädisch-chirurgischer, neurologischer und psychiatrischer Abklärung vom 19. November 2014 sowie, im Zuge des Vorbescheidverfahrens, ein psychiatrisches Gutachten des Dr. med. F.________, Psychiatrisches Zentrum G.________, forensische Psychiatrie, vom 23. Juni 2015 ein. Mit Verfügung vom 4. April 2016 lehnte sie den Anspruch auf eine Invalidenrente ab unter der Annahme, dass A.________ nach Eintritt der Gesundheitsschädigung weiterhin in der angestammten Tätigkeit, aber nur noch zu 75 % arbeitsfähig sei (Invaliditätsgrad: 25 %).
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 15. Juni 2018 ab.
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C. A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei ihm eine halbe Invalidenrente zuzusprechen.
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Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichten auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
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1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Eine - für den Ausgang des Verfahrens entscheidende (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG) - vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung kann das Bundesgericht nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).
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2. Streitig und zu prüfen ist, ob die vorinstanzlich bestätigte Rentenablehnung vor Bundesrecht standhält. Umstritten sind die erwerblichen Auswirkungen der Gesundheitsschädigung. Zur Frage stehen die Höhe des Valideneinkommens sowie des leidensbedingten Abzuges vom Tabellenlohn auf der Seite des Invalideneinkommens.
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3. Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 IVG) sowie zur Ermittlung des Invaliditätsgrades nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG) zutreffend dargelegt. Es wird darauf verwiesen.
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4.
 
4.1. Die Vorinstanz stellte fest, dass der Beschwerdeführer aus somatischer Sicht gestützt auf das ABI-Gutachten in einer den Rückenschmerzen und Beschwerden im Bereich der Schulterblätter angepassten Tätigkeit (körperlich leicht und mittelschwer ohne wiederholtes Heben und Tragen von Lasten über 25 kg und ohne repetitiven Einsatz der oberen Extremitäten oberhalb des Schulterniveaus) zeitlich und leistungsmässig uneingeschränkt arbeitsfähig sei. In psychiatrischer Hinsicht stützte es sich auf das Gutachten des Dr. med. F.________. Dieses erfülle die Anforderungen an ein strukturiertes Beweisverfahren und ein invalidenversicherungsrechtlich relevanter Gesundheitsschaden sei hinreichend objektiviert. Zufolge einer somatoformen Schmerzstörung (ICD-10 F45.4) mit Symptomausweitung und abnormem Krankheitsverhalten (diagnostizierbar auch als chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren [F45.41]) sowie einer akzentuierten Persönlichkeit mit ängstlich-vermeidenden und passiv-aggressiven Zügen (ICD-10 Z73.1) bei Zustand nach Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion (F43-22) sei der Beschwerdeführer zu 75 % arbeitsfähig.
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In erwerblicher Hinsicht hielt das kantonale Gericht bezüglich des Valideneinkommens fest, dass der Beschwerdeführer an seiner kurz vor dem Unfall angetretenen Stelle deutlich weniger (66'300 Franken; hypothetischer Jahreslohn 2008) als, gemäss IK-Auszug, beim vormaligen Arbeitgeber verdient habe (73'128 Franken im Jahr 2006). Dieses letztere Einkommen wiederum sei deutlich höher gewesen als in den Vorjahren an der gleichen Stelle (gemäss IK-Auszug 2002: 62'677 Franken; 2003: 65'327 Franken; 2004: 66'438 Franken; 2005: 65'181 Franken). Es zog als massgeblichen Lohn zum hypothetischen Zeitpunkt des Rentenbeginns im Jahr 2008 den Durchschnitt der Jahreseinkommen 2002 bis 2006 in der Höhe von 70'483 Franken heran. Beim Invalideneinkommen stellte es, da der Beschwerdeführer seine Restarbeitsfähigkeit von 75 % nicht ausschöpfe, auf die Durchschnittslöhne gemäss der vom Bundesamt für Statistik (BFS) erhobenen Lohnstrukturerhebung (LSE) ab. Daraus ermittelte es einen hypothetischen Verdienst von 59'979 Franken. Unter Gewährung eines 5%igen Abzuges gelangte es zu einem zumutbarerweise erzielbaren Invalideneinkommen im 75%-Pensum von 42'735 Franken. Aus dem Vergleich der beiden Einkommen resultierte ein Invaliditätsgrad von 39,4 %, der eine Rentenberechtigung ausschloss.
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4.2.
 
4.2.1. Bei der Ermittlung des Einkommens, das der Versicherte erzielen könnte, wäre er nicht invalid geworden (Art. 16 ATSG), ist in der Regel am zuletzt erzielten, nötigenfalls der Teuerung und der realen Einkommensentwicklung angepassten Lohn anzuknüpfen, da es empirischer Erfahrung entspricht, dass die bisherige Tätigkeit ohne Gesundheitsschaden fortgesetzt worden wäre; Ausnahmen müssen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt sein (BGE 144 I 103 E. 5.3 S. 110). Unter dieser Voraussetzung können für die Bemessung des Einkommens ohne Invalidität auch Zusatzeinkommen wie namentlich Überstundenentschädigungen berücksichtigt werden, sofern es sich um Entgelt mit Lohncharakter und nicht um Spesenentschädigungen handelt (SVR 2002 IV Nr. 21 S. 63, I 357/01 E. 3b; RKUV 2000 Nr. U 400 S. 381 E. 2; RKUV 1989 Nr. U 69 S. 176 E. 2c S.179 ff.). Da aber die Invaliditätsschätzung der dauernd oder für längere Zeit bestehenden Erwerbsunfähigkeit entsprechen muss, bildet Voraussetzung für die Berücksichtigung eines derartigen Zusatzeinkommens, dass der Versicherte aller Voraussicht nach damit hätte rechnen können. Massgebend ist, ob der Versicherte aufgrund seiner konkreten erwerblichen Situation und seines tatsächlichen Arbeitseinsatzes vor dem Unfall wahrscheinlich weiterhin ein Zusatzeinkommen zufolge Überstundenarbeit hätte erzielen können; die blosse Möglichkeit dazu genügt nicht (RKUV 1989 Nr. U 69 S. 176 E. 2c S. 179 ff.; Urteile 8C_653/2016 vom 16. Januar 2017 E. 4.1; 8C_647/2009 vom 4. Januar 2010 E. 4.3 mit Hinweisen).
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4.2.2. Inwiefern die Vorinstanz unter Verletzung von Bundesrecht zu Lasten des Beschwerdeführers ein zu tiefes Valideneinkommen herangezogen hätte, ist nicht erkennbar. Nach der dargelegten Rechtsprechung war nicht, wie letztinstanzlich beantragt, das Einkommen von 73'128 Franken im Jahr 2006 bei der vormaligen Arbeitgeberin B.________ AG, angepasst an die Lohnentwicklung bis ins Jahr 2008, heranzuziehen, nachdem der Beschwerdeführer diese Arbeitsstelle bereits vor Eintritt der Gesundheitsschädigung gekündigt hatte. Sofern er dort wegen Überstunden deutlich mehr als am neuen Arbeitsplatz verdient hatte, wovon aufgrund der Angaben der vormaligen Arbeitgeberin (bei einem Stundenlohn von 20.50 Franken) auszugehen ist, müsste mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt sein, dass er auch nach dem Wechsel mit einem entsprechenden Zusatzeinkommen hätte rechnen können. Dass die Vorinstanz diesbezüglich offensichtlich unrichtige Feststellungen getroffen hätte, wird jedoch beschwerdeweise nicht dargetan und ist nicht erkennbar.
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4.3.
 
4.3.1. Wird das Invalideneinkommen auf der Grundlage der LSE ermittelt, ist der entsprechende Ausgangswert allenfalls zu kürzen. Ohne für jedes zur Anwendung gelangende Merkmal separat quantifizierte Abzüge vorzunehmen, ist der Einfluss aller Merkmale auf das Invalideneinkommen (leidensbedingte Einschränkung, Alter, Dienstjahre, Nationalität/Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad) unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen. Der Abzug darf 25 % nicht übersteigen (BGE 135 V 297 E. 5.2 S. 301 mit Hinweisen). Ob und in welcher Höhe statistische Tabellenlöhne herabzusetzen sind, hängt von sämtlichen persönlichen und beruflichen Umständen des Einzelfalles ab, die nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen sind. Nach der neueren Praxis des Bundesgerichts ist ein Abzug bei Männern wegen Teilzeitbeschäftigung nicht mehr automatisch vorzunehmen. Ob sich eine entsprechende Reduktion rechtfertigt, ist stets mit Blick auf den konkreten Beschäftigungsgrad und die jeweils aktuellen Werte zu beurteilen (Urteile 8C_211/2018 vom 8. Mai 2018 E. 4.4; 8C_805/2016 vom 22. März 2017 E. 3.2; vgl. die Zusammenstellung der Tabellen aus den LSE 2008, 2010 und 2012 zu den nach Beschäftigungsgrad, Geschlecht und beruflicher Stellung differenzierten monatlichen Durchschnittsbruttolöhnen im Anhang des IV-Rundschreibens Nr. 328 vom 22. Oktober 2014 des BSV).
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Ob ein (behinderungsbedingter oder anderweitig begründeter) Abzug vom hypothetischen Invalideneinkommen vorzunehmen sei, ist eine Rechtsfrage. Demgegenüber stellt die Höhe des Abzuges eine typische Ermessensfrage dar (BGE 137 V 71 E. 5.1 S. 72 f.; Urteil 8C_557/2018 vom 18. Dezember 2018 E. 3.4). Sie ist angesichts der dem Bundesgericht zukommenden Überprüfungsbefugnis letztinstanzlicher Korrektur nur dort zugänglich (Art. 95 und 97 BGG), wo das kantonale Gericht sein Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, also bei Ermessensüberschreitung oder -unterschreitung beziehungsweise bei Ermessensmissbrauch als Formen rechtsfehlerhafter (Art. 95 lit. a BGG) Ermessensbetätigung (BGE 132 V 393 E. 2.2 S. 396 und E. 3.3 S. 399).
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4.3.2. Das kantonale Gericht gewährte beim Invalideneinkommen einen leidensbedingten Abzug vom Tabellenlohn in der Höhe von 5 % wegen des lediglich noch zumutbaren Teilzeitpensums. Dies liess sich indessen mit Blick auf die verhältnismässig deutlich höheren Löhne für teilzeitbeschäftigte Männer mit einem Pensum zwischen 75 % und 89 % im Jahr 2008 nicht rechtfertigen. Gründe für eine weitergehende Reduktion des Tabellenlohns vermochte die Vorinstanz nicht festzustellen. Soweit gemäss Einschätzung des psychiatrischen Gutachters Dr. med. F.________ namentlich zu Beginn der angestrebten Steigerung des Pensums auf die zumutbaren 75 % ein erhöhter Pausenbedarf bestehe, sei dieser bedingt durch eine Dekonditionierung, die wegen ihrer vorübergehenden Natur keinen Tabellenlohnabzug rechtfertige. Der Beschwerdeführer beruft sich auf seine besondere Persönlichkeitsstruktur, die berufliche Sonderkonditionen erfordere. Der Gutachter notierte ängstlich-vermeidende sowie passiv-aggressive Züge, die sich in einer subjektiven Leistungsinsuffizienz mit Tendenz zur Selbstlimitierung, das heisst namentlich in einem kontraproduktiven Widerstand gegen den Wiedereingliederungsprozess, aber auch gegen Zeitdruck sowie das Arbeiten in kleinen Räumen, äusserten. Das kantonale Gericht berücksichtigte sie zu Recht nicht noch zusätzlich zu der allein aus psychischen Gründen zeitlich auf 75 % reduzierten Arbeitsfähigkeit. Der Beschwerdeführer macht des Weiteren Defizite wegen fehlender Akkulturierung und anhaltender mangelhafter Sprachkompetenz geltend. Dass er trotz Aufenthalts in der Schweiz seit seinem jungen Erwachsenenalter über keine für die Ausübung einfacherer Tätigkeiten genügenden Deutschkenntnisse verfüge, findet im Gutachten jedoch keine Stütze. Inwiefern das kantonale Gericht zu seinen Ungunsten Bundesrecht verletzt oder sein Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hätte, ist nicht erkennbar. Es bleibt kein Raum für eine Korrektur durch das Bundesgericht.
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5. Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 4. März 2019
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Frésard
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo
 
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